Titel: Der Weg ins Dritte Reich
Untertitel: Die kommunistische Partei und die Idee der Diktatur
AutorIn: Rocker, Rudolf
Datum: 1934
Bemerkungen: Aus: Die Internationale, Neue Folge Jahrg. 1, Nr. 2 Okt.-Nov. 1934, S.33–37.

Hatte die würdelose Schwäche der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, ihre ewige Unentschlossenheit und ihre jämmerliche Politik des «kleineren Uebels» der Konterrevolution nach Möglichkeit das Spiel erleichtert und dem Faschismus den Weg geebnet, so hat die von ewigen Widersprüchen erfüllte Politik der Kommunistischen Partei, ihre durch und durch freiheitsfeindliche und autoritäre Einstellung und ihr gefährliches Spiel mit der sogenannten «proletarischen Diktatur» den Sieg der Konterrevolution in Deutschland nur gefördert und geistig mit vorbereitet. Es muss überhaupt hier klar ausgesprochen werden, dass der Sieg des Bolschewismus über die russische Revolution der erste Auftakt der faschistischen Gegenrevolution in Europa gewesen ist. Denn die Idee der Diktatur ist in sich selbst konterrevolutionär und das schlimmste Hindernis für jede schöpferische Betätigung im Geiste der Freiheit und des Sozialismus.

Jede wahrhafte Revolution, die einem Volke und damit der Menschheit neue Ausblicke ihrer geistigen und kulturellen Entwicklung eröffnet, ist weniger charakteristisch durch das, was sie zerstört als durch das, was sie schafft und neu ins Leben setzt. Nur durch das Neue, das sie entwickelt, überwindet sie den Geist des Ueberlieferten und setzt die gesellschaftlichen Formen des Gewesenen ausser Kraft. Indem sie Neues baut, zerstört sie das Alte und bahnt die Wege für eine bessere Zukunft. Gerade deshalb ist sie auf die Entfaltung aller schöpferischen Kräfte angewiesen, wenn sie dem Ziele näher kommen will, das sie erstrebt. Die Diktatur aber, die stets bemüht ist, alles auf eine bestimmte Norm zu bringen, und keine anderen Wege dulden kann als die, welche ihren Trägern aus dem einen oder dem anderen Grunde als die allein richtigen erscheinen, zerstört die Schöpferkraft des revolutionären Geistes und presst Menschen und Dinge unter das Joch einer politischen Vorsehung, die für alle anderen denkt und handelt und damit alle neuen Ideen und Ausblicke der gesellschaftlichen Entwicklung im Keime erstickt. Deshalb ist die Diktatur nie der Träger der Revolution, sondern stets der Herold der beginnenden Konterrevolution.

In Cromwell verkörpert sich nicht der Geist der englischen Revolution, sondern die brutale Gewalt der Gegenrevolution, die zu einem neuen Despotismus ausartete und jeder freiheitlichen Entwicklung den Weg verstellte. Die Diktatur Robespierres und der Jakobiner war nicht das Symbol der grossen Umwälzung, die Frankreich vom Fluche des Feudalismus und des absoluten Königtums befreite, sie war der Totengräber der Revolution, der den Weg für die Säbeldiktatur Napoleons vorbereitete. Heute ist es der Bolchewismus, der die russische Revolution zu Grabe läutete und für den Faschismus den geistigen Nährboden schuf, auf dem er gedeihen konnte.

