#title «Ja, aber was wollt ihr . . denn eigentlich?» #author Adesso #SORTauthors Adesso #SORTtopics Selbstorganisation, #date 6. September 2004 #source [[http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2010/07/19/ja-aber-was-wollt-ihr-denn-eigentlich/][http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2010/07/19/ja-aber-was-wollt-ihr-denn-eigentlich/]] #lang de #pubdate 2015-01-10T18:51:46 #notes Originaltitel: «Sì, ma cosa volete in fondo ?» Adesso, nr. 29, 6. September 2004, (Rovereto-TN). Übersetzt aus dem Französischen und Italienischen Frühling 2010. Diese Ausgabe von Adesso[1] wird anders sein als die anderen. Wir werden versuchen, auf eine Frage zu antworten, die uns oft gestellt wird: « Ja, aber was wollt ihr denn eigentlich? ». In einer Zeit, in der sich die Repression verschärft, in Anbetracht der kürzlichen Verhaftungen von Anarchisten in Trento und im Rest von Italien, werden sich manche vielleicht über die Wahl eines solch allgemeinen Themas wundern. Es mangelt gewiss nicht an Dingen, die über all dies gesagt werden müssen und wir werden dies so bald wie möglich tun. Sogar die Blinden werden von nun an einsehen müssen, dass die Macht bei jeder Form von Dissens auf immer offenere Weise zuschlägt. Dennoch darf uns die Repression nicht die Luft abschneiden, indem sie uns dazu zwingt, ausschliesslich nach ihrem Zeitplan zu handeln. Die Rolle von ewigen Kassandren[2] gefällt uns nicht. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb wir das Verlangen verspührt haben, jenseits der spezifischen Kämpfe und Episoden und trotz der Bullen, Staatsanwälte, Journalisten und Gefängniswärter ein paar Zeilen für das Leben, wofür wir kämpfen, zu schreiben – wieso jetzt?, das ist nicht leicht zu sagen. Die Fragen, die uns am Herzen liegen – wie beispielsweise jene, einer Gesellschaft ohne Gefängnisse –, werden sozusagen kaum angerissen werden. Dazu brauchen wir gewiss ganz andere Sachen als eine Ausgabe von Adesso. Trotzdem haben wir Lust, es zu versuchen, wenn auch in dem begrenzten Rahmen unseres Blattes für soziale Kritik. Aber wo beginnen? Wir wissen, dass es unmöglich ist, unseren Verlangen auf den Grund zu gehen, da sie wortwörtlich grundlos sind. Gleichzeitig bereitet es uns jedoch keine Mühe, zuzugeben, dass wir ein Ideal haben. Ein Ideal ist für uns eine alltägliche Art zu leben und im selben Moment eine Vorahnung [prefigurazione] der Welt, in der wir gerne leben würden. Idee und Ideal sind Konzepte, die etymologisch auf das Sehvermögen, auf die Vision verweisen. Es geht um Vorstellungsvermögen, eben, um Vorahnung. Eine Vorahnung zu haben, bedeutet nicht, minutiöse Architekturen von alternativen Welten oder detaillierte Karten vom Land der Utopie zu erstellen. Abgesehen davon, dass es unmöglich ist, würde dies erneut zu einer Gesellschaftsidee führen, die jener, die wir anstreben, entgegengesetzt ist: Eine von wenigen durchgeplante Gesellschaft, mit der Absicht die ”Menschheit zu verbessern” – wenn auch... gegen ihren Willen. Für uns ist eine Vorahnung ein Bild, das im Geiste aufblitzt, ein Bild, worin sich die Erfahrung mit der Spannung und der Hoffnung vermischt, worin die Möglichkeiten der Vergangenheit auf den Bruch mit der Gegenwart treffen. Dieses Bild nährt sich von Kämpfen und Werten, von Techniken und Wissen, von Raum und Zeit. Dies ist, worüber wir in dieser Ausgabe sprechen