Titel: Von der Organisation zur Assoziation
AutorIn: Nettlau, Max
Datum: 1930
Quelle: Originaltext: Max Nettlau: Von der Organisation zur Assoziation; aus: „Die Internationale“, herausgegeben von der FAUD, Mai 1930. Nachdruck in: Max Nettlau: Gesammelte Aufsätze, Band 1. Verlag die Freie Gesellschaft 1980; Entnommen von anarchismus.at

Wer seine Wünsche nicht auf den sozialistischen Beamtenstaat beschränkt, in welchem dumpfe Massen von Sozialdemokraten oder Bolschewisten regiert und administriert werden, sondern die sozialistische Gesellschaft freier Menschen als Ziel betrachtet, mit dem möchte ich hier besprechen, ob der in der Überschrift genannte Schritt von der Organisation zur Assoziation nicht endlich im größten Umfang gemacht werden muß; wie ich sehe, sind wir überorganisiert bis zur Plethora, aber unterassoziiert bis zur Anämie, und ich möchte versuchen, dies hier näher zu erklären.

Hinreichende Erfahrung zeigt, daß die numerische Ausdehnung der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften wachsende innere Ohnmacht und geistige Leere mit sich bringt. Dasselbe widerfuhr längst jeder Religion, sobald sie dem enthusiastischen Anfangs Stadium entwuchs, dasselbe widerfuhr den älteren fortschrittlichen Richtungen, dem Liberalismus, dem Radikalismus, nach ihrem Anwachsen zu großen, anerkannten Parteien. Dasselbe kann daher dem Syndikalismus, sogar dem Anarchismus, voraussichtlich nicht erspart bleiben, wenn sie auf gleichen Bahnen fortschreiten, denen der mechanischen, äußerlichen Zunahme durch bloße Parteizugehörigkeit, Organisationsmitgliedschaft und dergleichen.

Die Ursache liegt wohl in der beschränkten Zahl der jeweilig für die Ideen einer bestimmten Richtung voll und ganz disponierten Menschen. Von diesen werden durch die Zwischenfälle der Agitationstätigkeit gewiß nie alle wirklich von der Propaganda erreicht, dafür aber um so mehr andere, nur in geringerem Grade oder gar nicht disponierte, so daß, je größer die Zahl wird, die Zusammensetzung der Menge eine um so ungleichmäßigere werden muß, und schon gar, wenn ganz äußerliche Verhältnisse, die Klassenzugehörigkeit, in so großem Umfang bei der Organisationsarbeit maßgebend sind. Denn so sehr der tägliche unmittelbare Kampf des arbeitenden Volkes ein Klassenkampf gegen die Usurpatoren der Rohstoffe und Produktionsmittel ist, so sehr ist jede wirklich sozialistische Lösung ein Menschheitskampf der sozialen und freiheitlichen gegen die antisozialen und autoritären Bestandteile der Gesamtmenschheit, und es war ein furchtbarer Fehler, die weltbefreiende sozialistische Idee mit den heutigen Klassenkämpfen in anscheinend untrennbare Verbindung zu setzen, wodurch sich das sozialistische Gefühl in diesen täglichen Kämpfen abnützt und aufbraucht und der Sozialismus anscheinend an all diese wechselnden Erscheinungen gebunden bleibt.

Da man nicht zwei Richtungen zugleich dienen kann, so ergibt sich entweder ein den Klassen- und Machtkämpfen der Gegenwart entsprechendes Wachstum zur Millionenpartei und Millionenorganisation oder ein der beschränkten Zahl der wirklich geistig Disponierten und von der Propaganda Erreichbaren entsprechendes geringes Wachstum, Kleinbleiben und relative Isolierung. Zu ändern ist hieran nichts und die Hoffnung, die der Idee vollergebene und treu bleibende kleine Organisation zur wirklich großen Organisation anwachsen zu sehen, ist trügerisch: ein das normale Wachsen überschreitender Zuwachs könnte nur durch kurzlebige äußerliche Konjunkturen oder durch Aufnahme Minderdisponierter erfolgen und würde eine gerade so ohnmächtige Millionengruppierung ergeben, wie alle Millionenparteien es bereits sind. Denn Riesenorganismen verlieren ihr eigenes inneres Leben; sie werden zu hierarchisch geleiteten, despotischen Organismen, wie die Armeen, oder zur trägen, dann und wann Stimmzettel abgebenden und Beiträge zahlenden Masse, deren Bewegungen ebenfalls eine Hierarchie von Führern kontrolliert. Wie die Natur die übergroßen Saurier der Vorwelt eleminiert hat, so sind auch die großen Parteien und Organisationen, in denen die Idee verflackert und erlischt, dem Untergang geweiht. Wie sich für die Tier- und Pflanzenwelt nach solchen Erfahrungen Proportionen ergaben, die den auf dem Erdball durch vielerlei Faktoren gegebenen Lebensbedingungen am besten entsprachen, so wird sich auch die Größe und Zusammensetzung der Gruppen für soziale Kämpfe und der Gruppen für soziale Verwirklichungen ergeben, die geradeso von den gegebenen Faktoren abhängen und nicht durch Vermutungen oder Dogmen vorausbestimmt, und ebensowenig dem Zufall überlassen werden können.

