Titel: Über die individuelle Verantwortlichkeit
AutorIn: A Corps Perdu
Datum: Dezember 2008
Bemerkungen: Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 1, Mai 2009.

Unsere Gesten, unsere Aktionen, unsere Parolen tragen in sich die Welt, die wir in unserem Herzen haben. Eine andere Welt als diese hier, einen Ort, wo – ein bisschen Rhetorik gebrauchend – die Freiheit eines jeden sich mit derjenigen der anderen bis ins Unendliche erstreckt. Kein irdisches Paradies, nicht «die Utopie» eines Lebens, das a priori von den Gewalttätigkeiten oder den menschlichen Widersprüchen befreit ist, und noch weniger eine Masse von Gleichen.

Die Gesellschaft der Individuen: Dies ist, was wir wollen, und für sie werden wir weiterhin kämpfen.


Und «im Namen» der Freiheit eines jeden einzelnen Menschen, jenseits jeder anderen Kategorisierung, sind wir weiterhin der Meinung, dass Heute bereits ein Stück von Morgen ist. Denn, abgesehen von den mehr oder weniger realen Möglichkeiten, eines Tages zu erleben, wie die Situation dieses Planeten umgestürzt wird, kann die Gesellschaft, die wir begehren, sich in der Gegenwart schon abzeichnen; in der Realität der Konfrontation, in der Kohärenz zwischen den Mitteln, die wir im Krieg gegen den Staat gebrauchen, und den Zwecken der erwünschten Emanzipation.

Gewiss, in einer Gesellschaft, in der die Macht täglich ihren Saft aus der verzehrenden Entfremdung zieht, wo die Kontrolle (durch die permanenten technologischen und wissenschaftlichen Neuerungen) jeden Aspekt des Alltags erstickt, in dem sie fortan jegliche Möglichkeit eines «Entziehens» negiert, scheint es schwierig, der Erpressung zu entkommen, die die Logik der Resignation des (zivilen oder militärischen) Krieges gegenüberstellt. Schwieriger noch scheint es, einen Weg der Desertation zu finden, um als «Partisanen» und nicht als Soldaten zu kämpfen, als freie Individuen, die sich den Massen widersetzen, welche sich weiden an den Massakern oder der Sklaverei.

Es ist schwierig, doch es ist nicht unmöglich. Zumindest beharren wir darauf es glauben zu wollen; denn genau so wie kein Schiff aus wurmstichigen Planken gebaut werden kann – auch wenn sie billig und einfach zu finden sind –, so kann auch keine Freiheit aus der Autorität, aus ihren Mitteln und ihrer Logik geboren werden.

Genauso, wie wir uns immer geweigert haben, an den militärischen Kriegen teilzunehmen, gilt es gegenwärtig, mit noch mehr Kraft, zu desertieren und den Bürgerkrieg zu bekämpfen.

Die Armeen, jeglicher Art, sind die Verneinung des Individuums. An sich ist jeder Soldat (mit oder ohne Uniform) – potentiell – ein Terrorist: Und zwar von dem Moment an, wo er nicht sich, sondern sein eigenes Lager einem anderen gegenüberstellt. Die «Massen», die «Rassen», die «Nationen», «das Volk», «die Klasse»: Dies sind die Wörter, durch die man das Verweigern seiner eigenen Freiheit und seiner eigenen Einzigartigkeit benennt, dies sind die Wörter, durch welche der Mensch aufhört ein solcher zu sein und zum Soldaten wird.

Es ist nicht die «Sache», die sich von den anderen unterscheidet und wofür man kämpft, das ein menschliches Wesen dazu bringt Terrorist oder Soldat zu «werden», sondern ganz im Gegenteil: Die gegenseitige Kommunion der verschiedenen anwesenden Lager in einer einzigen Ideologie: Jene, die jegliche individuelle Verantwortlichkeit im Namen der Heiligkeit einer renommierten, übergeordneten Sache negiert.

Der Soldat gewordene Mensch erkennt sich selbst nicht mehr als individuelles Wesen, sondern als Teil von etwas Grösserem (ein Volk, eine Armee, eine Religion, eine Klasse), wofür er auch dementsprechend handelt. Ihr stehen – unter ihren Angriffen, ihren Bomben, ihren Parolen – nicht einzelne Wesen, jedes mit unterschiedlichen und besonderen Verantwortlichkeiten, sondern anonyme Massen gegenüber, entmenschlicht und entwertet. In einem Wort: Feinde.