wollen, im Bewusstsein, dass das, was wir wollen, bloss ”die Panik an die Oberfläche der Dinge bringen kann”. *** Wie Steine, die ins Wasser geworfen werden Wir sind zunächst Individuen. Insofern Definitionen keine Käfige sind, sind sie wie ins Wasser geworfene Steine: Sie kreieren immer weitere Kreise, ohne dass es auch nur einem von ihnen gelingt, unsere Individualität vollständig zu umfassen. Dessen bewusst, machen uns die Worte keine Angst. Wieso sind wir Anarchisten? Weil wir eine Welt wollen, die auf Gegenseitigkeit und wechselseitiger Hilfe basiert, und nicht auf Herrschaft und Ausbeutung. Eine Welt ohne Staat und ohne Geld. Wir sind uns der Notwendigkeit von Abmachungen – oder, wenn man es bevorzugt, von Regeln –, um zusammenzuleben bewusst; doch die einzigen Abmachungen, die diesen Namen verdienen, sind für uns diejenigen, die frei und gegenseitig gemacht und definiert wurden, und nicht diejenigen, die einseitig von jenen auferlegt wurden, die die Macht, Gesetzte zu erlassen und die militärische Kraft, um deren Respektierung durchzusetzen besitzen. Regel und Gesetz sind gewiss keine Synonyme. Das Gesetz ist eine sehr spezielle – auf Zwang basierende – Art, die Regel zu begreifen. Innerhalb der Grenzen des Möglichen haben wir bis heute versucht, durch das Verweigern einer Autorität, die für uns entscheidet, auf der Basis der freien Vereinbarung zu Leben. Wir sind für die gegenseitige Hilfe, denn wir wissen, dass Gleichheit alleine nicht ausreicht, wenn sie nicht auch von einem Gefühl bewusster und freiwilliger Solidarität begleitet wird. Im Gegensatz zum liberalen Modell, welches in der Freiheit des anderen eine Begrenzung der eigenen sieht, empfinden wir, dass sich unsere Freiheit, mittels jener der anderen, bis in die Unendlichkeit erstreckt. Im Gegensatz zum autoritären Kommunismus wissen wir, dass die Gleichheit die Schwester des Despotismus ist, wenn sie nicht der Raum ist, worin sich die individuellen Differenzen ausdrücken. Eine andere Art und Weise die Regel zu begreifen, führt auch zu einer anderen Form, den Konflikten entgegenzutreten. Zuallernächst trägt jeder einzig und allein über die Verletzung jener Regeln Verantwortung, die er selbst definiert und geteilt hat – und nicht über Gesetze, die andere in seinem Namen festgelegt haben; desweiteren werden diese Konflikte auf eine nicht-repressive Weise angegangen, als Zeichen für nicht übereinstimmende Abmachungen, als Experimentieren mit neuen Beziehungen. Auf jeden Fall darf die Lösung für Uneinigkeiten nicht in repressiven Organen – wie Gefängnisse und Wegschliessung im Allgemeinen – institutionalisiert werden, die zu nichts anderem dienen, als jene unterdrückende und willkürliche Macht wiederzubeleben, deren Charakter und Konsequenzen wir alle kennen. ”Gerechtigkeit” kann schliesslich nie von der Gemeinschaft getrennt werden, die sie in spezialisierten Organen ausdrückt, welche in erster Linie danach streben, sich selbst und ihre Privilegien zu reproduzieren. Es gibt offensichtlich keine Lösungsanleitung, einzig eine anti-autoritäre Sensibilität, die es auf den Ruinen aller Gefängnisse zu verfeinern gilt. Um Entscheidungen gemeinsam und ohne zentalisierende Macht treffen zu können, ist es notwendig, auf direkte und horizontale Weise miteinander zu sprechen. Die Gesellschaft, für die wir kämpfen, ist eine Gesellschaft von Angesicht zu