Sebastian Faure
Die anarchistische Synthese
In Frankreich, wie in den meisten anderen Ländern, unterscheidet man deutlich drei große anarchistische Strömungen. die sich folgendermaßen klassifizieren lassen: Der Anarcho-Syndikalismus; der freiheitliche Kommunismus; der anarchistische Individualismus.
(Ich spreche hier nur von den drei Hauptrichtungen, die 85 bis 90 Prozent der Kameraden umfassen, die sich zum Anarchismus bekennen, und deren Einfluß und Tätigkeit sich in jenen Ländern bemerkbar macht, in denen die anarchistische Gedankensaat mehr oder weniger Früchte gezeitigt hat. Ich will damit kleineren Richtungen, die ebenfalls anarchistische Ziele verfolgen und die aus dem einen oder dem anderen Grunde eine besondere Stellung im großen Kampfe einnehmen, in keiner Weise die Berechtigung ihrer Existenz aberkennen Doch kann ich in dieser Abhandlung, in der ich mich bemühe, dem Anarchismus als geistiger und sozialer Bewegung einen möglichst konkreten und präzisen Ausdruck zu geben, nicht jeder Sonderauffassung Rechnung tragen.)
Es ist natürlich, aber zugleich verhängnisvoll, daß eine so umfassende Idee wie der Anarchismus in einer gewissen Periode seiner Entwicklung zu solcher Dreiteilung gelangen mußte. Eine Bewegung mit bestimmten philosophischen und sozialen Voraussetzungen, die sowohl im Ideenleben als auch in der praktischen Aktion ihren Ausdruck findet und deren Ziele darauf gerichtet sind, alle auf dem Gedanken der Autorität fußenden Institutionen aus der Gesellschaft auszuschalten, musste notwendig zu einer Teilung ihrer Kräfte gelangen, die durch die Verschiedenartigkeit der Bedingungen, der Umwelt und der Temperamente bedingt ist. Die Mannigfaltigkeit der Quellen, aus denen sie ihre Nahrung schöpft, die zahllosen individuellen Veranlagungen und die stete Einwirkung einer endlosen Fülle von Ereignissen mußten verschiedene Strömungen in der Bewegung zur Folge haben.
Viele Kameraden haben den Eindruck, daß diese verschiedenen Strömungen die Gesamtbewegung des Anarchismus in bedauerlichem Maße schwäche. Allein es ist zwecklos, über Tatsachen zu jammern. Sie sind da – klar, eindeutig, unbestreitbar, und sie haben ihre Ursachen. Mit nutzlosen Klagen werden wir die allgemeine Lage nur unnötig verschärfen, ohne jedoch jene drei Strömungen aus der Welt zu schaffen.
Sicherlich sagen sich die Anhänger aller drei Richtungen: es ist recht bedauerlich, daß die anderen beiden Richtungen bestehen; sie vermindern unsere Kräfte, und wären sie nicht vorhanden, so bestände nur eine anarchistische Bewegung – unsere, die in diesem Falle viel zahlreicher wäre und sich besser durchsetzen könnte. Die Anarcho-Syndikalisten denken: Ja. wenn alle Genossen Anarcho-Syndikalisten wären! Die freiheitlichen Kommunisten seufzen: Ja, wenn alle Genossen sich zum anarchistischen Kommunismus bekennen würden! Und die anarchistischen Individualisten sagen: Ja, wenn alle Genossen unserer Meinung wären!
Nun, ich glaube, daß, wenn wir sogar uns über alle gegebenen Tatsachen hinwegsetzen und uns alle für eine der drei Richtungen entscheiden könnten, damit noch nichts gewonnen wäre Man kann annehmen, daß die auf solche Weise bevorzugte Richtung an innerer Lebenskraft und Betätigungswillen gewänne; aber ob dadurch die Gesamtbewegung des Anarchismus – ich sage des „Anarchismus“ – aktiver und einflußreicher wäre, ist sehr fraglich.
Es ist sehr wahrscheinlich, wenn nicht sicher, daß die so geschaffene Einheitsrichtung ganz gleichgültig, ob es sich um den Anarcho-Syndikalismus, den freiheitlichen Kommunismus oder den anarchistischen Individualismus handelte, im allgemeinen viel weniger stark wäre als heute.