Es ist also nicht der Akt an sich, der den Menschen in einen «Soldaten» verwandelt, sondern vielmehr der Mechanismus, die Ideologie. Selbst die scheinbare Richtigkeit oder Berechtigung einer «Sache» – die uns auf den ersten Blick «sympathisch» erscheint – kann sich, etwas aufmerksamer betrachtet, als offensichtlich reaktionär herausstellen. Weil sie auf der Nichtanerkennung des Individuums basiert, weil sie nicht die Verantwortlichkeiten eines jeden berücksichtigt, weil sie vermassend ist.

Die Freiheit (oder das Wohl) des Volkes (oder schlimmer eines Volkes) ist ein abstraktes Konzept, bedeutet absolut nichts im Bezug auf die Realität. Sagen wir, es ist ein simpler rhetorischer Kunstgriff, mit welchem die Politik den Deppen, die bereit sind es zu glauben, das Grab schaufelt. Die Freiheit gehört dem Menschen als Singularität, ohne irgend eine andere Anfügung oder Ausnahme.

Und jedes Individuum hat, im Namen eben dieser Freiheit, seine eigene Verantwortlichkeit, sein eigenes Handlungsvermögen, seine eigene Fähigkeit zu denken. Im guten wie im schlechten Sinne. Jegliche Voraussetzung, die dieses Prinzip negiert, trägt einen freiheitstötenden Charakter in sich, präpariert die Erhaltung einer auf Autorität und Politik basierenden Gesellschaft, und ermöglicht die Rechtfertigung und das Vergeben eines jeden Massakers.

Diese, als «politisches Subjekt» und gegen andere «politische Subjekte» im Namen der Freiheit durchgeführten Handlungen, werden immer innerhalb der Politik und der Logik des Krieges bleiben.

Ein junger Palästinenser zum Beispiel, Mitglied einer nationalistischen Organisation, der ein Massaker an Soldaten oder Zivilisten verübt, bleibt innerhalb eben dieser ideologischen Dimension: Die individuellen Verantwortlichkeiten zählen nicht, denn die Israelis, alle Israelis, sind Feinde. Denn das, was zählt, ungeachtet der Bedeutung der Verantwortlichkeit eines jeden der Menschen, die er getötet hat, ist die gegnerische Autorität zu treffen, ist der Druck, der auf die feindlichen Mächte ausgeübt wird. Im Namen des Sieges… rechtfertigt das Ziel jedes Mittel.

Dieser Linie folgend, wenn auch nicht so strikte, gilt der selbe Gedankengang – mit kleinen Unterschieden im Gebrauch – für die islamistischen Organisationen angesichts der «Westmächte», für «unsere» Soldaten im Auslandeinsatz angesichts der «gefährlichen Barbaren, die unsere Zivilisation bedrohen», für die ETA und Konsorten angesichts gewisser Regierungen. Und warum nicht, für viele Revolutionäre angesichts der Bourgeoisie.

Das sind nur einige Beispiele unter den eklatantesten, die wir nicht nennen, um die Geister der Wütenden dieser Welt auszulöschen, sondern um zu verhindern, dass sich die Flammen weiter in Richtung des Bürgerkrieges entwickeln.

Denn leider haben wir schon oft in der Geschichte gesehen, wie «die Feuer» den Möglichkeiten zur Befreiung den Sauerstoff verbrannten.

Klar und deutlich ausgedrückt: Noch nie war es so notwendig wie jetzt, anzugreifen. Aber anzugreifen bedeutet, die Verantwortung für das, was man tut, als Individuum zu übernehmen. Unsere Verantwortlichkeit und die beim Gegner zu erkennen. Dies bedeutet, dass sich jeder Mensch die Konsequenzen von dem, wofür er sich entscheidet, und dem, was er tut, zu seinen eigenen machen muss, ohne sich dabei in ein «politisches Subjekt» zu verwandeln.

Wir, als Individuen, wir kämpfen für die Bekräftigung des Individuums und gegen Individuen: wir schiessen nicht auf «Uniformen», sondern auf Menschen, wir schlagen nicht die Bourgeoisie, sondern Menschen, wir greifen nicht die Ideologien an, sondern Menschen. Wenn wir wollen, dass der Mensch frei ist, müssen wir die Menschlichkeit und die Einzigartigkeit selbst in den schlimmsten Feinden erkennen. Totalitäre Prozesse waren seit jeher auf der Entmenschlichung des Gegners gegründet. Nun sollte es jedoch offensichtlich sein – allein die jüngste Vergangenheit in Erinnerung behaltend und die tragische Gegenwart betrachtend – dass wir den entgegengesetzten Weg versuchen müssen.