Angesicht. Eine Massenkultur wie die industrielle Zivilisation speziali siert die Tätigkeiten bis zum Äussersten, kreiert überall Hierarchien und macht die Individuen unfähig, das Produkt ihrer sozialen Beziehungen zu verstehen. Weil das Denken allein im Individuum mit dem Handeln vereint ist – die sozialen Kräfte sind stets blind –, muss die ausgeführte Aktivität unmittelbar von den Individuen selbst kontrolliert und verstanden werden. Die Lohnarbeit hingegen basiert auf dem exakten Gegenteil: Einige Führungskräfte organisieren, während die Masse ausführt, unfähig die Maschinen – von denen sie eine blosse Erweiterung werden – zu beherrschen oder herzustellen, noch das Produkt ihrer eigenen Aktivität zu begreifen. Nur bei autoritären Geistern steht das Universelle dem Lokalen gegenüber. In einer solchen Vorstellung wird es keinen Ausweg aus dem Grössenwahn der Städte und der Produktionsapparate geben. In Wirklichkeit wird es uns entweder gelingen – vom Kleinen bis zum Grossen, mittels horizontaler Verbindungen – wieder ein soziales Leben auf bescheideneren Grundlagen und mit simpleren Techniken zu erfinden, oder wir manövrieren uns immer mehr der Desintegration jeglicher individueller Autonomie und der ökologischen Katastrophe entgegen. Die vermassten Zusammenhänge – Quellen von Konformismus, Verschmutzung und existenzieller Angst – müssen dringend aufgelöst werden, um mit anderen zu experimentieren, die den Bedürfnissen und Verlangen eines jeden besser angepasst sind. Entgegen der Fortschrittsidee, die man uns aufdrängt, nach welcher die Geschichte eine Art gerade Linie darstellt, die von den Höhlen bis zum ”Internationalen Währungsfond” reicht, hat die Menschheit während Jahrtausenden in Gemeinschaften ohne Staat und ohne zentralisierte Macht gelebt. Heute geht es gewiss nicht darum, von der Rückkehr in ein mythisches, goldenes Zeitalter zu träumen, sondern vielmehr darum, in der Vergangenheit aufzudecken, welche Beziehungen und Techniken uns behilflich sein könnten, um die Gegenwart zu verändern. Die Wiederentdeckung einer neuen Autonomie (was Nahrung, Energie, Medizin, usw. betrifft) ist für uns von einem revolutionären Prozess der Zerstörung des Staates und der Zerschlagung der industriellen Gesellschaft nicht zu trennen. Wieder eine Beziehung zwischen der Einsamkeit und der Begegnung, dem Wald und dem Dorf, dem Land und der städtischen Umgebung zu erfinden, ist nicht bloss eine ethische Spannung: es ist eine Lebensnotwendigkeit. Der Kapitalismus greift die eigentlichen Quellen des Lebens an – die Nahrung, die Luft, das Wasser – und verwandelt sie in Waren. Zu denken, sich irgendein Reservat dieses gigantischen Supermarktes abtrennen zu können, scheint uns illusorisch. Die Verbreitung von Räumen der Autonomie – indem mit anderen Lebensformen und Beziehungen experimentiert wird – und das Untergraben der gegenwärtigen Ordnung sind, um es zu wiederholen, zwei Aspekte, die nicht voneinander zu trennen sind. Entgegen der technologischen Propaganda, welche sagt, dass alles was technisch effizient ist, sozial positiv wird, denken wir, dass den Techniken nur unter ethischen und sozialen Überlegungen Wert zukommt, und dass wir einen Schritt zurücksetzen müssen, wenn eine vermeintliche, technische Effizienz nur noch dank grösserer Spezialisierung, grösserer Macht oder einer allgemeinen Verarmung der menschlichen