Selbst wenn man sich die optimistische Auffassung zu eigen macht und von einer Einheitsbewegung die günstigsten Ergebnisse erwartet, bleibt es sicher, daß das Aufgehen der drei Richtungen in einer, wenn dies überhaupt möglich wäre, nicht wünschenswert ist. Zunächst würde ein zahlenmäßiger Verlust eintreten, da sich viele einer solchen Verschmelzung mit Recht widersetzen und sich nicht daran beteiligen würden. Ferner würde sogar bei denjenigen, die sich mit der Verschmelzung einverstanden erklärten, nur ein künstliches Verhältnis zustande kommen, dessen äußerer Schein ihm weder Tiefe noch Dauer geben könnte. Und endlich würde das Verschwinden von zwei Strömungen unter den heute bestehenden drei Richtungen eine Verstümmelung der Gesamtbewegung zur Folge haben, die sich als Quelle einer allgemeinen Schwächung auswirken müßte. Ich bin also der Meinung, daß das Bestehen der drei erwähnten Richtungen für die allgemeine anarchistische Bewegung keineswegs eine Ursache ihrer Schwäche bedeutet. Nebenbei gesagt, erscheint mir die angebliche Schwäche der Bewegung von der man heute so viel spricht, mehr scheinbar als wirklich zu sein. Der Anarcho-Syndikalismus, der freiheitliche Kommunismus und der Anarchistische Individualismus sind drei Strömungen in der Bewegung des Anarchismus, deren Existenz niemand verhindern könnte, wer immer es sei. Jede dieser drei Richtungen verkörpert in sich eine Kraft, die auszuschalten weder möglich noch wünschenswert wäre. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, daß man sich als Anarchist und nichts weiter die ganze gigantische Größe der Aufgabe vor Augen führt, das Prinzip der Autorität in Trümmer zu schlagen. Erst dann begreift man, wie unumgänglich es ist, daß sich die drei Richtungen im allgemeinen Kampfe gegenseitig ergänzen und unterstützen müssen. Denn sie unterscheiden sich zwar voneinander, aber es bestehen keinerlei innere Gegensätze zwischen ihnen.
Ich habe nunmehr drei Fragen zu stellen. Die erste Frage gilt den freiheitlichen Kommunisten und den anarchistischen Individualisten in bezug auf die Anarcho-Syndikalisten; die zweite Frage gilt den Anarcho-Syndikalisten und den anarchistischen Individualisten in bezug auf die freiheitlichen Kommunisten; die dritte Frage gilt den freiheitlichen Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten in bezug auf die anarchistischen Individualisten.
Wird der Anarchismus als soziale Bewegung und als Aktion der Arbeiter die Mitbeteiligung der stattlichen Massen, die schon heute in den gewerkschaftlichen Organisationen vereinigt sind entbehren können, wenn einmal die Stunde kommt, wo er der kapitalistischen und autoritären Weh die letzte Schlacht liefern muß, wo das eintritt, was wir gewöhnlich als soziale Revolution bezeichnen?
