Titel: Anarchie
Datum: 1919
Quelle: Teilweise entnommen aus: Vom Wesen der Anarchie & Vom Verwesen verschiedener Wirklichkeiten. Karin Kramer Verlag Berlin 1989
Bemerkungen: Anmerkung im Original: Hans Schmidt zugeeignet. Original: Theodor Plievier, Anarchie. Die Zwölf-Schriften, Weimar. Verlag der Zwölf.

In der Himmelsrichtung des flammenden Morgenrotes, über den Weiten slawischer Felder und Steppen, über dem Rußland des Sowjets, dem Lande Lenins, Trotzkis und den Millionen und Abermillionen urwüchsiger Naturmenschen, aus der Mitte hartfäustiger, kulturloser Bauern und Arbeiter, aus dem Schoße barbarisch gesunden, zukunftsschwangeren Volkskörpers: aus der Erde verwachsener Urkraft heraus steigt der letzte Tag des alten Europa, dämmert der Untergang einer Weltepoche.

Die gewaltige Explosion mündig gewordenen Volksgeistes hatte den Zarenthron, diese Gewalt- und Willkürherrschaft der russischen Dekadenz über die breite Masse des Volkes, gesprengt. Achtzehn Monde später stürzten kriegsmüde Soldaten das deutsche Imperium. Und unter den Rechentischen französischen Kapitalisten-Regimes, unter dem schädelgetürmten Sklaventhron des weltgebietenden Old-England schwelt bolschewistischer Zunder.

Die kommunistischen Wellen, die von Osten nach Westen laufen, die über widerstrebenden reaktionären Blöcken zu mächtigen Schaumkaskaden aufsteigen, die im Sowjet Ungarns, in der Proklamation der Räterepublik in Bayern, in politischen Streiks in England und Deutschland, in Kundgebungen französischer Sozialisten und in Straßenkämpfen in italienischen Städten zu prophetischem Wetterleuchten aufflammen, diese Sturmwellen des Kommunismus brausen das Sterbelied des alten Europa — und das Zeugepräludium einer neuen Weltepoche.

Die extremen Spitzen des Sozialismus künden das Ende der alten Zeit; Spartakisten und Bolschewisten trommeln ihr den Totenwirbel. Sie sind die letzte Konsequenz der materialistischen Zeitepoche: Urkraft losgebrochener Sklaven gegen Gewalt der Unterdrücker, Gewalt gegen Gewalt — doppelmörderischer Ringkampf — Ende.

Spartakismus und Bolschewismus sind die Feuer, die die alte Ordnung aufbrennen, aber Feuer, die in diesem Tun sich selbst aufzehren. Spartakist sein heißt Vernichter — aber auch Selbstvernichter sein.

Der Zusammenprall des Kapitalismus mit dem Sozialismus hat das Aggressive, Fieberhafte, Besinnungslose, Selbstmörderische des Zeugeaktes. Kapitalismus und Sozialismus, diese mächtigsten Strömungen, diese ausgewachsensten Kinder der materialistischen Weltepoche, zeugen in gewaltiger Umarmung, in der Entladung hochgespannter Gegensätze das neue Zeitalter.

Kapitalismus und Sozialismus sind die Gegenpole eines Sklavensystems; innerhalb ihrer Grenzen hängt die Welt der Moderne: dröhnen Fabriken, frohnen Lohnsklaven, erstehen Paläste, sterben Menschen im Straßengraben, läuten Kirchenglocken, üben Soldaten Mord und Brandstiftung, feilschen Börsenjuden, hungern Völker, branden Demonstrationen zermürbter Arbeitsmenschen.

Diese widerstrebenden Elemente drängen, stoßen, reiben, erhitzen, entzünden einander, steigern die Welt hinein in rasendes Fieber. Die Berührung der Extreme, das Aufeinanderprallen der äußersten Kulturspitzen, bringt die Welt zur Explosion —: die Weltrevolution.

In den aufflammenden Feuern der kommenden Umwälzungen zerschlägt sich der Kulturglobus „Kapital-Arbeit", zerstäubt die Welt der Herren und Knechte.