Beziehungen erreicht wird. *** «Und nun?» Einige dieser Überlegungen sind für viele revolutionäre oder schlicht kritische Personen bereits banal. Was uns als Anarchisten charakterisiert, ist, dass wir die Ziele als untrennbar von den Mitteln betrachten, denn die Methoden des Kampfes geben bereits Einblick in das Leben, wofür wir kämpfen. Vom vorherrschenden Machiavellismus abgeneigt, wissen wir, dass wir mit der Weigerung gewisse Mittel einzusetzen, auch gewisse Ziele verweigern, eben weil Letztere stets in den Ersteren enthalten sind. Wir haben aus der Fülle an historischen Beispielen gelernt wohin die Logik des Opportunismus, die taktischen und strategischen Ausnahmen oder der ”Übergang zum Kommunismus” (der nie übergeht, aber alles rechtfertigt) führen: Zu schonungslosen Diktaturen oder mordenden Sozialdemokratien. Irgendjemand sagte einmal, dass man die Entfremdung nicht mit entfremdeten Formen bekämpfen kann. In unseren eigenen Beziehungen und unseren eigenen Praktiken können wir nicht dieselben Dynamiken der Herrschaft reproduzieren, die wir bekämpfen. In diesem Sinne sind wir für die Selbstorganisation der Kämpfe, das heisst, für Autonomie gegenüber allen parteilichen und gewerkschaftlichen Kräften; für den permanenten Konflikt mit der Macht, ihren Strukturen, ihren Menschen und Ideologien. Deshalb verweigern wir die Betrügerei der Wahlen – womit sich die Diktatur des Kapitals verhüllt – in gleichem Masse wie Führer, Hierarchien, Zentralkomitees und Mediensprecher (bzw. die künftigen politischen Chefs). Die Macht anzugreifen, statt sie zu reproduzieren, aus den Institutionen zu desertieren, statt um Subventionen zu betteln; das sind Methoden, die zunächst wenig effizient erscheinen mögen und eine gewisse (von der konstanten medialen Lynchung gut präparierte) Isolation mit sich bringen. Darauf können wir erwidern, dass der Sinn dessen, was wir tun, der Aktivität selbst und nicht der Anzahl quantitativer Resultate anhaftet; eben weil die sozialen Kräfte unvorhersehbar sind, kann man sie nicht in Zahlen messen: was wir wahrnehmen, das sind im Grunde nur die ersten, sich bildenden Kreise von den Steinen, die wir werfen. Die Suche nach Kohärenz hingegen ist die Kraft, die alle anderen Kräfte enthält, und dies nicht durch aufopferndes Anschliessen an eine Doktrin, sondern durch die entstehende Freude, wenn der Geist mit sich selbst einig ist. In der Einheit von Denken und Handeln, sagte Simone Weil, erneuert sich der Pakt des Geistes mit dem Universum. Und somit ist das, was wie ein ”Purismus” erscheinen mag (wie die Realisten abwertend sagen), in Wirklichkeit eine recht konkrete Weise, die Existenz zu betasten, ”mit der stolzen Freude des sozialen Kampfes”. Wir glauben nicht an aufgehende Sonnen der Zukunft, während man im Hinterzimmer Berechnungen anstellt. Die Welt, in welcher wir leben wollen, muss so viel wie möglich in unseren eigenen Beziehungen und Verhaltensweisen enthalten sein. Da wir nicht mit den Institutionen kollaborieren, wird uns letztendlich niemand vorwerfen können, mit den Wölfen zu heulen – und auch das zählt. Die Selbstorganisation von der wir sprechen, ist nicht ein blosses Fantasiegebilde. Sie ist eine menschliche Erfahrung, die seit jeher existiert, ein grosses theoretisches und praktisches Arsenal, das aus der Vergangenheit an die Gegenwart weitergegeben wurde. Vieles von dem, was wir