Ein Weg, der fähig ist, jegliche Ideologien und jegliche politische Berechnung hinter sich zu lassen, ist ein Weg, der schwierig zu begehen ist, der jedoch – falls man den Mut dazu hat – tausende Möglichkeiten eröffnen kann. Gewiss, es braucht Mut, sich als Waise der Hypothesen und Perspektiven in einer Welt wiederzufinden, die immer schwieriger zu verstehen ist. Es wäre einfacher, innerhalb der Logik der «Kategorien», der Lager für die am wenigsten Überholten unter den Subjekten fortzufahren, ohne den Mechanismus und die Dynamik in ihrer Gesamtheit zu verstehen.

Die Sache ist, dass diese Abwesenheit, diese Leere, an sich keine Grenzen kennt. Die Bejahung der individuellen Verantwortlichkeit öffnet den «Waisen» das Feld der Möglichkeiten revolutionärer Interventionen. Die Individualität und Menschlichkeit des Unterdrückers und des Ausbeuters zu erkennen, begrenzt weder die Kritik noch die Aktionen, sondern erhöht – sich die ganze Komplexität der Verantwortlichkeiten und der sozialen Rollen präsent haltend – ihr offensives Potential.

Solange das Individuum eine Möglichkeit zur Wahl hat – wie minimal sie angesichts des Existierenden auch sein mag –, befreit die Tatsache, eine bestimmte Unterdrückungsfunktion innerhalb des sozialen Mechanismus zu akzeptieren, dieses nicht von seinen eigenen Handlungen, sondern macht es widerlicher in seiner Menschlichkeit und für seine Menschlichkeit selbst.

Die klare Einschätzung der individuellen Verantwortlichkeit wird folglich zur Waffe. Eine Waffe, die, geladen mit dem Bewusstsein über den sozialen Mechanismus, Schüsse der Kritik und der Praktik lösen kann, ohne im Sumpf der Ohnmacht und der Verherrlichung stecken zu bleiben.

Die Macht benötigt keine weiteren Lobredner der Gewalt: Diese Funktion erfüllt sie sehr gut ganz alleine. Die Menschen töten und revoltieren mit uns oder trotz uns, die Frage ist einzig, warum sie es tun.

Tötungsakte, Handlungen, die einem menschlichen Wesen Schmerzen bereiten, sind – zumindest für den Autor – immer etwas Unangenehmes und Hässliches, gerade weil sie wesentlich ganz klar autoritär sind. Wenn, auf dem Weg der Revolte gegen diese Gesellschaft des Missbrauchs jeglicher Art, derartige Handlungen vollzogen werden müssen (und es scheint mir offensichtlich, dass die Mächtigen nicht freiwillig von ihren Privilegien ablassen), müssen diese Handlungen zumindest offen und klar mit dem Grund, dem Traum, dem Ziel, die die Handlung motivieren, in Verbindung gebracht werden.

Wenn diese Handlungen, diese Gesten der Wütenden [enragés], etwas waren oder schlussendlich gewesen sind, das die Freiheit anstrebt, wenn sie in sich das Ziel, das Warum getragen haben oder tragen wollten, dann ist es klar, dass die ganze Debatte über die «Legitimität» der Gewalt beendet werden kann. Die Intentionen der Politiker (professionelle oder von der Bewegung), genauso wie die Leere des Scheissegal-ich-bin-wütend, sollten deutlich geworden sein. Um zusammen zu fassen; der wesentliche Unterschied zwischen der Gewalt, die die Freiheit anstrebt, und der Gewalt, die zur Autorität tendiert, tritt klar hervor.

In dieser «utopischen» Vision, könnten die Debatten über das Wie-machen, über die Beispielhaftigkeit, über den historischen Anspruch, über den zu wählenden Weg, zu einer ungetrübten Ergründung der Fehler der Vergangenheit und der Möglichkeiten – dank den vorherigen Fehlern – der Zukunft führen.

Wieso im Kreise der libertären und anarchistischen «Bewegung» über die Äusserungen von Emile Henry debattieren (wie wir es mit dieser Zeitschrift tun)? Warum noch immer diese falsche Schmährede zwischen jenen ertragen, die in einer vergangenen Handlung «den Sinn als revolutionäre Handlung» – in ideologischer Weise – sehen wollen und jenen, die sie – auf politische Weise – diskreditieren, weil sie hinderlich ist?