Es wäre offenkundiger Wahnsinn, davon zu träumen, daß ein Sieg in diesem Falle möglich wäre ohne die aktive, nachdrückliche, rücksichtslose und beharrliche Mitwirkung der arbeitenden Massen im großen Ringen um die Befreiung, die als Ganzes an der Umwälzung der gesellschaftlichen Bedingungen ja am meisten interessiert sind. Ich behaupte nicht und der Gedanke liegt mir fern, daß eine vollständige und einheitliche Verschmelzung aller syndikalistischen und anarchistischen Kräfte heute notwendig ist, um ihr Zusammenarbeiten in der Zeit revolutionärer Aktionen zu ermöglichen. Aber ich sage mit meinem alten Freunde Malatesta: „Die Anarchisten müssen die Nützlichkeit und Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisationen anerkennen und deren Entwicklung nach Kräften zu fördern suchen, um sie zu einem Hebel ihrer Aktionen zu machen. Zur Durchführung einer sozialen Revolution, die auf die Abschaffung der Klassen, auf vollständige Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller menschlichen Wesen abzielt, ist ein gemeinsames Vorgehen der Anarchisten mit dem Syndikalismus und anderen fortschrittlichen Richtungen unbedingt nötig. Aber es wäre eine gefährliche Täuschung, zu glauben, daß die Arbeiterbewegung als solche, kraft ihres inneren Wesens, die Ziele einer solchen Revolution in sich trage, wie viele anzunehmen scheinen. Bei allen Bewegungen, die sich auf materielle und unmittelbare Interessen stützen – und eine ausgebreitete Arbeiterbewegung läßt sich überhaupt auf keiner anderen Grundlage aufbauen – ist es unumgänglich, daß sie von begeisterungsfähigen Menschen, die von Kampfesgeist und Opferwilligkeit erfüllt sind, in Gärung gehalten und vorwärts getrieben werden. Ohne diesen Druck gerät jede Bewegung in die Gefahr, sich dem bestehenden Verhältnissen anzupassen und konservative Tendenzen anzunehmen, die ihre Anhänger veranlassen, an dem Gegebenen festzuhalten und sich mit einfachen Verbesserungen innerhalb des heutigen Systems zu begnügen. Aus diesem Grunde ist eine anarchistische Bewegung nötig, die innerhalb und außerhalb der Syndikate für die allseitige Verwirklichung des Anarchismus wirkt und bestrebt ist, alle Keime der Fäulnis und der Reaktion unschädlich zu machen.“
Wie wir sehen, handelt es sich also nicht um eine organische Verbindung der anarchistischen mit der syndikalistischen Bewegung oder des Syndikalismus mit dem Anarchismus: die Aufgabe ist vielmehr innerhalb und außerhalb der Syndikate Wege für die umfassendste Verwirklichung des anarchistischen Ideals zu finden.
Ich frage nun die freiheitlichen Kommunisten und die anarchistischen Individualisten, welche prinzipiellen oder taktischen Gründe sie veranlassen können, einem Anarcho-Syndikalismus, der sich dergestalt betätigt und praktisch auswirkt, feindlich gegenüberzustehen?
Meine zweite Frage ist: Ist der Anarchismus als unbestechlicher Gegner jeder Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wie sie im kapitalistischen System ihren stärksten Niederschlag gefunden hat, und jeder Beherrschung des Menschen durch den Menschen, wie sie im Staate ihren Ausdruck findet, ist der Anarchismus imstande, dieses Ziel zu erreichen und das kapitalistische Regime schachmatt zu setzen, ohne, wie die freiheitlichen Kommunisten es erstreben, alle Produktionsmittel, Transportwege und Organe des Austausches zum Eigentum aller umzugestalten? Und ist eine solche Umgestaltung möglich, ohne die gleichzeitige Abschaffung des Staates und aller Institutionen, in denen er seine Verkörperung findet?
Ich frage nun die Anarcho-Syndikalisten und die anarchistischen Individualisten, welche prinzipiellen oder taktischen Gründe sie veranlassen könnten, einen freiheitlichen Kommunismus, der sich dergestalt betätigt und praktisch auswirkt, feindlich gegenüberzustehen?
Und nun meine dritte Frage: Kann der Anarchismus, der einerseits der stärkste und klarste Ausdruck der Empörung des Individuums gegen jede politische, wirtschaftliche und moralische Unterdrückung ist, die sich in den autoritären Institutionen des heutigen Systems verkörpert und andererseits das weitgehendste Recht des Einzelwesens auf allseitige Entwicklung und Befriedigung seiner Bedürfnisse auf allen Gebieten vertritt, eine bessere Erfüllung dieser Bestrebungen finden, als sie in einer individuellen Kultur gegeben sind, die auf die vollständige Umwälzung des heutigen gesellschaftlichen Systems und die vollständige Zerstörung ihres schädlichen und unterdrückenden Räderwerkes abzielt?
Ich frage nun die Anarcho-Syndikalisten und die freiheitlichen Kommunisten, welche prinzipiellen oder taktischen Gründe sie veranlassen könnten, einen individualistischen Anarchismus, der sich dergestalt betätigt und praktisch auswirkt, feindlich gegenüberzustehen?