Der Sozialismus kann seine Bedeutung für die Zukunft nur behaupten, wenn er seine ganze Tätigkeit darauf einstellt, zusammen mit dem Monopol des Besitzes auch jede Form der Herrschaft des Menschen zu beseitigen. Nicht die Eroberung, sondern die Ausschaltung des Machtprinzips aus dem Leben der Gesellschaft muss das grosse Ziel bleiben, dem er zustrebt, das er niemals aufgeben darf, wenn er sich nicht selbst aufgeben will. Wer da glaubt, die Freiheit der Person durch die Gleichheit der Belange ersetzen zu können, hat das wahre Wesen des Sozialismus nie erfasst. Für die Freiheit gibt es keinen Ersatz, kann es nie einen Ersatz geben. Die Gleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen für alle und jeden ist nur eine notwendige Voraussetzung für die Freiheit des Menschen, doch nie ein Ersatz für diese. Wer sich an der Freiheit vergeht, vergeht sich am Geiste des Sozialismus. Sozialismus heisst solidarisches Zusammenwirken auf Grund eines gemeinschaftlichen Zieles und derselben Rechte für jedermann. Solidarität aber beruht auf freier Entschliessung und kann nicht erzwungen werden, wenn sie nicht in Tyrannei umschlagen und damit sich selbst aufheben will.

Jede wahrhaft sozialistische Betätigung muss daher im kleinsten wie im grössten von dem Gedanken geleitet sein, dem Monopolismus auf allen Gebieten und besonders auf dem der Wirtschaft entgegenzuwirken und die Summe der persönlichen Freiheit im Rahmen des gesellschaftlichen Verbandes mit allen zu Gebote stehenden Kräften zu erweitern und zu sichern. Jede praktische Betätigung, die zu anderen Ergebnissen führt, ist abwegig und für den Sozialismus untragbar. Danach ist auch das ganze Gerede von der «Diktatur des Proletariats» als angeblichem Uebergangsstadium vom Kapitalismus zum Sozialismus zu bewerten. Solche «Uebergänge» kennt die Geschichte überhaupt nicht. Man kann lediglich zwischen primitiveren und höheren Formen in den verschiedenen Entwicklungsphasen des gesellschaftlichen Geschehens unterscheiden. Jede neue Gesellschaftsordnung ist in ihren ersten Ausdrucksformen naturgemäss unvollendet; nichtsdestoweniger aber müssen alle weiteren Entwicklungsmöglichkeiten ihrer zukünftigen Gestaltung in jeder ihrer neugeschaffenen Institutionen gegeben sein, wie in einem Embryo bereits das ganze Geschöpf vorhanden ist. Jeder Versuch, einer neuen Ordnung der. Dinge wesentliche Bestandteile eines alten, in sich überlebten Systems einzuverleiben – und das ist das Bestreben jeder wie immer gearteten Diktatur –, hat bisher stets zu denselben negativen Ergebnissen geführt: entweder wurden solche Versuche von der Neugestaltung der sozialen Lebenserscheinungen bald im Anfang matt gesetzt, oder aber die zarten Keime und hoffnungsvollen Ansätze des Neuen wurden von den starren Formen des Gewesenen so stark eingeengt und in ihrer natürlichen Entfaltung behindert, dass sie allmählich wieder verkümmerten und ihre innere Lebensfähigkeit einbüssten.

Wenn Mussolini ausführte, dass es «heute in Europa nur zwei Länder gebe, wo der Staat etwas bedeute: Russland und Italien, da man dort den Geist der Freiheit erstickt habe»; wenn ein Lenin sich zu der Behauptung verstieg, dass die «Freiheit nur ein bürgerliches Vorurteil» sei, so sind das unvermeidliche Ergebnisse derselben Gedankengänge, deren innere Verwandtschaft nicht zu bestreiten ist. Der zynische Ausspruch Lenins zeigt nur, dass sein Geist sich überhaupt nicht zum Sozialismus aufzuschwingen vermochte und in dem alten Vorstellungskreise des politischen Jakobinismus hoffnungslos stecken geblieben war. Es ist überhaupt ein Unding, zwischen einem autoritären und einem freien Sozialismus unterscheiden zu wollen: der Sozialismus wird freiheitlich sein oder er wird nicht sein!