Es wäre ja nichts schöner, als wenn all dies anders wäre, aber wenn hinter den Millionen nominell sozialistisch stimmender und organisierter Arbeiter eine wirkliche geistige und moralische Kraft und ein sozialistischer Wille stände, würde die Welt ganz anders aussehen. Wir sehen nur, wenn wir den Blick aus den sozialistischen Zeitungen und Kreisen erheben, um uns eine Welt von Indifferenz, Unwissenheit und Feindseligkeit, die sehr groß ist, selbst wenn da und dort Sozialisten eine gewisse Machtsphäre besitzen, was meist die allgemeine Feindseligkeit intensiviert, die nicht auf kapitalistische Kreise beschränkt ist. Die wirkliche Werbekraft des Sozialismus ist eine verzweifelt geringe geworden, weil eben die Millionenparteien und -Organisationen nichts der Menschheit wirklich als wertvoll Erscheinendes leisten, während sie dagegen den ungeheuren Schaden anrichten, die sozialistisch gebliebenen und darum kleineren Gruppierungen, Syndikalisten, Anarchisten usw., zu bekämpfen, zu schädigen und von der Öffentlichkeit durch ihre angeblich den ganzen Sozialismus vertretende Großredigkeit möglichst abzusperren; wo sie die Macht dazu haben, wie in Rußland, suchen sie dieselben physisch zu vernichten. So macht nun jedes Jahr bolschewistischen Treibens in Rußland, kommunistischer Aufgeregtheit und sozialdemokratischer Anpassung an die bestehenden Zustände in den ändern Ländern , jedes Jahr zögernder, unentschlossener Politik und Diplomatie der großen Gewerkschaften, die Welt an sozialistischen. Sympathien ärmer und macht auch die syndikalistischen und anarchistischen Bemühungen wirkungsloser, weil eben das Vorgehen jener Richtungen zwischen dem ganzen Sozialismus und der Mitwelt eine Mauer errichtet. Wäre dies nicht so, so wären Fascismus, Nationalismus, Rationalisierung und vieles andere in ihrer Schroffheit und Gräßlichkeit nicht derart emporgeschossen und möglich geworden. Es muß herausgesagt werden, daß das, was der Menschheit von den erstgenannten Richtungen als Sozialismus geboten wird, mit richtigem Instinkt zurückgewiesen wird als nicht gut genug, und die Stimmen des freiheitlichen Sozialismus sind noch nicht stark genug, diesen Trug aufzuklären, dem verfälschten Sozialismus die Maske abzureißen.

Was könnte dagegen geschehen. Vor allem, meine ich, müßte an Stelle der Expansionsbestrebungen, des Organisationskults, die intensive sozialistische Arbeit treten, die zur zweckmäßigen Zusammenarbeit, der Assoziation, führt.

