Titel: Vierzehn Punkte über die Insurrektion
AutorIn: A Corps Perdu
Datum: September 2010
Bemerkungen: Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 3, Juni 2011. Teil des Dossier "Insurrektion".

Die Addition Agitation-Insurrektion-Revolution versteht sich nicht mehr von selbst, da die überall verstreute Entfremdung diesem Weg nur schwer erlauben wird, sich aufzutun, und da sowieso die revolutionären Hypothesen aus dem internationalen Panorama verschwunden sind.


Das Thema, das ich entschied, zu behandeln, ist von heikler Natur. Bei jedem erneuten Durchlesen des Textes bemerke ich Mängel, Ungenauigkeiten und eine mögliche Unverständlichkeit, die den Leser ergreifen könnte.

Insurrektion, revolutionäre Methode, Praxis, Ethik... Bei jedem Durchgehen bemerke ich, dass ich, angesichts der Kritiken aller Art, die geduldige Kameraden diesem kleinen Text entgegen brachten, schwerlich zu einer Synthese, und noch viel weniger zu einer Schlussfolgerung gelangen kann. In allen Zeiten und an allen Orten gab es großherzige Kameraden und Kämpfer, die einen Teil ihres Lebens der Ausarbeitung, dem Ausprobieren und der Diskussion dessen gewidmet haben, was ich hier zur Debatte stellen möchte. Was ich sage, wird daher unvermeidlich partiell sein, räumlich und noch mehr durch meine Kapazitäten und Kenntnisse begrenzt. Ich beabsichtige hiermit nicht, der Kritik zu entgehen. Es sind meine Ansprüche, die auf dem Spiel stehen.

Von der Ideologie

Seien wir ehrlich: aus der Ideologie herauszukommen ist ein kompliziertes Unterfangen. Wir kritisieren sie, wir bezeichnen sie als Mutter allen Übels oder als konterrevolutionäres Werk, und dennoch verfangen wir uns letzten Endes oft in ihren Netzen. Ein schlecht ausgedrückter Satz, eine Behauptung, die sich „aus Prinzip“ verstanden haben will, eine (egal ob theoretische oder praktische) Polemik etwas zu sehr “aus der Defensive”, und man steht wie ein Dummkopf da, der dabei ist, seinen Rosenkranz der Ismen herunterzubetet.

Dem ideologischen Handeln und Denken liegt nicht a priori ein politischer Wille zugrunde, sie verstärken ihn jedoch auf mehr oder weniger sichtbare Weise, auf mehr oder weniger bewusste Weise. Schließlich geht es nicht um gute oder schlechte Absichten, sondern vielmehr um schlechte Angewohnheiten, um mangelnde Aufmerksamkeit, um ein starkes Zugehörigkeitsbedürfnis, das – in der „ideologischen und politischen Gemeinschaft“ – angeblich eine größere Schärfe in der Aktion bedeutet.

Diese paar Punkte werden vielleicht wie eine Selbstverständlichkeit klingen, sie erhalten aber all ihr Gewicht, wenn es darum geht, die revolutionären Theorien und Praktiken zu untersuchen, zu evaluieren und von ihnen zu lernen. Sie werden vor allem fundamental, wenn es darum geht, die Praktiken, die Projektualität und die Instrumente, mit denen sich die Revolutionäre ausrüsteten, welche die Herrschaft (in all ihren Abwandlungen) bekämpften, von den ideologischen und politischen Konstruktionen zu trennen, die daraus abgeleitet werden. Was soll das heißen? Ganz einfach, dass es einen ganz elementaren Unterschied gibt zwischen einerseits der Konstruktion und der Experimentation und andererseits der ideologischen und dogmatischen Behauptung. Die Methode wie die Theorie sollten ihre Substanz aus der Praxis und der Realität ziehen, sie sollten sich ausgehend von unseren Ansprüchen weiter entwickeln und verändern, und als Waffen geschliffen werden, um so scharf wie möglich zu werden. Die Ideologien (und damit meinen wir die ideologischen Theorien und Methoden) neigen dazu, statisch zu sein, sich von der sozialen Realität loszulösen, um eine politische Praxis zu kreieren. Machen wir ein paar Beispiele. Kameraden mögen evaluieren und entscheiden, ausgehend vom Kontext, in dem sie leben, und ausgehend von den Analysen, die sie aus der Wirklichkeit ziehen, unterschiedliche Methoden und Instrumente anzuwenden: man mag evaluieren, dass es erforderlich ist, Waffen einzusetzen, ebenso wie man es für angebracht halten kann, sich an der Versammlung einer Fabrik zu beteiligen. Alles hängt von der Evaluation ab, die ein jeder von seinem Kontext macht, und ist Teil eines theoretischen und praktischen Wachstums, das heißt, des revolutionären Experimentierens. Die Entscheidung, eine Waffe zu gebrauchen, ist etwas ganz anderes, als der Luttarmatismus[1], ebenso, wie die Teilnahme an einer Fabrikversammlung oder -besetzung etwas anderes ist, als Syndikalist zu werden. Im einen Fall, ist es der Anspruch, der aus dem sozialen Kontext entstand, der die Hände und Gehirne in Bewegung bringt, im zweiten Fall – Luttarmatismus und Syndikalismus – ist es die Ideologie, welche die Möglichkeiten in eine Linie umwandelt, in die einzig mögliche Linie, der es zu folgen gilt, um die politische Stossrichtung des Kampfes zu stärken.

Vom sogenannten (modernen) Insurrektionalismus

Um auf aktuellere und direkter mit Anarchisten verbundene Situationen zu sprechen zu kommen, müssen wir einige Überlegungen über jenen so verschrieenen, angejubelten, verspotteten, verherrlichten, unterstellten und manipulierten Insurrektionalismus anstellen.