Die Kommunistische Partei Deutschlands, ausser der russischen die stärkste kommunistische Partei Europas, lebte nur von den Fehlern der Sozialdemokratie und entwickelte in der ganzen Zeit ihres Bestehens nicht einen einzigen schöpferischen Gedanken. Sie war nie etwas anders als das willenlose Organ der russischen Aussenpolitik und fügte sich ohne Wimperzucken jedem Diktat aus Moskau. In diesem Sinne entfachte sie den Glauben an die Unvermeidlichkeit der Diktatur unter jenem Teil der sozialistischen Arbeiterschaft Deutschlands, der bereits jedes Vertrauen in die jammervolle Taktik der Sozialdemokratie verloren hatte. Es waren nicht die schlechtesten Elemente, die in das Fahrwasser der Kommunisten gerieten. Besonders die Jugend, die sich naturgemäss für grosse Worte und ein revolutionäres Schlagwörtertum stärker begeistert, da sie dahinter noch etwas anderes vermutet, zeigte viel Opferwilligkeit und Tatbereitschaft, wenn ihr auch für die tiefere Erkenntnis der Lage die nötige Reife fehlte. Aber gerade dieses wertvolle Element wurde von der Leitung der K.P.D. und ihren Ratgebern in Moskau am schnödesten missbraucht und oft zu Handlungen verleitet, welche der aufkommenden Konterrevolution nur Wasser auf die Mühle lieferten.

Vor allem wurde die Jugend in einen beispiellosen Fanatismus hineingepeitscht, der sie für jede vernünftige Beurteilung der Dinge blind und taub machte. Eine solche psychische Einstellung aber ist der beste Nährboden für das Aufkommen diktatorischer Bestrebungen und drückt jedem Protest gegen die reaktionären Massnahmen der Gegenseite von vornherein den Stempel der Unaufrichtigkeit und Heuchelei auf. Man kann nicht mit ehrlichem Herzen für die Verteidigung der Freiheit eintreten, wenn man selbst die Diktatur, das heisst die Aufhebung jeglicher Freiheit erstrebt. Man kann die Angriffe des Gegners auf die Freiheit der Presse, des Versammlungsrechts und des Gedankenausdrucks nicht verurteilen, wenn man dieselben Massnahmen in Russland rechtfertigt und als notwendig erachtet.

Man kann nicht die Verfolgung und Gefangensetzungen revolutionärer Arbeiter in den Ländern West- und Mitteleuropas verdammen, solange die Gefängnisse Russlands mit Sozialisten und Revolutionären anderer Richtungen gefüllt sind, deren einziges Verbrechen darin besteht, dass sie andere Ideen vertreten als die von der Diktatur offiziell vorgeschriebenen. Tut man es doch, so hat der Gegner leichtes Spiel, indem er sich nur auf die Zustände im «roten Vaterlande des Proletariats» zu berufen braucht.

Tatsache ist, dass sowohl Mussolini als auch Hitler vieles von Russland übernommen haben: Die unerbittliche Austilgung jeder anderen Richtung im Lande, die rücksichtslose Knebelung jedes freien Gedankenausdrucks, ohne den jedes kulturelle Leben versteinern muss, die Verwandlung der Gewerkschaften in Regierungsorgane und besonders die unbegrenzte Allmacht des Staates in allen Fragen des gesellschaftlichen und privaten Lebens sind Erscheinungen, für welche der siegreiche Bolschewismus die Vorbilder geliefert hat. Man sage nicht, dass es die Ziele und nicht die Mittel sind, welche die Diktatur des Faschismus von der Diktatur des Bolschewismus unterscheiden. Jedes Ziel verkörpert sich in seinen Mitteln. Der Despotismus der Methode entspringt stets dem Despotismus des Gedankens. Nur wem die Freiheit innerlich fremd ist, dem erscheint sie als «bürgerliches Vorurteil». Dass den Trägern des Bolschewismus ursprünglich ein anderes Ziel vorschwebte als den Faschisten, sei unbestritten; doch sie wurden die Gefangenen ihrer eigenen Methoden, deren Befolgung sie immer weiter von ihren angeblichen Zielen entfernen musste. Sie gerieten selbst in das Räderwerk der Maschine, mit der sie die Welt erlösen wollten. Was ihnen zunächst als Mittel unentbehrlich schien, wurde ihnen allmählich Selbstzweck. Das ist das unvermeidliche Ergebnis jeder Diktatur. Wer den ehrlichen Willen hat, aus dem russischen Experiment die logischen Schlüsse zu ziehen, kann zu keiner anderen Erkenntnis gelangen. Man kann die Menschen nicht zur Freiheit und zum Sozialismus erziehen, indem man sie dem eisernen Zwange eines unbeschränkten Despotismus preisgibt, der ihre schöpferischen Kräfte erstickt, ihren Willen lähmt, ihre innere Sehnsucht an den fühllosen Gliedern eines allmächtigen Staatsapparates langsam zu Tode bluten lässt.