Und stärker und bestimmter tönt die Urmelodie ewigen Neuwerdens durch die Hirne der europäischen Massen. Es ist der Glaube an das Ich, die aus der Tiefe persönlichen Lebens aufsteigende Urreligion der Menschheit: der Individualismus.

Aktiengesellschaften, Trusts, Armeen, Kriegsflotten, Kirchen, Kommunen, Staaten zerschellen an dem kampfgehärteten Willen bewusst gewordener Einzelmenschen. Nur Trümmer und Reste bleiben von den stolzen Organisationen der Materie: Das Chaos eines neuen „Es werde Licht!"


Kommunismus ist die Parole der Gegenwart. Solidarität, Sozialisierung, Schutz der Schwachen sind die blendenden Schlagworte, die Kristallisierungskerne, die immer größere, immer gewaltigere Menschenmassen um sich zusammenballen. Die Zeit seelenloser Mechanik und Technik, das Zeitalter der Herrschaft der Materie über den Geist feiert seinen höchsten Triumph. Der ebene Geist der Herde regiert und bestimmt alle Einzelheiten öffentlichen Lebens. Masseninstinkte sind die Diktatoren dieser Verfallzeit der kapitalistischen Weltepoche…

…der Verfallzeit, denn der Untergang dieser Weltepoche ist nahe. Kommunismus ist die letzte Konsequenz des Herden zeugenden Kapitalismus. Geboren ist der kommunistische Gedanke in der Stickluftsphäre bleicher Fabriksklaven, gewachsen in dumpfen Schiffsdecks und Kasernenstuben und ausgereift zu seiner ganzen Größe und Breite in dem Herdenelend des Krieges.

Die Völker Europas haben die Stimme des Weisen aus der syrischen Wüste verloren; sie, die ihre ganze Kultur mit dem Namen jenes Denkers gestempelt hatten, hatten ihn selbst vergessen… verraten.

Göttlich haben sie ihn gesprochen, haben alles Menschliche von ihm abgerissen; sie haben ihn losgelöst von den Blüten, den wogenden Kornfeldern und dem warmen Duft dieser Erde und ihn hineingesetzt in den kalten Himmel eines Abstraktums. Dem, der ihnen gelehrt hat: „Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein..." Diesem schlichten Menschen haben sie Tempel gesetzt, die in hohe Wolken hineinragen, und seine Lehre, die aus nagenden Dichterschmerzen, aus den liefen seines Dulderlebens gequollen war, die ewig wahr, ewig lebendig ist — diese seine Seele verscharrten sie hinter den Grabmauern ihrer Kirchen, überantworteten sie den Totengräberhänden ihrer Priester.

Das Größte seiner Lehre, die Mahnungen zur Einfachheit und Schlichtheit, haben sie in den Staub getreten und haben anstatt dessen den Götzen: Macht; Gewalt, unersättlicher Gier Throne getürmt.

Europa hat nicht das Schießpulver erfunden, aber es hat das Untermenschentum gezüchtet, das durch die Macht des Feuers Völker versklavt und Furchen in das Antlitz der Erde gerissen hat. Europa hat keine fremden Völker gespeist, aber es hat die Früchte von fremden Erdteilen in Kisten verpackt und in Ballen gepreßt; es hat alle Schönheit dieser Erde in Handelsgüter umgewertet und in seinen eigenen Bau geschleift. Es hat den Bauch der Erde aufgerissen, hat Kohlen gefördert und Erze, hat Fabriken gebaut, Maschinen, Luftschiffe und Kanonen.

Die Europäer haben gearbeitet, bis sie im weißen Licht ihrer Bogenlampen zusammenbrachen, sie sind von Rekord zu Rekord gesprungen, haben Erobererheere durch ferne Länder geführt: sie haben die ganze Erde erobert und haben dabei sich selbst verloren.

Über dem Boden des niedergetretenen: "Was nützte es dir, so du die ganze Welt gewönnest und nähmest doch Schaden an Deiner Seele?", über den in den Staub getretenen Sprüchen ihres Gottes wirbelten sie einen wahnsinnigen Tanz um das goldene Kalb, opferten 375 Millionen Europäer dem Baal moderner Technik: der Maschinengewehr- und Telegrafenstangenkultur. Und die Gebilde von Stahl und Eisen, die toten Organisationen ihrer Gesellschaften und Staaten, saugten Lebenskraft aus den sie bedienenden Menschenleibern... fraßen Menschenseelen.