Wären wir etwas böse und provokant, könnten wir behaupten, dass, während die revolutionären Theorien und Methoden früher Gefahr liefen, in Ideologien verwandelt zu werden, es heute, in Anbetracht des traurigen Schicksals des “Insurrektionalismus”, scheint, als ob es vielmehr die Journalisten sind, die die Ideologien erschaffen, und die Revolutionäre diese fixfertig schlucken. Warum sag ich das? Weil das, was, wie wir sehen werden, bloß eine einfache Methode, eine Interventionsmöglichkeit war, mittlerweile zum Synonym für eine politische Strömung wurde, die gewisse Medienklischees bestärkt[2]: der Insurrektionalist kleidet sich schwarz, trägt eine Vermummung, stiftet Chaos, schlägt Schaufensterscheiben ein, legt Bomben. Punkt. Die Journalisten sind etwas schlecht und ein bisschen dumm. Schade, dass sich seit einiger Zeit scheinbar allzu viele Kameraden in diesem Klischée wiederfinden... und eben das ist es, was am meisten Besorgnis erregt. Diejenigen, die – wie irgendwer einmal sagte – ihre Zeit damit verbrachten, “die Schreiberlinge der Bewegung” zu spielen, hatten das Unglück, viele Jahre lang als Insurrektionalisten abgestempelt zu werden. Ich sage Unglück, nicht weil mir die Insurrektion nicht recht ist, im Gegenteil. Es ist das -ist, was mir nicht passt. Und noch viel mehr missfällt es mir, wenn es die Bullen, die Richter und die Journalisten sind, die sagen, was meine Ideen, meine Praktiken und meine Projektualität angeblich beinhalten soll. Und wenn man dem anfügt, dass im internationalen anarchistischen Panorama die Verwirrung um die Insurrektion gebieterisch herrscht, dann ist eben dies einer der Gründe für diesen Artikel.

Verstehen wir uns recht, es kümmert mich einen Dreck, was die Medien über die Anarchisten sagen. Was meine Stirn in Runzeln legt, ist, dass es von Anarchisten geglaubt wird, schlimmer noch, dass sie sich darin wiedererkennen. Kurz gesagt: wenn die Journalisten sagen, die Insurrektionalisten haben ein Schaufenster eingeschlagen oder eine Bombe gelegt, dann kann die Schlussfolgerung nicht sein, “ich schlage ein Schaufenster ein oder lege eine Bombe, also bin ich Insurrektionalist”, oder schlimmer noch, “ich bin Insurrektionalist, also muss ich Schaufenster einschlagen oder Bomben legen.”

Von der Methode

Um den Faden wieder aufzunehmen: der Insurrektionalismus (oder wie man vor einem Jahrhundert sagte, der Insurrektionismus) ist keine “Strömung”, keine x-te Fraktion oder Abspaltung einer politischen Bewegung: er ist schlicht und einfach eine Methode. Er ist eine mögliche Methode neben anderen, in konstanter Spannung und Entwicklung begriffen. Auch wenn es banal scheinen mag, möchte ich hinzufügen, dass er nicht einmal die ausschließliche Methode von Anarchisten ist. Garibaldi, Mazzini, Pisacane, Collins in seiner Jugend, bis zu bestimmten moderneren westlichen maoistischen Gruppen, um nur einige Beispiele zu nennen, waren alle “Insurrektionalisten”. Es handelt sich also um eine Methode und nicht um eine Politik.

Die Grundidee ist ziemlich banal: welche Praktiken sind nötig, um seine Ziele zu erreichen? Und unter Zielen kann man die soziale Revolution, die Révolution, die nationale Befreiung oder die Machtergreifung verstehen. So gesehen enthält die Insurrektion, wie wir bereits sagten, an sich nicht eine Ideologie, sondern ist sie ein Werkzeug unter vielen anderen. In der Zeit des italienischen Risorgimento hoffte der Insurrektionist durch eine Reihe von insurrektionellen Aufruhren auf ein Bewusstwerden der Massen und auf die Ausweitung des Konflikts. Eine Kaserne, ein Gemeindehaus oder ein Dorf zu besetzen war offensichtlich nicht das Ziel an sich, und ebenso wenig dachten sie, die Position „halten“ zu können, und sei es auch nur vage. Eine solche Aktion hatte zum Ziel, miteinzubeziehen, Bewusstsein zu verbreiten und ein Anfang zu sein.

Die Insurrektion war, um es deutlicher auszudrücken, kein Spiel zu zweit, zwischen zwei politischen Strömungen, sondern das Verhältnis einer (in diesem Moment noch minoritären) Volksbewegung, die versucht, sich (in Sachen Bewusstsein und Handlungen) auf den Rest des sozialen Gefüges auszuweiten, indem sie, in der Hoffnung, dieses anzustecken, in Aufstand trat. Sie war, zumindest in der Absicht, die Vorstufe der bewussten sozialen Auflehnung, und der Keim der Revolution.

Was die Insurrektion in jedem Fall unvermeidlich charakterisierte, war ihr sozialer „Massen“-Aspekt. Was diese Methode in der Geschichte auszeichnete, war ihr Versuch, sich auszuweiten

und durch die eigentliche Organisation des insurrektionellen Aktes eine Propaganda zu sein.

Von den Anarchisten und der Insurrektion

Was den “anarchistischen Insurrektionalismus” betrifft, zumindest in der Art und Weise, wie er besonders in Italien diskutiert und theoretisiert wurde, so sollte der insurrektionelle Akt danach streben, eine Struktur der Macht auf kollektive Weise anzugreifen. Die gewählte Struktur ist wohlverstanden ein partielles Ziel, das weder die Gesamtheit der Herrschaftsverhältnisse repräsentieren kann, noch – wurde sie einmal angegriffen – durch ihre Zerstörung oder durch den zugefügten Schaden einen Wandel der sozialen Verhältnisse bedeuten kann. Das Potenzial liegt im Angriff selbst, im Exempel und in den auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung basierenden Inhalten, in dem, was die Struktur repräsentiert und im Organisationsmodell der “insurrektionellen Auflehnung”. Und dieses Potenzial ist, um es noch einmal zu sagen, mit der Einbindung der “Anderen”, mit der Vermittlung des Warum‘s des Angriffs und mit der dahinterliegenden Zukunftsperspektive, mit der Veränderung des Bewusstseins einer bestimmten “sozialen Gruppe” verbunden. Die Hoffnung des insurrektionellen Versuchs liegt also nicht in der supplementären Zerstörung einer einzelnen Struktur der Macht, sondern in der Möglichkeit, dass die Methode reproduziert wird und sich ausweitet, auf dass sich die Insurrektionen generalisieren. Die revolutionäre Möglichkeit befindet sich folglich in dieser fortschreitenden Generalisierung, und die Methode beinhaltet bereits die zukünftigen Träume.