Nach meiner Meinung sind die drei hier erwähnten Richtungen dazu berufen, eine anarchistische Synthese herzustellen. Man könnte das Ergebnis, das sich aus der vorurteilslosen Beantwortung meiner drei Fragen ergibt, folgendermaßen zum Ausdruck bringen:
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Die drei Strömungen des Anarcho-Syndikalismus, des freiheitlichen Kommunismus und des anarchistischen Individualismus unterscheiden sich zwar voneinander, aber es besteht zwischen ihnen kein Gegensatz prinzipieller oder taktischer Natur, der sie verhindern könnte, im guten Einvernehmen nebeneinander zu existieren und sich zu gemeinschaftlicher Aktion zusammenzufinden.
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Die Existenz dieser drei Richtungen bedeutet in keiner Weise eine Schwächung der Gesamtbewegung des Anarchismus. Als geistige und soziale Bewegung in seiner ganzen umfassendem Ausdehnung kann und muß er nur gewinnen durch das Bestehen dieser drei Strömungen.
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Jede der drei Strömungen hat in der großen sozialen Bewegung, die wir Anarchismus nennen, ihren bestimmten Platz und ihr besonderes Tätigkeitsfeld; jede hat ihre bestimmte Aufgabe und erstrebt einen gesellschaftlichen Zustand, in dem jedem Einzelwesen das Maximum von Freiheit und Wohlstand gesichert ist.
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Man kann den Anarchismus somit, um eine Formel der Chemie zu gebrauchen, mit einem zusammengesetzten Körper vergleichen, der aus mehreren Elementen besteht.
Dieser Körper ist durch eine Zusammensetzung der drei Elemente: des Anarcho-Syndikalismus, des freiheitlichen Kommunismus und des anarchistischen Individualismus entstanden. Seine chemische Formel könnte sein: S.2 K.2 I.2. (Anmerkung d.R. :S hoch zwei, K hoch zwei I hoch zwei)
Je nach den Ereignissen, der Verschiedenartigkeit des Milieus und den zahllosen Quellen, durch welche die Bewegung gespeist wird, können im Quantum der drei Elemente Veränderungen eintreten. Bei der Analyse tritt diese Veränderung zutage und zeigt uns die Stärke der einzelnen Elemente. Vielleicht findet sie ihren Ausdruck in der Formel: S.3 K1/2. I.1/2 : vielleicht in der Formel: S.1 K.3 I.1 oder auch in der Formel: S.1 K.2 I.3. Die Formel selbst kann verschiedene Proportionen aufweisen, deren Größe durch lokale, regionale oder internationale Einflüsse bedingt ist. Aber stets sind es dieselben drei Elemente: Anarcho-Syndikalismus, freiheitlicher Kommunismus und anarchistischer Individualismus, die untereinander die Verbindung eingehen und die Zusammensetzung des Ganzen bestimmen. In dieser Bedeutung spreche ich von der „anarchistischen Synthese“.
Bei diesem Punkte meiner Betrachtungen angelangt, stelle ich nunmehr die Frage, wie es kommt, daß gerade in Frankreich das Bestehen dieser drei Richtungen des Anarchismus während der letzten Jahre die allgemeine freiheitliche Bewegung nicht entfernt gestärkt hat, sondern viel eher der Grund dafür war, daß sie fortgesetzt schwächer geworden ist. Die Frage, so klar gestellt, fordert eine ebenso klare und bestimmte Antwort. Die Antwort ist leicht: aber sie fordert als Voraussetzung von allen, ohne Ausnahme, ehrlichen und aufrichtigen Willen.
Ich behaupte, daß nicht die gesonderte Existenz des Anarcho-Syndikalismus, des freiheitlichen Kommunismus und des anarchistischen Individualismus die Bewegung geschwächt hat oder vielmehr, daß durch ihr Bestellen eine Abschwächung des anarchistischen Gedankens und der anarchistischen Aktion verursacht worden wäre. Nein. die Bewegung wurde einzig und allein geschwächt durch die Art und Weise, wie die Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Richtungen ausgetragen wurden, durch den offenkundigen, hartnäckigen und unversöhnlichen Krieg, den jede Richtung gegen die anderen geführt hat.
Jede Fraktion hat im Laufe dieses unseligen Bruderkampfes eine gleich bösartige Rolle gespielt. Jede Fraktion hat sich die größte Mühe gegeben, die Anschauungen der anderen Richtungen bis zur Lächerlichkeit zu entstellen, sie ihres eigentlichen Inhalts zu berauben und sie zum wahren Zerrbilde zu erniedrigen. Jede Richtung hat in diesem Kampfe die giftigsten Waffen gebraucht und sich der schlimmsten Methoden bedient, um den Gegner zu treffen.