Nicht Einzelmenschen lebten in dem Europa der großen Organisationen, sondern Herden: Gesellschaftsklassen, Parteien, Kirchen, Industriehorden, Staaten. Der Einzelne war nicht in sich verankert, sein Leben und Weben wurde nicht aus dem Zentrum des eigenen Ich bestimmt – sondern die Partei verfügte über ihn, die Gesellschaft, die Kirche, der Staat.

In Europa, dem Erblande der Arier, gab es keine Menschen mehr, weder einzelne noch freie Glieder freigewählter Gemeinschaft, nur Mitglieder, Mitbrüder, Mitbürger. Der Einzelmensch war seelenloses Teil eines über ihm stehenden Ganzen: Baustein, Menschmaterie.

Aus diesem fügsamen, seelen- und verantwortungslosen Menschenmaterial, mit tausend und abertausend mechanischen Kräften, türmten die Völker Europas den Turmbau des abendländischen Babel, errichteten sie die Herrschaft der Nationen, die in maßloser Gier, in unersättlichem Machthunger, in freier Auslösung ihrer Raubtierinstinkte übereinander herfielen, um sich zu zerfleischen, die den Irrbau ihrer Ordnung einrissen — mit eigenen Händen die Totenfackel dieser Weltepoche entzündeten: den Krieg.

Kirchenglocken, Befehle und Alarmtrommeln riefen die europäischen Sklaven zu Kriegshorden zusammen. Herden lagen in den Gräben, Horden wälzten sich über Land, rollten über Schienenstraßen, zogen in stahlgepanzerten Schiffen über das Meer, Armeen lagen im Staub und Schlamm der Länder, Armeen hausten in wogenumspülten Kampfschiffen, Armeen schafften in Fabriken. Europa war ganz Kaserne, ganz Fabrik — und in seinem Hinter der Front- und Großstadtleben ganz Bordell geworden. Frankreich, England, Deutschland: drei Flaggen, drei Horden.

Wir lagen in dumpfen Schiffsdecks, in feuchten Erdlöchern, im Stroh der Kasernen und Viehwagen. Wir stießen, schossen, bissen um uns wie tollgewordene Hunde, sahen mit blutunterlaufenen Augen das Feuer jäher Schlachten, tranken den Verwesungsdunst hochgetürmter Leichenpyramiden. Wir versanken in einer Irrsinnsnacht blutiger Schrecken, taumelten willenlos hinein in das blutbesudelte Chaos des europäischen Gestern.

Wir! — Nicht Du, nicht ich! — Wir! Das Regiment! Die Armee! Das Volk! Die Menschheit!

Wir hatten keinen Willen, kein Wollen, keine Verantwortung. Über uns stand die Macht, die für uns dachte, die uns fütterte, bettete, Leiden und Strapazen auferlegte. Diese dämonische Macht jagte Abertausende ins Verderben, schmetterte Menschen nieder wie Schlachtochsen, warf Sturmwellen lebender Menschenleiber hinein in das Nichts…

…da wurde der Masse ein Wille, am Rande des Nichts, im Schatten des Todes wurde die Massenseele geboren: Kommunismus.

Kommunismus ist der geeinte Wille Geknechteter gegen die Faust der Unterdrücker. Das tausendjährige Reich der Kommunisten ist der gedeckte Tisch für alle (das allgemeine freie Weiderecht, Nietzsche), die ins Riesenhafte erweiterte Perspektive der alle speisenden Gulaschkanone.

Nicht freie einzelne, sondern die gleichen Herden, die auf ihren Rücken die Last der alten Ordnung getragen, sind die Grundfesten des Kommunismus. Nur emanzipiert haben diese Horden sich; sie haben sich freigemacht von der Herrschaft ihrer Generäle, Fabrikherren und Kirchenväter; sie haben das Papsttum der alten Ordnung gestürzt, haben dafür aber ein neues eingesetzt: Demokratie, Vergewaltigung des Individuums durch den platten Geist der Masse.