Von der Verwirrung

Sich an einem Aufruhr, an der Revolte eines Viertels, oder an den Auseinandersetzungen während einer Demonstration zu beteiligen, bedeutet nicht, eine insurrektionelle Methode zu benutzen. Ebensowenig, wie alleine bei Nacht eine Struktur oder ein noch so verabscheuenswürdiges Ziel anzugreifen, nicht a priori bedeutet, eine insurrektionistische Methodologie anzuwenden. Sich an einer Demonstration zu beteiligen oder im Alleingang anzugreifen, repräsentiert aus dem oben genannten Blickwinkel an sich überhaupt nichts. Die Idee der Insurrektion ist nicht der Aktivismus, und noch viel weniger der Avantgardismus oder die individuelle Aktion, sondern vielmehr eine mit Methode ausgetragene präzise Projektualität, die sich in Entwicklung und in Verbindung mit den bestehenden sozialen Spannungen befindet und auf ein im Voraus festgelegtes Ziel ausgerichtet ist. Innerhalb dieser Perspektive und im Aufbau des „insurrektionellen Momentes“ mögen unterschiedliche Kampfpraktiken angewandt werden (vom individuellen Angriff bis zur Demonstration, vom Streik bis zur Sabotage), diese letzteren sollten aber stets mit dem Ziel in Verbindung stehen und dieses anstreben. Sie sollten, kurz gesagt, eine unmittelbare soziale Verständlichkeit (gegenüber potenziellen Komplizen) haben, sie sollten an die “Temperatur” des Konfliktes angepasst sein (indem sie sowohl die Flucht nach vorne, wie jene nach hinten vermeiden), sie sollten generalisierbar und für alle anwendbar sein. Die Praktiken und die Agitation werden schließlich zu Propagandamomenten, zu Aktionen, die dazu dienen, den Moment des kollektiven Angriffs vorzubereiten.

Was man erreichen will, ist die Insurrektion gegen die zuvor ausgesuchte Herrschaftsstruktur, und nicht einfach die Zerstörung des Angriffsziels. Um es besser auszudrücken: der alleinige Zerstörungswille reicht nicht aus, um von insurrektionellen Methoden zu sprechen. Mit wenigen anzugreifen, mag oft einfacher, sicherer und effizienter sein, als sich an der Organisation eines kollektiven Angriffs zu beteiligen, hinsichtlich der „insurrektionellen Hypothese“ bliebe das jedoch unfruchtbar.

Die Wahl des Ziels ist von grundlegender Bedeutung und kann nicht nur aufgrund einer Analyse der Verantwortlichkeit der Struktur ausgesucht werden, und noch weniger gestützt auf die „Antipathie“, welche die Kameraden aufgrund ihrer persönlichen Empfindung ihr gegenüber haben. Das “künftige Opfer der Insurrektion” sollte aufgrund einer Einschätzung der Machbarkeit des Projektes gewählt werden, das heißt, aufgrund der Tatsache, dass die Verantwortung der Struktur unmittelbar verständlich ist. Es sollte bereits (oder potenziell in naher Zukunft) eine gewisse verstreute soziale Feindseligkeit gegen sich haben. Die zahlreichen Kampagnen gegen das Gefängnis, den Krieg, die Abschiebungen, etc., sind sicherlich wertvolle Kampagnen gegen Themen von fundamentaler Bedeutung, sie setzten jedoch nicht an sich die Verwendung einer insurrektionellen Methode voraus. Darum sind die sogenannten insurrektionalistischen Kampagnen, über die so viel geredet wird, und die immer wieder lanciert werden, in Wirklichkeit keine.

Vom Zugehörigkeitsbedürfnis und von der Bedeutung der Worte

Lasst uns eines klarstellen, um überflüssige Polemiken zu vermeiden: meine Absicht besteht hier nicht darin, diese Kampagnen – die ich, zumindest in vielen Fällen, für äusserst wichtig halte – schlechtzureden, sondern vielmehr, einen internen Beitrag zu den heutigen insurrektionellen Möglichkeiten vorzuschlagen.

So ist es, um bei den genannten Beispielen zu bleiben, durchaus möglich, zu versuchen, ein Projekt – aus einem insurrektionellen Blickwinkel – auf die Beine zu stellen, das ein Gefängnis, einen Abschiebeknast, eine Militärbasis oder eine bestimmte Kaserne in Angriff nehmen würde. Aber stets einzeln, gegen eine Struktur (welche zur Verkörperung eines allgemeineren Mechanismus wird) und ausgehend von der Analyse des sozialen Gefüges, welches rund um diese Struktur wohnt und das – zumindest in Theorie – zum Protagonisten der Aktion werden sollte.

Wenn wir dieser Logik folgen, werden wir also feststellen, inwiefern die zahlreichen Texte, die die anarchistische Bewegung überfluten und sich selbst insurrektionalistisch nennen, in Wahrheit meistens ziemlich weit von der insurrektionellen Methode entfernt sind. So kann man beispielsweise in Griechenland, in Chile und mittlerweile, wenn auch auf andere Weise, auch in Italien oft sehen, wie sich eine insurrektionalistische Ideologie (auf eine mehr oder weniger breite, aber in jedem Fall mediatisierte Weise) unter einer Form verbreitet, die völlig von der insurrektionellen Methode losgelöst ist. Die sich häufenden sogenannten „Stadtguerillas“ oder mehr oder weniger fest vom Luttarmatismus inspirierten klandestinen Gruppen, verwenden beide eine Methode, die (einmal abgesehen von den Urteilen, die sich ein jeder selbst darüber machen kann) tausende Kilometer weit vom Aufbau und Auslösen einer Insurrektion entfernt ist.