Ich bin überzeugt, hätte man sich mit weniger Wut und Verbissenheit gegenseitig bekämpft, hätte man die Tatkraft, die man im Kampfe gegen einander nutzlos vergeudete, lieber gegen den gemeinsamen Feind verwendet, so wäre die anarchistische Bewegung in Frankreich imstande gewesen, die Verhältnisse auszunutzen und hätte sich als durchschlagende und sammelnde Kraft betätigen können.
Aber der unaufhörliche Kampf der einen Tendenz gegen die anderen, der noch durch persönliche Streitigkeiten verschärft wurde, hat alles vergiftet, zermürbt, moralisch zersetzt, wodurch der Kampf für die schönen Ideen der Freiheit und Gerechtigkeit, die im Volke oft tiefer wurzeln als bei denen, die vorgeben, ihre Sachwalter zu sein, gelähmt und unfruchtbar gemacht wurde. Jede Richtung versuchte, die verwandte Richtung zu besudeln, zu beschmutzen, in den Kot zu ziehen und war anscheinend der Ansicht, durch die Anwendung solcher Methoden selber rein zu werden. Dieses bedauerliche Schauspiel, dieses häßliche Treiben, das von wenigen Ausnahmen abgesehen fast in allen Gruppen vor sich ging hat nur dazu beigetragen, daß die besten Elemente aus der Bewegung verschwanden und nur noch solche zurückblieben, die an verleumderischen Anwürfen und Verunglimpfungen anderer ihre Freude fanden. Es ist schwer, das auszusprechen, aber es ist die Wahrheit die gesagt werden muß.
Das Übel ist groß, doch die Heilung liegt nirgends anders als in unserer eigenen Hand. Diejenigen, welche diesen Ausführungen aufmerksam und unparteiisch gefolgt sind, gelangen sehr wahrscheinlich zu denselben Folgerungen: Das einzige Heilmittel ist, sich mit dem Gedanken einer anarchistischen Synthese vertraut zu machen und mit der praktischen Nutzanwendung dieser Erkenntnis sofort und so wirksam wie möglich zu beginnen.
An was leidet die anarchistische Bewegung? An jenem mörderischen Streite, der zwischen den drei Richtungen entbrannt ist, deren jede doch als ihr innerer Bestandteil zu betrachten ist. Sollte der gegenseitige Kampf dieser drei Richtungen in ihrem Ursprung, ihrem Charakter oder in ihren besonderen Methoden der Propaganda, der Organisation und der Betätigung begründet sein, wäre das Heilmittel, das ich vorschlage, hinfällig, wertlos und unanwendbar. Wir müßten in diesem Falle wohl oder übel nach anderen Mitteln Umschau halten. Käme aber ein solcher Einwand nicht in Frage, läge es vielmehr im Interesse des Anarcho-Syndikalismus des freiheitlichen Kommunismus und des anarchistischen Individualismus, zu einer Art Synthese zu gelangen, wäre das umsomehr Grund für uns, diese Synthese schon heute zu versuchen.
Ich bilde mir nicht ein, etwas Neues entdeckt zu haben. Luigi Fabri und einige russische Kameraden (Volin, Fleschin und Mollie Steimer), mit denen ich mich schon lange über diese Frage auseinandergesetzt habe, haben mir versichert, daß solche Versuche bereits unternommen worden sind; in Italien durch die Initiative der „Anarchistischen Union“, in der Ukraine aus dem Schoße der Organisation „Nabat“. Die Ergebnisse waren die besten und wurden nur gestört durch das Aufkommen des Faschismus in Italien und die Eroberung der Ukraine durch die Bolschewisten.
Wie fast überall, so bestehen auch in Frankreich bereits zahlreiche Gruppen, welche die anarchistische Synthese in ihren Reihen zur praktischen Anwendung brachten, Gruppen, in denen Anarcho-Syndikalisten, freiheitliche Kommunisten und anarchistische Individualisten im guten Einverständnis mit einander arbeiten; diese Gruppen sind nicht die kleinsten und auch nicht die untätigsten.