Unter kollektivistischer Gesellschaftsordnung bestimmt nicht der einzelne die Form seines Einzellebens; er wächst nicht aus dem Kern eigenen Wesens, steht nicht auf der Kraft eigener Persönlichkeit. Der Einzelmensch wird Durchschnitt, Schablone, Massenprodukt. Die demokratische Diktatur der Mehrheit über die Minderheit höher entwickelter Einzelmenschen ist geistiges Flachland. Das Ausscheiden des kräftesteigernden Lebenskampfes ist Stillstand.

In seinem revolutionären Drängen nach vorn, in der Emanzipation von den Mächten der alten Zeit ist Kommunismus eine Stufe zu dem Endziel der Menschheit; er ist das Bewußtwerden der Massen, die Mannwerdung der Völker.

Doch in der Verwirklichung seiner Ideale, im Niederlegen in fest umrissene, anerkannte Gesellschaftsformen ist Kommunismus Stillstand. Es gibt im Menschen mehr zu entwickeln als Solidaritätsgefühl; der Mensch hat höhere Ziele, wie die gefüllte gemeinsame Futterkrippe und jene geistigen Genüsse es sind, die der Geschmack der Masse ihm zuerteilen könnte. Der Blick in alle Geheimnisse, die Wege in die tiefsten Tiefen und in die höchsten Höhen des Lebens sind dem Menschen offen. Doch nur der aus dem Kern eigenen Wesens zu voller Höhe ausgewachsene Mensch ist befähigt, nach den hohen und höchsten Blüten dieser Erde zu greifen.–

Familie, Kaste, Nation, Kommune sind Verpuppungen, aus denen wir uns herausschälen müssen, sie sind Durchgang, Stufen zur Menschwerdung.

Wir hatten gelernt, die Interessen der Familie den breiteren des Standes und die Standesinteressen denen des Staates zu unterordnen. Wir haben den Staat in seiner autokratischen Form zerstört; wir erleben in den gegenwärtigen Umwälzungen das Selbständigwerden der Massen, sehen in der kommenden Weltrevolution das Freiwerden der Völker von den über ihnen stehenden Gewalten der Staatsherrschaft — und werden auch die Befreiung von der Volksherrschaft erleben, auch diesen letzten Spuk, den Geist der Kommune werden wir überwinden.

Noch flattern die Banner der kommunistischen Idee auf Straßenbarrikaden, noch geben unerschrockene Kämpfernaturen dem Kommunismus Bewegung und Lebenskraft; doch diese Männer, diese Brandfackeln hellodernden Fanatismusses werden erlöschen, werden eingehen an eigener Einseitigkeit. Nur wenige, nur die Ursprünglichen werden siegen; sie werden erkennen und weiterschreiten... bergan zu den einsamen Höhen des Individualismus, zur Freiheit des Individuums: zur Anarchie.


Anarchie! Herrschafslose Ordnung, aufgebaut auf der sittlichen Kraft freigewordener Einzelmenschen! Urreligion der Menschheit, Glaubensbekenntnis der Zukunft und der Zukünftigen!

Aufgestiegen ist der anarchistische Gedanke aus der Tiefe der Menschheit, aus weiten Steppen, dichten Wäldern, aus dem muskelstarken Arm des Urbarbaren, der mit einem Stein den Schädel des Grenzüberschreiters zertrümmerte. Macht des einzelnen gegen Macht des andern war der Anfang — die durch Sünden, Kriege und Irrungen vieler Jahrtausende geläuterte und zur Güte entwickelte Urkraft, Sittlichkeit gegen Sittlichkeit: Anarchie ist das Ziel der menschlichen Entwicklung.

Alle Höherentwicklung geht durch das Tor der Überwindung. Durch Überwindung der mir eingeborenen Trägheit zwinge ich meine Glieder und mein Hirn zur Arbeit, baue, erdenke, verdichte, schaffe mir höhere Daseinsformen. Durch Überwindung schlechter Gewohnheiten schaffe ich Raum für gute. Über die Kadaver niedergerungener, in den Staub gestampfter Laster gehe ich ein in den Himmel höheren Lebens…

…durch Schmutz zur Reinheit, durch Schwäche zur Kraft, durch die Untergangsnacht der kapitalistisch-sozialistischen Weltordnung zum flammenden Morgen der Anarchie, durch die Farblosigkeit des Kommunismus zur leuchtenden Klarheit des Einzelmenschentums!