Es fällt uns schwer, zu verstehen, woher das Bedürfnis kommt, das ein Teil der anarchistischen Bewegung scheinbar verspürt, einen Begriff zu verwenden (der darüber hinaus falsch gebraucht wird), um sich damit politisch zu identifizieren. Als Massenphänomen und soziale Erscheinung, sollte die Hypothese der Insurrektion nicht nach einer politischen und ideologischen Identität streben. Sie sollte idealerweise allen Protagonisten des Aktes gehören, und nicht einem einzelnen ihrer Bestandteile, auch wenn dieser anarchistisch ist. Die Entscheidung der neuen luttarmatistischen Gruppen schlägt eine ganz andere Richtung ein. Sie gebrauchen nicht die insurrektionistische Methode, sondern verbandeln sich mit ihrer Ideologie. Sie stellen sich auf getrennte Weise dem gemeinsamen Klassenfeind gegenüber, und obwohl sie das avantgardistische Prinzip abstreiten, werden sie dennoch zu dessen Protagonisten. Durch den ideologischen Gebrauch des Begriffs insurrektionalistisch hat ein Teil der Anarchisten, zumindest virtuell, eine „politische Gemeinschaft“ kreiert, eine wirkende Kraft im Konflikt, die jedoch in sozialer Hinsicht vom Konflikt selbst völlig losgelöst ist. Das, was die insurrektionelle Methodologie vermindern wollte, nämlich das Risiko einer exklusiven, getrennten Handlung, hat sich heute in die Entscheidung für das Gegenteil verwandelt.

Von der Gewalt

Was an den verschiedenen insurrektionistischen Theorien des vergangenen Jahrhunderts fasziniert, ist wohl die Gewalt. Während man von schlecht verdauten Theorien Gebrauch macht, legitimiert man gewissermassen die Wut und den überhand nehmenden Rebellismus, indem man eine Art Gemeinschaft anbietet, die noch dazu virtuell ist.Was die Projektualität betrifft, so bleibt sie ohne Perspektiven, unfähig, sich den Zeiten und den sozialen Veränderungen anzupassen, da sie von einer (ideologischen) Faszination für die Gewalt als solche erstickt wird. Wenn Anarchisten unter anderem auch Wütende und Rebellen sind, so bedeutet wütend und rebellisch zu sein, nicht zwangsläufig, Anarchist zu sein.

Wenn wir einen erneuten Blick auf die Berge von Texten werfen, die in letzter Zeit innerhalb von dem, was als „insurrektionalistische Bewegung“ bezeichnet wird, verbreitet wurden, ist es unmöglich, dass einem nicht – in der Sprache wie in den Bildern – ein stumpfer Fetischismus der Waffen, des Feuers und generell der Gewalt auffällt.

Und dies meistens eingebettet in Kontexten, die – zumindest im Geschriebenen – jegliche Projektualität und Perspektive entbehren, die über diesen besagten Fetischismus, die Selbstbeweiräucherung und eine mehr oder weniger schön formulierte rebellistische Bekräftigung hinausgehen würden. Die Insurrektion ist zweifellos ein gewaltsamer Akt. Aber die insurrektionelle Gewalt ist eine geteilte Gewalt. Sie äussert sich dadurch, dass sie dem Staat das Monopol der legitimen Gewalt entreisst, auf dass sie von der „aufständischen Masse“ auf eine bewusste Weise angewandt wird. Um die Voraussetzungen für die insurrektionelle Aktion zu schaffen, werden die Kameraden vielleicht als erste Gewalt gebrauchen, doch sie werden dies in der Perspektive tun, eine unmittelbar reproduzierbare „Methode vorzuschlagen“.

Was meiner Meinung nach vermieden werden sollte, ist eine Neuformulierung des Dualismus Staat/klandestine bewaffnete Gruppe, denn eben dies gestattet nicht, den Gebrauch der Gewalt neu zu verteilen, sondern richtet schlicht eine weitere Monopolisierung ein, die sich – auch wenn sie sich ihr entgegenstellt – derjenigen des Staates anfügt. Kurzum, die Gewalt mag eine tragische Notwendigkeit sein – ihr Gebrauch ist Teil der insurrektionellen Aktion und Vorbereitung –, sie sollte jedoch danach streben, von allen gebraucht zu werden. Die potenziellen Komplizen, dazu zu „verpflichten“, passive Zuschauer von zwei spezifischen, organisierten und in Felder aufgeteilten Gewalten zu sein, bedeutet an sich bereits das Scheitern der insurrektionellen Möglichkeit.

Von der Diversität

Die Diskussion über dieses Thema ist alt und schwierig. Mit diesen Zeilen, die übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben, wird das Thema nicht ausgeschöpft sein. Das Schreiben von neuen Katechismen interessiert mich nicht im geringsten. Ich will gerade meine Weigerung betonen, eine Methode auf Kosten von anderen zu verherrlichen, da sie angeblich besser oder überlegener sein soll. Es ist darum wichtig, feine Unterscheidungen zu machen in dem ganzen Sumpf, der sich rund um den Insurrektionalismus gebildet hat, um sich in der revolutionären Theorie, aber auch Praxis orientieren zu können.

Wenn wir von spezifischen Kontexten und nicht von Ideologien ausgehen, so können unterschiedliche Methoden verwendet werden. Die anarchistische insurrektionelle Methode, von der wir gesprochen haben, ist nicht immer und nicht überall wünschenswert oder anwendbar. In einem gegebenen politischen und/oder sozialen Kontext, in einer bestimmten historischen Phase oder in einem bestimmten Land mag sich eine solche Methode als unmöglich anwendbar erweisen. Nehmen wir beispielsweise einen imaginären Ort, an dem es praktisch keine sozialen Spannungen gibt, oder starke autoritäre Regimes herrschen. An solch einem Ort können die Propaganda, die Koordination, die Kommunikation und die anfängliche Aktion einer minoritären Masse äusserst schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Es versteht sich also von selbst, dass das, was zahlreiche Kameraden während der letzten Jahrzehnte theoretisiert haben und anzuwenden versuchten, heute, angesichts der sich rasch entwickelnden sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen, überprüft, aktualisiert, verändert und vielleicht sogar verworfen werden muss.