Ich bin nicht Gegner der Organisation, aber Gegner des Glaubens an die Macht der Organisation an und für sich. Jede Arbeit braucht einen bestimmten, durch die Verhältnisse gegebenen Kräfteaufwand; ein kleinerer ist unzureichend, ein größerer ist eine Kraftvergeudung oder anderswie schädlich. Dies läßt man beim mechanischen Organisieren, Mitglied an Mitglied reihend, beiseite, und dadurch werden unzählige Kräfte brachgelegt. Wenn das Ziel ist, für den Sozialismus das Möglichste zu tun, dann muß jeder zugreifen, jeder handeln, und dies geschieht einfach nicht, wenn in allen Richtungen die allermeisten eben bloße Mitglieder sind, die nur bei seltenen großen Gelegenheiten zu eigener Tätigkeit kommen und die bei den Millionenorganisationen ganz in der Masse verschwinden. Da wird der einzelne zum bloßen Zuschauer, der hört oder liest, wie gewisse Führer das, was zu geschehen hat, untereinander besprechen und bestimmen, und er hat sich zu fügen oder darf in seltenen Fällen mit unzähligen ändern, die er nicht kennt, für oder gegen etwas seine Stimme abgeben.

Derartiges kann ich nur mit der kümmerlichen Betätigung des Sportinteresses vergleichen, die für Unzählige darin besteht, mit 10 000 oder 50 000 ändern zuschauen, wie einige wenige einen wirklichen sportlichen Wettkampf ausfechten. Diese Zehntausende können sich in Parteien teilen und gegeneinander hin und her schreien -, sie üben aber sonst weder eine eigene sportliche Tätigkeit aus, noch können sie die Resultate der wirklichen Kämpfe beeinflussen und müssen sie hinnehmen. Ist nicht die Rolle der Millionen sozialistischer und sonstiger Parteimitglieder und Großgewerkschaftsmitglieder wirklich ganz die gleiche? Sie dürfen die Partei durch ihre Beiträge erhalten, sie dürfen gelegentlich sich Vorstände usw. wählen, aber von da ab dürfen sie nur zuschauen, sich heiser schreien und müssen doch dem von den obersten Kreisen Verfügten gehorchen.

Also eine vollständige Anähnlichung an das, was Organisationen für die an bestehenden, allgemein akzeptierten Verhältnissen Hängenden sind - für diese, die keine Änderung wünschen haben Organisationen natürlich einen ganz andern Sinn, gerade den hier beschriebenen.

Denn die Kirche z.B. wünscht keine Änderung, ihre Gläubigen ebensowenig, und so ist es gleichgültig, wie groß usw. ihre Kirchengemeinden sind. Dasselbe gilt für die bürgerlichen politischen Parteien, die nur alle paar Jahre möglichst viel Wahl stimmen brauchen und diese nehmen, wo sie sie finden. Ebenso mögen sich ungezählte Zehntausende als Zuschauer beim Sport hinstellen, wenn sie nichts Besseres zu tun wissen; das ist ihre eigene Sache, und sie setzen sich kein weiteres Ziel. Es gelingt auch der Mode und der Reklame, Millionen sich folgsam zu machen, und ebenso ist es noch immer gelungen, die Massenstimmung jedes Landes in Kriegsfällen patriotisch zu beeinflussen. Das alles beweist, daß solche Massenorganisation im Dienst bestehender Einrichtungen und Interessen ein technisch praktisches und selbstverständliches Hilfsmittel ist.

Gerade das sollte aber den Sozialisten beweisen, daß sie, die eine neue Gesellschaft begründen wollen, die die bestehenden Privilegien und Einrichtungen nicht anerkennen, die einen ungeheuren Kampf vor sich haben, einen Kampf auf jeden Fall gegen die Mentalität der Vergangenheit, und einen physischen Kampf, wenn die Vergangenheit ihnen physisch in den Weg treten will, - daß sie, sage ich, wesentlich mehr tun müssen als eine oberflächliche Registrierung von Millionen in Organisationen.

Da müßte in der kleinsten Gruppe jeder auf eine in seiner Natur liegenden Weise tätig sein, und gewiß würden seine Leistungen durch Zusammenarbeit mit mehreren ihm Nahestehenden in ihrer Wirkung vermehrt. Solche 3, 4, 5 würden also eine wirkliche Einheit bilden, neben solchen, die ganz allein arbeiten wollen. Eine Gruppe von 20, von denen vielleicht nur 2, 3 als Sekretär usw. etwas tun, während die andern nichts Rechtes anzufangen wissen, zerfiele dann in 4 oder 5 oder mehr aktive Einheiten, die sich bemühen würden, jeder um sich herum, in dem ihm persönlich und privat am direktesten zugänglichen Milieu, Propaganda zu machen. Diese Tätigkeit könnte vielleicht am besten damit beginnen, daß innerhalb der Gruppe die fähigen Mitglieder zunächst die schwächeren auf die Höhe bringen, mitreißen, und daß sich dann die kleineren Einheiten zusammenfinden. Nur so können auch die ungeeigneten Elemente erkannt und ausgeschieden werden und frische, neue in unsere Kreise eintreten. Wer selbst aus irgendeinem Grunde diese intensive Tätigkeit nicht mitmachen kann oder will, sollte wenigstens andern nicht in den Weg treten.