Kraftüberschuß führt zur Güte, zu jener großen, wahren Güte, die allein Bindeglied zwischen Menschen sein kann, die die Grundfeste ist der anarchistischen Weltordnung. Diese Güte ist soweit entfernt von dem verfälschten landläufigen Journalistenbegriff des Wortes Güte, wie die Menschenliebe Christi von der Dekadenzliebe der modernen Christen, Pazifisten und Heilsarmeen…

... sie ist kristallisierte Kraft, eine vom Wissen um alle Bedürfnisse und Leiden der Menschheit durchleuchtete Energie.

Die von gütigem Geist Beseelten waren in den Untergangsepochen der Menschheit immer die Träger des neuen Lebens. Buddha ist die Lichtgestalt eines in ewiger Nacht versunkenen sagenhaften alten Indien. Durch die Untergangsnacht des Mittelmeerimperiums, durch die Verwesungsschleier des römischen Weltreichs mit seinen Schlemmereien, Saufgelagen, Prätorianergarden, Gladiatorenzirkussen, Bädern, Orgien leuchtet der einzige Geist eines Christus und wirkt Liebe durch zwei Jahrtausende…

…und aus dem Bankerott dieses jetzigen Zeitalters, aus dem aashungrigen Beutegeschrei der Spekulanten, Marktjuden, Generäle, Reklamezettel, Zeitungen, Anschlagsäulen, Gesetzbücher, aus dieser grellen, nervenpeitschenden Disharmonie steigen Stimmen der vergewaltigten Natur auf zum Himmel: Fanfarenschreie der neuen Zeit.

Stimmen aus dem fernen Osten vereinigen sich mit den Bekennern wahren Menschentums aus den Ländern des Westens zu einer Idee: zu einer Politik der Güte und erdumfassenden Liebe, die nicht das Wohl von Staaten, Kirchengemeinschaften oder anderen seelenlosen Organisationen, sondern den Menschen, den von allen Götzen befreiten Einzelmenschen, zum Ziele hat.

Anarchie ist die Religion des einzelnen, der Glaube an den Gottesfunken im Menschen und an das Eden auf dieser Erde. Der Anarchist ist der natürliche Mensch. Er verschmäht alles, das er nicht mit eigenen Händen, mit eigener Kraft erworben hat. Er verneint die Welt der ererbten Vermögen, der ererbten Sprache, Anschauungen, Sitten, Gesetzestafeln; er zertrümmert den Spuk der Götzenwelt, in die er hineingeboren ist, und stellt sich auf sich, wächst aus dem Kern eigenen Wesens zur Persönlichkeit, wird Mensch und schafft sich menschliche Daseinsformen…

…kein Haus, das mit einer großen Zimmerflucht sein Weib und seine Hausgenossen zu Arbeitssklaven toter Gegenstände macht, keine Arbeit, die Schätze anhäuft und keine Stunde der Lust, die auf das Leid der Mitmenschen basiert, sondern ein Dach, das ihn schützt, ein Feuer, das ihn wärmt, Arbeit, die ihn nährt, Freuden und Feierstunden, die Schönheit in sein Leben wirken. Mäßigkeit bestimmt und reguliert seine Daseinsformen. Er weiß, daß Einfachheit der Boden gesunden Lebens, und weiß, daß das Ungeheure das Treibbeet der Kranken, Todgeweihten ist. Er verteidigt das Privateigentum, nennt rechtmäßig erworbenen Besitz die Wurzel der Freiheit und Selbstheit des Individuums und bekämpft Kapitalismus, Staat und Staatssozialismus als Grenzüberschreitungen. Anarchie ist die größtmöglichste Freiheit des Individuums unter sozialer Bindung des Wirtschaftlichen; sie ist die natürlichste und die dem Menschen gemäßeste Weltanschauung. Doch sie ist kein Dogma, das Kirchenväter oder Parteipäpste den Massen fertig überreichen. Jeder einzelne muß sie für sich erringen, muß aus der Tiefe des eigenen Ich seine Welt und seine Daseinsform ans Licht heben. Anarchie ist Selbstheit und Ursprünglichkeit, Strom aus der Lebenstiefe: Menschwerdung.