Qualität und Quantität

An diesem Punkt der Argumentation angelangt, scheint es notwendig, einige Dinge im Bezug auf die anarchistischen und libertären Theorien zu präzisieren, die in den letzten Jahrzehnten rund um die Problematik der Insurrektion entwickelt wurden. Das, wovon wir gegenwärtig auf internationaler Ebene sprechen, ist ein Insurrektionalismus, der seine Wurzeln in einigen Erfahrungen und Überlegungen hat, die im Allgemeinen aus dem italienischen Territorium stammen. Es versteht sich von selbst, dass diese Positionen und Experimente nicht die einzigen sind, die entwickelt wurden, aber es scheint mir, dass diese viel Fuss gefasst haben und in einem schlechten Sinn aktualisiert wurden. Der Mangel an Debatten und Diskussionen (welche stark gehemmt werden durch die Repression) über Themen wie die gewaltsame Aktion, die falsche Gegenüberstellung von Massenaktion und Avantgardismus, die Kritik der quantitativen Logik, welche sich immer mehr in eine a priori Negation der Ausweitung verwandelt hat, ist einer der Gründe, welche die gegenwärtige Situation der Verwirrung geschaffen haben. Die Entscheidung einiger anarchistischer Gruppen und Individuen, den spektakulären Aktionen Vorrang zu geben, das heißt, den Feind auf eine Art und Weise anzugreifen, die vom Verständnis des sozialen Konflikts losgelöst ist und sich den Staat und die Medien zum bevorzugten Gesprächspartner macht, hat die Konfrontation auf ziemlich uninteressante Pfade gebracht. Die hervorstechende Aktion, insbesondere was Italien oder Spanien anbelangt, war dies nicht aufgrund ihrer Gewetztheit oder ihrer zerstörerischen Kraft, sondern vor allem durch das (gewollte und von ihren Protagonisten veranlasste) Medienecho, das mit ihnen einher ging. Handeln, um von sich reden zu machen, in einem hinkenden Versuch, dem Feind Angst einzujagen, ist die Negation der Dialektik des sozialen Konflikts. Aus dieser Sicht ist das Handeln innerhalb eines Alltags voller Kritiken, Umwälzungen der sozialen Beziehungen, anonymen (und als solche hypothetisch und symbolisch allen gehörenden) Sabotageakten und Aktionen, immer mehr in den Hintergrund verschwunden. Was die Macht zu verängstigen vermochte, durch die zerstörerischen Ausdrücke der Klassenspannungen, die mit einem feindlich gesinnten sozialen Gefüge verbunden sind, wird somit durch eine ideologische Bekennung abgestumpft, welche die Konfliktualität auf die Konfrontation zwischen dem Staat und einer marginalen Strömung reduziert.

Die rechtmäßige Negation des Quantitativen, das als Ausdruck einer politischen Wahl betrachtet wird, welche im Namen der Zahl den freien Ausdruck der Ideen, der Inhalte und der Perspektiven aufgibt, hat sich in eine genauso politische Wahl verwandelt: die Zahl ist völlig unwichtig, das einzige was spricht, ist die minoritäre und gewaltsame Aktion. Dies hat meines Erachtens aber nichts mit der Antithese des Quantitativen, der Qualität zu tun. Es ist gewiss nicht in der a priori Negation der Notwendigkeit der Zahl, worin sich die Stärke der revolutionären Vorschläge zeigt, sondern vielmehr in der Verbreitung von Ideen, Perspektiven und Praktiken unter den potenziellen Klassenkomplizen. Die Qualität liegt in der Tatsache, nicht bereit zu sein, seine Ideen zu verkaufen, um die “Massen” zu erreichen und miteinzubeziehen, aber auch in der Bekräftigung unserer eigenen Ideen und Praktiken, indem wir den Rest des sozialen Gefüges in unsere Inhalte miteinbeziehen (in einem dynamischen Verhältnis zu anderen Inhalten). Meiner Ansicht nach sollte die Priorität der revolutionären Praxis nicht darauf ausgerichtet sein, der Macht Angst einzujagen, sondern sollte sie vielmehr den Anspruch haben, den Wütenden Mut zu geben, auf dass sie gemeinsam mit uns revoltieren. Sie sollte die Ränge der Komplizen vergrößern, im Hinblick auf immer breitere, geteiltere und tödlichere Angriffe.

Von Unschuld und Ethik

Lasst uns gleich auf den Punkt kommen. Das Versenden von Briefbomben (die übrigens wiederholt nicht betroffene Personen verletzt haben), die zugespitzten allgemeinen Drohungen, die Nihilismusausdrücke und die Selbstdefinierungen als “Terroristen“ haben mit den insurrektionellen Projekten nichts zu tun. Man muss kein sehr heller Kopf sein, um zu begreifen, dass sich hinter diesem Neo-Rebellentum nicht viel mehr als ideologische und politische Selbstbehauptung verbirgt. Lange Zeit, in bestimmten Kontexten viele Jahre lang, wurden diese Akte und diese Ideologien nicht ausreichend kritisiert. Und dies, wie wir weiter unten sehen werden, nicht weil es an Argumenten fehlte, sondern viel eher, um – wie man damals sagte – „den Kreis der Repression nicht zu verengen“. Der Mangel an Kritiken und ihre Unzulänglichkeit haben in vielen Ländern dennoch zum Wiederaufkommen einer Methode und einer Denkweise geführt, die zumindest disussionswürdig ist. Wenn es wohl wahr ist, dass es keinem von uns Freude bereitet, sich distanzieren zu müssen, so ist es ebenso wahr, dass es zahlreiche Revolutionäre, und ich als erster, aus einem ethischen sowie aus einem projektuellen Blickwinkel bedenklich finden, mit bestimmten Praktiken in Verbindung gebracht zu werden, ohne sagen zu können, was man darüber denkt.