Theorie nennen, wurde durch die Realität der Kämpfe und durch gemeinschaftliches Experimentieren angeregt. Doch ebenso durch die kühnen und einsamen Revolten von denje- nigen, die die Entschlossenheit besassen, die Macht, die Gewohnheiten und die Vorurteile ihrer Epoche herauszufordern, von denjenigen, die den Zorn aller antiken und modernen Richter auf sich gezogen haben. Vom Mittelalter bis Heute gibt es unzählige Beispiele von Gemeinschaften, die das Privateigentum und den Staat abgeschafft haben, in einem leidenschaftlichen Versuch, auf der Erde jenes Glück zu verwirklichen, das die Religionen stets im himmlischen Königreich einschlossen. Doch wir brauchen keine Vergangenheit, um nach Rechtfertigungen für unsere Verlangen zu suchen. Selbstorganisation ist eine Realität, die in der heutigen Welt existiert, sei es als soziale Praxis bei aufständischen Explosionen (denken wir bloss an die Quartiersversammlungen in Argentinien oder an die Aarch in Algerien) oder als Kampfmethode bei spezifischeren Konflikten (denken wir an die kürzlichen Blockaden des Zugreinigunspersonals in Scanzano Jonico oder Campania, an die wilden Streiks der Tram- und Buschauffeure). Tausende Ausgebeutete machten ihre Erfahrungen mit der direkten Aktion nicht aufgrund irgendeiner Ideologie, sondern weil es die einzige Methode ist, um den Bossen eine wirkliche Verbesserung zu entreissen. Da sie den Kapitalismus an ihrer eigenen Haut erfahren, machen zahlreiche Ausgebeutete im Verlauf ihrer Kämpfe mit dieser antikapitalistischen Kritik Erfahrung, welche von den Intellektuellen als vergeblich, überholt oder kriminell abgetan wird. Und wir in all dem? Ohne jegliche avantgardistische Mentalität erbringen wir schlicht überall dort, wo wir können unseren Beitrag, um die Praktiken der Selbstorganisation und der direkten Aktion voranzutragen. Wenn möglich tragen wir dazu bei, Situationen des sozialen Kampfes zu kreieren, ansonsten intervenieren wir – auf unseren Grundlagen – in Kämpfe, die von anderen geführt werden. Wir sind keine Spezialisten und haben auch kein exklusives Interventionsgebiet, eben weil diese Gesellschaft bereits einen solchen Grad an gegenseitiger Abhängigkeit zwischen ihren Bereichen erreicht hat, dass es unmöglich ist, irgendeinen bedeutsamen Aspekt tiefgehend zu verändern, ohne die Gesamtheit in Frage zu stellen. Wie schon einmal jemand schrieb, erfordert selbst das Bedürfnis nach unvergiftetem Essen, um befriedigt zu werden, die Zerschlagung des gesamten, bestehenden Produktions-, Tausch- und Transportsystems. Vom Problem der Umweltverschmutzung bis zu jenem des Krieges, wenn die Kritik auf den Grund der Dinge gehen will, sieht sie sich mit der ganzen Gesellschaft und ihren Wachhunden konfrontiert. Gewiss, einige Fragen liegen uns mehr am Herzen als andere, und zwar vor allem, weil wir denken, dass sie weniger einfach von der Herrschaft rekuperiert – das heisst, neutralisiert – werden können. Wenn es denkbar ist, dass eine Macht weniger Müllverbrennungsöfen oder gewisse hochschädliche Technologien produziert, so ist es nicht denkbar, dass sich eine Macht der Knäste entledigt, ebenso wie es nie Totengräber der Revolution gegeben hat, die nicht die Gefängnisse wieder aufgebaut hätten. Und doch, wenn man genau hinschaut, verweist selbst das Problem des Gefängnisses auf jenes der Unabhängigkeit in den Entscheidungen, und diese