Auf solche Weise würden zahllose in den heutigen Organisationen mehr oder weniger untätige Kräfte sich betätigen, wozu sie heute zu selten einen Antrieb erhalten. So wie bei einer Arbeit, die 3 erfordert, weitere Personen nur im Wege stehen, so sollte in diesen propagandistischen Einheiten nicht eine einzige Person zu viel sein. Nichts hindert, daß sich für bestimmte Zwecke, den Arbeitskampf, Bildung, Diskussionen usw. größere Mengen vereinigen, aber das enthebt nicht von der Notwendigkeit der wirklich aktiven kleinen Einheiten. Der Sozialismus ist keine Vereinssache, zu der eine bloße Mitgliederversammlung genügt: er will eine neue Welt und muß diese in intensivster Einzelarbeit selbst schaffen -, oder die Menschen werden nur die kümmerlichen harten Brocken erhalten, die ihnen die in einem Beamtenparadies lebenden Sozialdemokraten und Kommunisten, wenn sie zur Herrschaft gelangen, übriglassen würden.

Eine solche intensive Propaganda würde natürlich bald zur Erkenntnis führen, daß sie sich nicht auf Worte beschränken kann, wie die heutige, die den Kreis der Versammlungen, Zeitungen, persönlicher Fragen und dergleichen selten verläßt. So nützlich diese Agitationsmittel in den Anfängen waren und noch sind, so erschöpft sich doch ihre Wirkungskraft. Wer sich wirklich dem Sozialismus nähern wollte, hat es heutzutage bereits getan, und manche haben sich wieder von ihm abgewendet. Alle andern Parteien haben ihre Mittel auf diesem Gebiet ebenfalls verstärkt, und da beim besten Willen die Sozialdemokratie und der heutige Kommunismus keine Anziehungskraft auf außerhalbstehende Kreise ausüben, sondern direkt den Sozialismus diskreditieren, so kann auch das Wort, das Argument, der Appell an Verstand und Herz der freiheitlich sozialistischen Richtungen die Situation nicht retten. Dies kann nur und sollte schon längst geschehen auf einem Gebiet, auf das unsere Gegner uns nicht folgen können, auf dem Gebiet der wirklichen Tat.

Hier meine ich nicht diejenige Spezialisierung auf revolutionäre Gewalt, zu der man vor mehr als fünfzig Jahren griff, als man das Volk zu freiheitlich-revolutionärer Aktion bereit glaubte, wenn nur einige opfermutige Beispiele den Geist der Empörung in ihm erweckt haben würden (1876). In dieser Erwartung täuschte man sich, da größere Teile des Volkes sich bald dem politischen Sozialismus und den reformistischen Gewerkschaften anschlossen, später manche dem Diktaturkommunismus, und andere Teile sich von den klerikalen, nationalen und anderen Strömungen leiten ließen oder indifferent blieben und dies noch sind. Das war in den Jahren 1876 bis 1894 nicht in diesem Umfang vorauszusehen, ist aber heute allbekannt. Darum schon, und weil überhaupt nicht Einseitigkeit, sondern Vielartigkeit der Mittel das Richtige ist, ist der Begriff der beispielgebenden individuellen oder kollektiven Tat gegenwärtig ungemein erweitert und umfaßt alles Zweckentsprechende. Ebenso reiht dem Beispiel der Versuch, das Experiment, sich an, wozu es hohe Zeit war, da logischerweise der Versuch dem Beispiel vorangeht.