Das Überbringen einer Briefbombe an irgendjemanden zu delegieren, ohne dass diese Person darüber Bescheid weiß, mit dem Risiko, dass sie ihr in den Händen explodiert, ist ein Akt, der recht wenig mit dem anarchistischen Prinzip der Nicht-Delegation und der individuellen Verantwortung zu tun hat. Den Irrtum zu verteidigen und auf ihm zu beharren, nachdem in wiederholten Fällen nicht ausgesuchte Personen verwundet worden sind, bedeutet, von der Ideologie der Konfrontation verblendet zu sein; eine Bombe an einem Durchgangsort zu platzieren, mit oder ohne Vorwarnung an die Polizei, ist eine Aktion, die eine terrorisierende Zielsetzung in sich trägt (oder jedenfalls so aufgefasst werden wird): “heute warnen wir euch noch”, oder “heute handeln wir bei Nacht, morgen wer weiß...”. Zugegeben, dies sind keine Neuheiten, und es wäre falsch, zu behaupten, dass die revolutionäre Bewegung noch nie vor solchen Problemen stand. Die Geschichte ist gewiss übervoll mit Scheusslichkeiten, meistens von und für die Macht ausgeführt, andere aber, unglücklicherweise, traten auch bei Angriffen hervor, die sich gegen sie richteten. Doch kein Zweck, so nobel er auch sein mag, kann “die Mittel“ rechtfertigen. So ziehe ich es vor, der Geschichte ins Gesicht blickend und ihr revolutionäres Erbe „auf mich nehmend“, mich daran zu erinnern, dass Anarchisten es vorgezogen haben, ihr Leben zu opfern, als jemanden zu treffen, der nichts damit zu tun hatte, und dass einige mit „Liebe“ gegen die Unterdrücker vorgingen. Und mich auch daran zu erinnern, dass die abschäuliche Verachtung gegenüber “dem Volk“ die Eigenheit des Feindes war: der Bourgeoisie und der Aristokratie.

Von Individuen und Etiketten

Ich weiß, dass es unangenehm, und manche würden sagen, deplaziert ist, diese Kritiken in einem Moment aufzuwerfen, in dem sich die Repression spüren lässt. Aber andererseits, wann lässt sich die Repression nicht spüren? In Anbetracht dessen, wie sich die Dinge entwickeln, glaube ich nicht, dass es jemals einen “neutralen” Moment geben wird, um innezuhalten und zu diskutieren, oder um die Kritik zirkulieren zu lassen. Dennoch ist es gerade die Kritik, die die Debatte nährt und, entschuldigt die Banalität der Wiederholung, sie ist es, die die Verfeinerung und Effizienz der revolutionären Theorien und Praktiken ermöglicht. Denn nichts ist unveränderlich und die revolutionäre Perspektive ist dynamisch – zumindest, wenn man sie nicht wie eine Religion einverleiben will. Auf die im vorherigen Teil angesprochenen Themen hat es je nach Land sehr unterschiedliche Reaktionen gegeben. Wenn die Debatten über den Gebrauch bestimmter Methoden des Angriffs beispielsweise in der anarchistischen Bewegung Spaniens mehr oder weniger breit ausgetragen wurden, so waren sie in der anarchistischen Bewegung Italiens praktisch inexistent. Der Grund für diese Stille ist sicherlich nicht ein Mangel an Argumenten oder der mangelnde Wille zu polemisieren, sondern liegt vielmehr an ausschließlich repressiven Faktoren. Das Problem war und ist, zu vermeiden, einen Teil der anarchistischen Bewegung durch das Auslösen einer kritischen Debatte zu isolieren. Einer Debatte, die zwar einerseits gewiss zu einer methodologischen und theoretischen Überwindung führen kann, andererseits aber auch unausweichlich das Risiko einer kritischen Spirale – gegen eine bestimmte Art von Aktion – mit sich brächte, die von der Repression als „Distanzierung“ verstanden würde. Selbstverständlich liegt das Problem, um ganz deutlich zu sein, nicht darin, sich von dem zu distanzieren, was man nicht teilt, sondern zu riskieren, dass die polizeilichen Druckmittel auf jene niedertreffen werden, die sich entscheiden, diese Distanz – aus unterschiedlichen Gründen – nicht zu nehmen. Bei genauerer Betrachtung, ist es schwierig, zu sagen, wer zwischen beispielsweise der spanischen und italienischen Umgangsweise recht hatte, oder welche der beiden Positionen – in einem Kreis, aus dem es schwer ist, ”sauber” herauszukommen –, die kleinsten Einschränkungen mit sich bringt.

Immerhin verringern sich diese Problematiken mittlerweile immer mehr. Wenn die widersprüchlicherweise “insurrektionalistisch” genannte Aktion einst einen schwammigen Hintergrund hatte, so bestätigte sich die Wahl gewisser Gruppen immer mehr in Positionen, die immer offener politisch und avantgardistisch sind. Ein exemplarischer Fall ist derjenige der italienischen FAI [Informelle Anarchistische Föderation], die angefangen mit einfachen Bekennerschreiben mittlerweile bei konfusen politischen Vorschlägen/Resolutionen angelangt ist. Nun, da ein politischer Vorschlag vorliegt, wird eine kritische Antwort darauf notwendig: die vermeindliche Forderung nach Schweigen wäre nichts als eine moralische Erpressung, einmal abgesehen davon, dass es – durch eine fiktive, stillschweigende Zustimmung – eine Hegemonie dieser Positionen kreieren würde. Sicherlich gibt es Vorsichtsmassnahmen, die in den Debatten getroffen werden sollten, aber es gibt auch, wie es sie immer schon gegeben hat, “politische” und ethische Verantwortlichkeiten. “Natürlich” kann niemand jemand anderem die „anarchistische Bezeichnung“ geben oder nehmen, und jeder handelt so, wie er es für am Besten hält. Sicher, aber erlaubt mir, anzufügen, dass es trotz der Tatsache, dass die Sprache von der Macht geschmiedet wird, zumindest gewisse Konzepte und Prinzipien gibt, die in den Worten enthalten sind. Für mich kann der Anarchismus das Individuum, die Individualität und folglich die individuelle Verantwortlichkeit nicht beseitigen. Genauso wenig wie er die Ausführung der Aktion als Individuum negieren und die Delegation akzeptieren kann. Es erscheint mir, dass man sich immer weiter von diesen Konzepten entfernt. So wie die Insurrektion die Intervention von zahlreichen Personen und nicht nur der anarchistischen Gruppen benötigt, so bedeutet die Tatsache, Anarchist zu sein, trotz all ihrer Widersprüche, dass jeder der eigenen Individualität, gleich viel Bedeutung wie derjenigen von Anderen beimessen soll (mit der jeweiligen persönlichen Verantwortung, die sich davon ableitet); im Positiven wie im Negativen.