Die russische Revolution ist nicht an der Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse gescheitert, sondern an der Diktatur des Bolschewismus, der ihre Lebenskraft erdrosselte, ihren Geist lähmte und sie einem neuen Despotismus in die Arme trieb. Die Tatsache, dass bereits bei den vorletzten Wahlen in Deutschland ein nicht unbeträchtlicher Teil der kommunistischen Wählerschaft nachweisbar ins nationalsozialistische Lager abwanderte; die weitere Tatsache, dass eine ganze Anzahl gewesener Kommunisten später den Sturmabteilungen von Hitlers Privatarmee beigetreten sind, ja dass sich verschiedentlich ganze Ortsgruppen der K.P.D. den Faschisten anschlossen, spricht dafür, dass hier innere Zusammenhänge vorhanden sind, die man nicht übersehen darf, wenn man die ganze, tragische Bedeutung der Ursachen verstehen will, welche Deutschland dem braunen Terror in die Arme trieben.

Um den Faschisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, suchte die kommunistische Parteileitung sie in patriotischen Ergüssen noch zu überbieten, und während die Hitlerleute ihr blödes «Siegreich wollen wir Frankreich schlagen» gröhlten, sprach man in der kommunistischen Presse von einem kommenden «Aufmarsch der roten Armee am Rhein». Radek verherrlichte den nationalistischen Attentäter Schlageter, dem heute Hitler ein Denkmal setzen lässt, in überschwänglicher Weise, und die Presse der K.P.D. machte sich zum Sprachrohr dieser und ähnlicher Ergüsse. Sogar dem Antisemitismus der deutschen Faschisten machte man die schmählichsten Zugeständnisse, und Ruth Fischer, damals die gefeiertste Führerin der deutschen Kommunisten und selber Jüdin von Geburt, rief ihren Zuhörern in einer Berliner Studentenversammlung die Worte zu: «Hängt die jüdischen Kapitalisten an die Laterne!» Man kann sich vorstellen, welchen Wirrwarr eine solche Agitation in den Köpfen junger und unreifer Menschen anrichten musste.

Gewiss machte man diese Zugeständnisse in der Hoffnung, die Anhänger Hitlers auf die kommunistische Seite ziehen zu können. Aber gerade darin besteht ja die grosse Gefahr, dass man sich einredet, solche Bewegungen anderen Zielen dienstbar machen zu können, indem man ihnen irgendwelche Zugeständnisse macht. Was dabei herauskommt, ist nur eine Verfälschung der eigenen Ideen und eine gefährliche Schwächung aller gesunden Gegenströmungen, die allein dem Anprall der nationalistischen Reaktion entgegenwirken können. Es gibt eben Gegensätze, die sich nicht überbrücken lassen, denn auch Ideen folgen ihren eigenen Gesetzen und werden nur von verwandten Bestrebungen angezogen. Die Bauernschläue der K.P.D.-Leitung, den Faschismus durch patriotische Zugeständnisse zu ködern, hat nur dazu beigetragen, seinen Einfluss zu stärken und ihm neue Anhänger aus den eigenen Reihen in die Arme zu treiben.