braucht ein jeder, um zu leben. Solange wir nicht lernen die freie Abmachung den Befehlen und die Solidarität dem erniedrigenden Konkurrenzkampf vorzuziehen, baut die Logik der Bestrafung ihre Käfige und Schrecken wieder auf. Wir sind für den revolutionären Bruch, denn wir wissen, dass die unterwürfigen Haltungen, ebenso wie die sozialen Institutionen einen gewaltigen Stoss nötig haben, doch wir wissen auch, dass ein Aufstand kein Allheilmittel, sondern bloss der Beginn einer möglichen Veränderung ist. Bereit, uns mit jedem zu vereinigen, der die gegenwärtige Herrschaft wirklich bekämpfen will, verteidigen wir mit Händen und Füssen unsere Möglichkeit zu Leben, ohne irgendwelche Anweisungen einer Autorität, einer Partei oder eines Zentral- komitees zu erteilen, noch anzuerkennen. Die geschichtliche Erfahrung hat uns gelehrt, dass die schlimmsten Unterdrücker das Kleid des Revolutionärs überziehen können und wir wollen gewiss nicht in Allianz mit den Erstickern jeglicher subversiven Spontaneität und jeglicher Freiheit enden. Die einzig akzeptable Gewalt ist für uns jene, die befreit und nicht unterwirft, jene, die die Macht zerstört und nicht reproduziert, jene, die für jeden die Möglichkeit verteidigt, auf seine eigene Weise zu leben. Wenn ich einen Galgen errichten muss, um zu gewinnen, sagte Malatesta, dann ziehe ich es vor, zu verlieren. Dass der Chor der unterworfenen Intelligenzen wiederholt, eine Revolution sei unmöglich, beeindruckt uns nicht, noch erstaunt es uns. Ist es nicht das, was schon die dreissig Tyrannen den Athener Demokraten, die Aristokraten den Bourgeois, die Latifundisten den mexikanischen Bauern, die Demokraten den spanischen Anarchisten, die stalinistischen Bürokraten den ungarischen Aufständischen, die Soziologen den Wütenden des Pariser Mai‘s wiederholten? « Wer die Revolution nur halb macht, gräbt sein eigenes Grab ». Dies ist der einzige Ratschlag, den wir aus den Erfahrungen jener ziehen wollen, die uns auf dem Pfad einer anarchistischen Revolution vorangegangen sind. Uns als Ausgebeutete an der Seite von anderen Ausgebeuteten betrachtend, denken wir, dass unsere Ungeduld und unsere Entschlossenheit hier und jetzt anzugreifen, einen Teil des Klassenkonfliktes ausmacht. Wir lassen keine Hierarchie unter den Mitteln zu, die sich auf den im Strafgesetzbuch vorgesehenen Risiken begründet: ein Flyer hat die selbe Würde wie ein Sabotageakt, denn die direkte Aktion steht für uns der Verbreitung von Ideen nicht gegenüber. Die kommenden Jahre werden voller Konflikte sein, manche schwierig zu entziffern, andere klar und deutlich wie die Barrikaden. Das Terrain der Einwilligung und Unterwerfung wird rissig, wie zahlreiche Anzeichen von Unzufriedenheit zeigen. Die Selbstorganisation wird erneut kräftig an das Tor des sozialen Krieges pochen. Unsere Komplizen sind und werden all jene Individuen sein, die bereit sind zu kämpfen, um die Freiheit gemeinsam mit den anderen zu erobern, und auch bereit sind, ihre eigene zu riskieren.   Gefängnis von Trento, 23. Juli 2004 [1] Zeitschrift für soziale Kritik aus Rovereto, Italien. [2] Von der gleichnamigen Gestalt aus der griechischen Mythologie abgeleitet, nennt man heute noch denjenigen eine ”Kassandra”, der zutreffend, aber vergebens vor einer drohenden Gefahr warnt, die er für unabwendbar hält. Solche Warnungen werden als ”Kassandrarufe” bezeichnet.