Von der Erneuerungsfähigkeit

Wenn zwar die Methoden und Projekte, mit dem Wandel der sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen, verändert und an die neue Situation anpasst werden müssen, so denke ich, dass die anarchistischen Prinzipien noch immer genauso gelten. Wir müssen also nicht die Prinzipien fallen lassen, sondern vielmehr fähig sein, die Methoden zu aktualisieren.Weiterhin in Theorien zu wühlen, die von den Ereignissen überholt wurden, wird uns nicht weiterbringen. Schlimmer noch, indem wir erneut vergangene Methodologien vorschlagen, riskieren wir, die Dynamik der Realität nicht mehr zu sehen.

Wenn wir um uns schauen, scheint die lange Zeit des Rückzugs, des sozialen Friedens, der einen Teil des Westens umschloss, endgültig vorbei. Die soziale Spannung lässt die Straßen auf unterschiedliche Art und Weisen aufflammen und die „Kluft“, die die Reichen von den Armen trennt, verbreitert sich mit jedem Monat. In einem solchen Kontext erscheinen die Möglichkeiten zur Subversion wieder an der Tagesordnung.

Wir müssen verstehen, dass die neue Zeit, die sich vor uns auftut, nicht die Neuformulierung der Vergangenheit des Krieges zwischen zwei Klassen ist, und dies auch nicht mehr sein kann. Zumindest im Westen. Allzu viele Dinge haben sich verändert, die sozialen Mechanismen und Dynamiken unterscheiden sich heute grundlegend von jenen des 19. Jahrhunderts. Und ebenso wie die Wirklichkeit anders ist, so muss auch die revolutionäre Intervention anders werden.

Die foquistische Illusion der Guerilla kann sich nicht mehr entwickeln, da es kein komplizenhaftes soziales Gewebe mehr gibt, das bereit wäre, sie in Empfang zu nehmen; die Avantgarde führt nichts an, weil es kein politisches Subjekt wie die Arbeiterklasse mehr gibt (und wahrscheinlich nie gegeben hat), das eine historische Aufgabe zu erfüllen hat, und auch keine „bewussten Massen“, die bereit wären, dem gemeinsamen Ziel zu folgen. Die Addition Agitation-Insurrektion-Revolution versteht sich nicht mehr von selbst, da die überall verbreitete Entfremdung diesem Weg nur schwer erlauben wird, sich aufzutun, und da sowieso die revolutionären Hypothesen aus dem internationalen Panorama verschwunden sind.

Der Weg, den es zu finden gilt, muss ein anderer sein, er bleibt noch zu zeichnen.

Vom Frieden und vom Krieg

Ausgehend vom europäischen Kontext eines “sozialen Friedens” während der letzten Jahrzehnte, kann man verstehen, dass es logisch war, die Agitation auf die Intervention gegen die noch verbleibenden empfindlichen Ziele auszurichten. Die “anarchistische insurrektionalistische” Logik richtete ihre Aufmerksamkeit auf Projekte der Herrschaft, deren Schädlichkeit (Militärbasis, Kernkraftwerk, etc.) zumindest noch die Gemüter jener erhitzte, die von den Konsequenzen direkt betroffen waren. Auch heute mag diese Argumentation noch immer gültig sein, und sei es nur, weil sich die Projekte der Herrschaft immer weiter ausbreiten und immer schädlicher werden. Dem ließe sich anfügen, dass sich die Unzufriedenheit der Bevölkerungen bei vielen Gelegenheiten (in bestimmten Ländern) deutlicher zeigt als in der Vergangenheit. Und dem ist so, solange wir auf der „Ebene eines bestimmten Gebiets“ argumentieren. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit aber auf die makro-soziale Ebene richten, werden wir erkennen, dass der Großteil der Manifestierungen der Konfliktualität nicht mehr gegen dieses oder jenes Projekt ausgerichtet ist, sondern für die Rettung von Lebensbedingungen, die alle Aspekte des Alltags beinhaltet. Wenn sich in einigen Ländern, wie etwa in Italien oder Frankreich, mehr oder weniger informelle Komitees und Versammlungen bemerkbar machen, die dafür kämpfen, dieses oder jenes Bauprojekt zu stoppen, könnte man sich heute also wünschen, dass die anarchistische Intervention eher darauf abzielt, die Achse von einem „konservativen“ und oft „linken“ Protest in Richtung einer Intervention insurrektioneller Art zu verschieben. Doch so wertvoll eine solche Intervention auch sein mag, und zugegeben, dass sie funktionieren könnte, so können wir uns jedoch eine mögliche Ansteckung auf ein breiteres Territorium und auf andere Bevölkerungsschichten nur schwer vorstellen.

Die Dissensformen, die sich heute verbreiten, sind Aufruhre, Wutexplosionen, die nicht das Bewusstsein des alten insurrektionellen Moments in sich tragen, sondern im Negativen die Verärgerung über die Gesamtheit des Bestehenden bekräftigen.

Der moderne Aufruhr ist gleichzeitig die Kritik und die Bestätigung der totalisierenden Formen der Herrschaft. Er ist ihre Kritik, weil er sich nicht mit einem einzelnen Aspekt zufrieden gibt und stattdessen eine generalisierte Wut und Verzweiflung ausdrückt, die nicht an eine bestimmte soziale Bedingung gebunden sind, sondern an die soziale Bedingung; er ist gleichzeitig ihre Bestätigung, weil er in seiner Perspektivenlosigkeit, in seiner Unfähigkeit, sich eine Alternative zu dieser Welt vorzustellen, von der Entfremdung und vom emotionalen und psychologischen Einfluss zeugt, bei dem die technologische und industrielle Gesellschaft angelangt ist.