Die Auseinandersetzung über die anarchistische Synthese als Basis für eine anarchistische Organisation, für Frankreich ein ganz neuer Gedanke, wird ihren Weg nehmen; man kann sie nicht mehr ausschalten. Aber damit diese Auseinandersetzung fruchtbar sei von Anfang an und auch weiterhin, ist es Vorbedingung, daß sie in die reine Sphäre aufrichtiger Kameradschaft getragen werde. Die Wunden, die wir uns geschlagen haben, sind schlimm genug, wir haben keine Ursache, sie noch schlimmer zu machen.
Ich weiß, daß es eine große Anzahl von Kameraden gibt, die des ewigen Streites müde sind, der nur noch in künstlich geschaffenen Vorurteilen seine Nahrung findet. Sie wünschen, diesen Dingen ein Ende zu machen. An jene Kameraden wende ich mich zuerst mit meinem ganz persönlichen Vorstoß, der so begeistert begrüßt und so stark verhöhnt worden ist in freiheitlichen Kreisen. Und ich rufe all diesen Kameraden zu: Laßt nicht das Übel die Herrschaft über Euch gewinnen! Beschäftigt Euch nicht mehr mit den Schäden, welche der Bewegung durch jahrelange Kämpfe bereits zugefügt worden sind, sondern versucht, einen neuen Weg einzuschlagen. Man mag noch soviel über das Vergangene reden, die verlorene Zeit wird dadurch nicht zurückgewonnen. Darum verlegt nicht auf morgen, was heute bereits getan werden kann und muß. Beginnt sofort!
Hüten wir uns vor allem davor, eine Art Gleichgewicht der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit für die vergangenen Dinge herstellen zu wollen. Haben wir den Mut und die Aufrichtigkeit anzuerkennen, daß die Verantwortlichkeit auf uns allen lastet. Tilgen wir vergangenes Unrecht, indem wir uns geloben, daß jene traurigen Vorgänge in der Zukunft keinen Platz mehr in unseren Reihen finden sollen. Bringen wir der großen Idee, die uns alle eint – Anarcho-Syndikalisten, freiheitliche Kommunisten und anarchistische Individualisten – dieses Opfer, das wahrlich nicht so schwer ist und nur darin besteht, die Nachwirkungen des Grolles und der verletzten Eigenliebe in uns auszutilgen. Versuchen wir ernst und aufrichtig, aus unserem Geiste jede Beunruhigung. aus unserem Herzen jede Bitterkeit zu bannen!
Nie zuvor war ein Zusammenschluß unserer Kräfte so notwendig wie heute. Heute, wo wir fast allein stehen gegen eine Welt von Feinden mit unserem Ideal der Freiheit, das durch die Entwicklung des Faschismus und des Bolschewismus eine neue Bedrohung erfahren hat. Beeilen wir uns! Laßt uns nicht einen Tag verlieren!
Die Verhältnisse haben es mit sich gebracht, das Frankreich heute das Herz der internationalen anarchistischen Bewegung, der Herd ihrer Aktivität geworden ist. Tausende und Abertausende unserer Kameraden aus fremden Ländern waren gezwungen, hier eine Zuflucht zu suchen. Zerstören wir nicht ihre Hoffnung und ihr Vertrauen, indem wir ihnen den abstoßenden Anblick eines ewigen Bruderkampfes vor Augen führen. Bieten wir ihnen das Bild einer großen Familie, in der sie ebenso willkommen sind wie alle anderen: bauen wir ihnen einen Herd, an dem sie die Fackel ihrer Hoffnungen immer wieder neu entzünden können, trotz der harten Prüfungen des Exils. Ziehen wir unser Gewissen zu Rate um zu begreifen, daß der fortgesetzte Bruderkrieg fast einen Verrat an unserer Sache gleichkommt, heute, wo die internationalen Ereignisse und die abscheulichen Verfolgungen uns alle zur Verteidigung unserer heiligsten Rechte zwingen sollten.
Je zerstreuter unsere Kräfte sind, umso schwächer sind wir. Je stärker solidarische Bande uns vereinen, umso mächtiger wachsen uns die Kräfte. Laßt uns diese elementare Wahrheit nie aus dem Auge verlieren. Sorgt dafür, daß sie die Richtlinie unseres Handelns werde!