Sie ist kein politisches System, das die Einzelnen einschmelzen muß, um Form werden zu können; sie ist ein Glaube, der seine Erfüllung in sich trägt, die Religion der Erde, das Paradies im Diesseits.

Doch die große Masse der Menschen sieht dieses wohltätige, lebensspendende Gestirn am Himmel der Geisteswelt durch die trüben Nebel der bürgerlichen Tagespresse; wo leuchtendes Sonnenlicht ist, sehen sie rotes Brandfeuer, wo Kraft ist — Brutalität; sie fürchten die Anarchie wie der gläubige Christ die ewige Verdammnis, sehen in ihr Chaos, Untergang, Ende…

…als ob noch eine blutigere perversere Zeit als diese stehen könnte, eine Zeit, in der edle Geister wegen ihres politischen Glaubensbekenntnisses in den Katakomben der Staatsgefängnisse an Ketten liegen und dekadente Schwächlinge in Offiziersuniformen diesen Wehrlosen ungesühnt die Schädel zertrümmern dürfen, eine Zeit, in der degenerierte verhetzte Menschenmassen übereinander herfallen wie blindwütige Geschöpfe einer unterirdischen Rasse, in der Männer und Frauen vergewaltigt und zerrissen werden und wahnsinnige Straßenmeuten blutige Leichenfetzen im Triumph durch Städte schleifen und in dunklen Wassern versenken: Märtyrer des Glaubens an das Gute in den Massen.

Der Anarchist glaubt nicht an die Massen. Er will sie weder führen noch erziehen. Er glaubt nur an sich, den Einzelmenschen. Er wird nicht zum Märtyrer seiner Lehre, denn seine Lehre ist sein Leben und nur die Wellenringe seiner Taten sind seine Propaganda. Anarchistische Taten wurzeln in Einfachheit, Schönheit, Stärke und gipfeln in Herrschaftslosigkeit; sie sind weltenweit entfernt von Gewalt und Grenzüberschreitungen, sind Bejahungen an das Leben, Gebete an die Zukunft: Weckrufe, die zersetzend und werbend durch die Massen gehen.

Größer wird die Zahl der Freien, die die äußeren Gewaltmächte (Staat, Kirche, Gesellschaft) und die inneren geistigen (Christentum, Sozialismus, Kommunismus) überwunden und zur Wirklichkeit ihres persönlichen Seins zurückgefunden haben: Erkenner der Urreligion der Menschheit, Priester der anarchistischen Idee.

Höher und höher steigt die Sonne eines neuen Zeitalters. Durch die Hirne von Millionen Sehnsüchtigen rollen Dämmerwellen der Erkenntnis: entschleiernd, offenbarend, wegweisend. Die Erfüllung einer uralten Prophezeiung wird Wirklichkeit, als mächtiges Glückswollen flammt sie durch das Blut von Männern und Frauen, leuchtet aus ihren Augen.


Brüder und Schwestern, die ihr Kinder des ewigen Geistes, die ihr sonnenfroh und schwellendes Leben seid, ihr tragt den Samen neuen Menschentums in euren Seelen. In eurem eigenen Hirn liegt die Hölle der Knechtschaft, in den Tiefen eures eigenen Seins blaut der ewige Himmel der Freiheit.

Laßt stürzen die Mächte der alten Zeit, laßt sie versinken im Nichts, zerschellen am Rande des Endlichen. Wenn die Verwesungsdünste europäischer Dekadenz in euer Hirn dringen und eure Sinne umnachten wollen, dann glaubt an euch! Glaubt an das Licht, das immer neu entstehen muß, denkt an die leuchtenden Geister, Friedrich Nietzsche und Max Stirner... denkt an den Wahrheitswillen des Einzelmenschen, der in sich hineintaucht, um aus den Tiefen des eigenen Ich eine Welt der Reinheit und Schlichtheit an das Licht zu heben.

Nicht Weltuntergang — Weltenwende ist die kapitalistisch-sozialistische Blutorgie der Gewalt; Freudenfeier, Lustrausch, Flammenzeichen aufsteigenden Morgens. Eine neue Weltepoche dämmert über der Blutnacht Europas.

Der Messias ist nahe:


Das Jahr Eins der anarchistischen Ära.