In dieser Situation kann die Wut nur schwerlich auf „klassische“, demokratische Weise rekuperiert werden, schlicht, weil es keine Forderungen mehr gibt, die vermittelt und verdünnt werden könnten. Die Wutexplosionen lassen keinen Platz für einen vernünftigen Dialog, lassen keinen Platz für Aufrufe zur Verständigung. Das könnte alles positiv betrachtet werden, doch es gibt auch eine Kehrseite: die Wut kann zwar nicht erstickt werden, sie kann aber genährt und kanalisiert werden. Und dies ist, was die Macht in gewissen Ländern am tun ist. Sie sucht nicht mehr nach sozialem Frieden, sondern, in einer Welt, in der der Friede nicht mehr möglich ist, nach Krieg: eine Spannung, die von der Macht gesteuert und genährt wird, ein Konflikt, der die Armen gegen die Armen ausspielt, den Inländer gegen den Ausländer, den Arbeiter gegen den Arbeitslosen, usw..

Ich will nicht übertreiben oder pessimistisch wirken, aber es scheint, als wäre dies das Zukunftsszenario, dem wir entgegenblicken müssen – wenn wir uns nicht schon darin befinden – und in dem es zu agieren gilt.

Vom Neuen, das auf sich warten lässt

Die insurrektionelle Intervention, wie wir sie vorhin beschrieben haben, und die Hypothese der Insurrektion, die sich davon ableitet, können mittlerweile nicht mehr als Vorstufe eines bewussten Aufruhrs und als Versuche zur Verbreitung einer „freiheitlichen“ Methode betrachtet werden. Die modernen Unruhen kommen dem sichtbaren Ausdruck von Dissens oft zuvor und verwenden jedes Mal andere Methoden und Codes, die manchmal unverständlich scheinen, eben weil sie nicht rational sind, weil sie nicht politisch sind.

Im „Modell“ der anarchistischen Insurrektion trug die Art zu handeln und sich zu verhalten ihr eigenes Ziel bereits in sich: durch die Selbstorganisation, den Vorrang der Ethik vor der Strategie, das Ziel, das niemals alle Mittel rechtfertigen kann, ließ sich die revolutionäre Möglichkeit, die künftige Gesellschaft bereits erahnen, die jeder in seinem Herzen trägt. In Unruhen, in generalisierten Wutexplosionen gibt es sicher eine destruktive Ladung, doch in ihrem Mangel an Perspektiven, an Träumen, findet die Macht den Spielraum, um den sozialen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln.

Zu denken, dass es möglich ist, diese Lücke kurzfristig zu füllen, ist utopisch, ebenso wie das Finden von Notausgängen (von revolutionären Hypothesen) aus der „technologischen und kapitalistischen Erpressung“ (angesichts des erreichten Ausmaßes des Eindringens) eine schwierige Aufgabe ist. Ich denke, dass die Notwendigkeit der Zerstörung dieses gesellschaftlichen Modells für viele offensichtlich ist, während hingegen die Frage, wie wir das erreichen können und ob dies noch immer möglich ist, ohne die Menschheit zur Auslöschung zu verdammen, bestimmt einiges nebelhafter ist. Man kann nämlich nicht gedenken, die Atomkraftwerke zu zerstören. Ein anderes Beispiel: es ist nicht selbstverständlich, dass die Millionen von (entfremdeten) Menschen, die heute konzentriert in Metropolen leben, völlig und existentiell abhängig vom technologischen und logistischen Apparat (Wasser, Energie, Lebensmittelverteilung, medizinische Versorgung), innert einiger Monaten oder selbst einiger Jahren anders leben könnten.

Wir müssen von dem ausgehen, was wir vor unseren Augen haben, und nicht von dem, was wir gerne hätten, oder davon, wie es vor langer Zeit war, wie wir es in Büchern gelesen haben. Das Risiko, dass die Unruhen, die sich immer mehr verbreiten, weiterhin an ihrem eigenen Mangel an Perspektiven anstoßen werden, ist mehr als ein Risiko: es ist eine Gewissheit. Dass sie schließlich – von der Macht ausgerichtet – die Barbarei und den Bürgerkrieg nähren werden, ist eine Möglichkeit, die tragisch aktuell ist.

Die Idee eines Übergangs von der Insurrektion zum revolutionären Moment liegt also immer weiter weg. Darüber nachzudenken, was um uns herum passiert (in den Banlieus, den Wutexplosionen, den Unruhen, die immer unterschiedlich und mehr oder weniger gewaltsam sind, der wachsenden „Proletarisierung“ oder „Sub-Proletarisierung“ der ehemaligen Mittelklasse mit ihren jeweiligen Widerständigkeiten), bedeutet, fähig zu sein, wieder eine revolutionäre Hypothese zu denken, ohne den „klassisch insurrektionellen“ Übergang, ohne die Präsenz einer bestimmten politischen Subjektivität, ohne die Existenz eines Sinns für Klassenzugehörigkeit.

Wenn wir uns Bewusst halten, dass sich die insurrektionellen Hypothesen in einem bestimmten historischen Kontext nach der Revolution ausrichteten, dann lautet die Frage, die ich mir stelle: Welche Handlungshypothesen können wir heute, in der gegenwärtigen historischen Situation, ausgehend von den Formen der aktuellen Konfliktualität ausarbeiten, um zum selben Ziel zu gelangen: der sozialen Revolution?

Wenn wir die Positivität des unmittelbar zerstörerischen Aspekts beiseite lassen, sind die heutigen Unruhen neutral, in dem Sinne, dass sie (wenn man dem Faden unserer Argumentation folgt) potenziell ebenso gut revolutionär wie reaktionär sein können. Es versteht sich also von selbst, dass wir hier vor einer historischen Neuheit in der Theorie stehen, vor einem Aspekt der sozialen Frage, den „der Insurrektionalismus“ nicht in Betracht ziehen konnte.

Die notwendige Anstrengung liegt also darin: neue Methodologien in Gang zu bringen, um wieder eine Intervention zu erschaffen, die der Konkretisierung eines revolutionären Prozesses neuen Raum geben kann.

[1] Ideologische Verherrlichung des bewaffneten Kampfes.

[2] Im italienischen Kontext, aus dem dieser Text stammt, ist der Begriff Insurrektionist in den Medien geläufig.