Um deutlich zu sein: Bomben gegen «eine Kategorie» können den Hass gegen eine Welt, eine Gesellschaft, gegen soziale Verantwortlichkeiten ausdrücken. Aber mit einer äusserst groben soziologischen Analyse. Sie können jedoch nicht die spezifischen Verantwortlichkeiten der Individuen ausdrücken: Der neureiche Banker, die Haushaltshilfe, der Arschkriecher der Bosse, der Bedienende, der strebsame Angestellte, der «gut eingerichtete und zufriedengestellte» Sekretär etc. etc. Sie können nicht alle in den selben Sack gesteckt werden.

Robespierre ist tot und es besteht keinerlei Sinn darin, ihn wieder auszugraben. Die Blindheit, die zum Tode «verurteilt», jene, die auf die Bourgeoise abzielend – und die Sklaven vergessend – «in die Menge schlägt», ist folglich uninteressant. Sie ist vorallem erfüllt mit Hass.

Man kann die Leidenschaften, den Hass, die Erwartungen, den Groll der zahlreichen Emile Henrys, die diese verachtliche Gesellschaft haben erzittern lassen und bedrängt haben, verstehen, aber man kann sie nicht verherrlichen – heute weniger denn je.

Die Emile Henrys, die diese Gesellschaft bevölkert haben und bevölkern, sind oft «sympathisch», sensibel, intelligent, gute Schreiber und mutige Personen, aber all das kann uns nicht das Grundprinzip vergessen lassen, gemäss dem man jedem seine eigene Verantwortlichkeit anerkennt. Es ist absolut inakzeptabel, dass ein einziges Leben im Namen der Aktion oder der Sache geopfert werden soll. In dem Fall verliert die Sache – wenn es um jene für die Freiheit geht – jeglichen Wert, dann, wenn eine Abstufung der Verantwortlichkeit nicht erkannt wird, dann, wenn sie in der Aktion das militaristische Prinzip mit sich bringt, jenes des «in die Menge schlagens».

Und in die Menge schlagen, um es noch klarer auszudrücken, bedeutet nicht bloss zahlreiche Personen zu töten oder zu verletzen. Es bedeutet, Berechnungen über die Anzahl Opfer anzustellen, indem man unterteilt zwischen denen, die für ihre reale Verantwortlichkeit getroffen werden, und denen, die durch «Kollateralschaden» (um auf ein modisches militärisches Vokabular zurückzugreifen) getroffen wurden. Es bedeutet, die Existenz der Individuen im Namen der Politik zu vergessen.

Man kann die Handlung des «in die Menge schlagens», umschreiben als die Tatsache vorzusehen, jemanden, auch wenn es eine Person ist, die keine spezifische Verantwortung trägt, absichtlich zu verletzten. Kehren wir zu unserem historischen Beispiel zurück: Es stimmt nicht, dass Emile Henry in «die Menge der Bourgeoise geschlagen» hat, und zwar aufgrund der simplen Tatsache, dass im Innern des Lokals, das er in die Luft sprengte, ganz klar eine gewisse Anzahl Personen anwesend waren, die nichts mit den Verantwortlichkeiten zu tun hatten, die der Anarchist angreiffen wollte. Emile Henry hat also «in die Menge geschlagen» und damit basta.

Wir wollen hiermit nicht einen Aspekt der anarchistischen Geschichte verleugnen, uns in Ideen von den Tragödien der Bewegung absondern. Jedoch liegt es auch nicht in unserem Interesse, alles was «anarchistisch» ist zu verherrlichen, «unsere» Vergangenheit unkritisch zu betrachten und eine polemische und sterile Geschichte zu schreiben.

Das Wichtige, das diese Zeilen zur Diskussion zu stellen versuchen, ist die Beziehung zwischen Geschichte und einer bestimmten Art ideologischer Konstruktion, die wir, in einem revolutionären Sinne, als Gefahr wahrnehmen.

Wenn der Bürgerkrieg, wie wir schon sagten, sich über den ganzen Planeten am ausbreiten ist, geladen mit Barbarei, dann wird es für uns unvermeidlich, die Charakteristiken eines solchen Krieges zu betonen, seine historischen und ideologischen Gründe sowie die tiefgründigen kulturellen und politischen Wurzeln, die überall auf der Welt ihren Ursprung in den wahnsinnigen Praktiken der Menschen im Krieg finden.

Das Begreifen der leider nicht allzu offensichtlichen Voraussetzung, dass jede Form von Terrorismus uns einzig in die entgegengesetzte Richtung einer Bekräftigung unserer Individualität führt, wird zentral zu Zeiten des Krieges. Eine prinzipielle Behauptung also, zum Schluss dieses Textes ohne Konklusion. Und hoffentlich der Anfang einer Debatte, die heute dringender ist denn je.