Aber am Beginn einer Erschließung eines neuen Gebiets glaubt man immer mehr zu wissen, als nach längerer Zeit der Forschung. Jeder neue Zweig der Wissenschaft begann mit einem großen Hypothesengebäude genialer Vorahner, das einen großen Impuls gab, aber allmählich meist gänzlich umgestaltet wurde. So war es mit den utopischen Vorahnern des Sozialismus, zu denen, wie wir jetzt wohl behaupten können, sowohl Saint Simon, Fourier und Robert Owen wie Marx und Engels gehörten, während mit Proudhon und Bakunin die kritische Stufe des Sozialismus begann, da beide den autoritären Dogmatismus und die auch Fourier und Owen eigenen Einseitigkeiten bekämpften und einen vorurteilslosen, freien Sozialismus zu begründen suchten.

So war es auch mit der Taktik, den Mitteln, die auf der utopischen Stufe einseitig, auf der kritischen Stufe vielartig werden. Der beständige Zusammenstoß mit der harten Wirklichkeit, grausamste Verfolgungen beengten die Wahl der Mittel, und so liegen die Verhältnisse in den Augen vieler noch heute. Aber es beginnt doch die Einsicht, daß die ungeheure Frage der Erneuerung des sozialen Lebens der Menschheit nach ihrem Bruch mit ihrer unfreien und unwissenden Vergangenheit nicht auf Grund bereits vorhandener Dogmen und Programme gelöst werden wird, sondern auf Grund allmählich erworbener und beständig erneuerter und erweiterter Erfahrung, deren Resultate durch das Beispiel verbreitet werden. Der experimentale Sozialismus wird also die dritte Stufe sein, und es wird Sache aller denkenden Sozialisten sein, diese Erfahrung unter würdigen Bedingungen zu erwerben und nicht durch Marter am blutenden und zuckenden Körper des Volks selbst, wie die russischen Bolschewisten es tun, indem sie das russische Volk fast jedes Jahr in eine neue Zwangsjacke einschnüren und so Erfahrung zur Aufrechterhaltung ihrer Usurpation sammeln nach Art der Vivisektoren.

Sie begannen mit dem "Kommunistenstolz der Unfehlbarkeit" und taumeln nun von Experiment zu Experiment. Der wirkliche experimentale Sozialismus wird bescheiden beginnen und bescheiden bleiben, und seine Erfahrungen werden Männer und Frauen durch ihr Leben, ihre Denk- und Handlungsweise beispielgebend unter die Menschen tragen, als Rebellion, wo es nötig ist, sonst als praktische Leute, keineswegs als Führer oder als Heilige. Ein lebensfähiger Sozialismus muß jedem für sich selbst erreichbar erscheinen, mit Mühe und Arbeit gewiß, aber nicht durch Märtyrertum und Askese. Er muß anziehend und hoffnungsvoll sein, ästhetisch befriedigend, menschlich gütig und nicht streng, exklusiv, eintönig. Er darf nichts wertvolles aus dem jetzigen Leben wegnehmen, sondern muß zeigen, wie alles Schöne und Gute wirklich erreichbar ist und noch vermehrt werden kann. Dann allein wird dem Sozialismus wieder Werbekraft, Anziehungskraft innewohnen, und die Menschen werden Vertrauen in ihn gewinnen. Daß dies nur den freiesten Formen des Sozialismus möglich sein wird, ist klar, und darauf beruht die Hoffnung des Anarchismus, der ja eigentlich nichts anderes wünscht als das Zusammenleben durch Solidarität verbundener Menschen, von denen jeder sich sein Leben frei ausgestaltet. Mögen der gegenwärtigen russischen Tragödie noch andere sozialistische Diktaturen folgen oder nicht, die Menschheit wird sie immer zu überwinden verstehen und wird nur den Sozialismus eines Tages freudig begrüßen, der ihr, wie der soeben in seinem Wesen charakterisierte freiheitliche Sozialismus, wirklich Freude und Freiheit bringt.

Von wem kann nun eine Verwirklichung der hier aufgestellten Forderungen erwartet werden? Nämlich die der Umwandlung der in Organisationen zum großen Teil brachliegenden Kräfte in assoziierte Einheiten zu intensiver sozialistischer Arbeit, und die des ernsten Beginns des experimentalen Sozialismus durch Erwerbung von Erfahrung und auf Grund derselben das werbende Beispiel. Nicht nur von Anarchisten, sondern von allen nicht diktatorischen Sozialisten muß dies erwartet werden; das Ziel ist nicht Einartigkeit, sondern die Fülle von Verschiedenheiten, wie sie das wirkliche Leben bietet, tatsächlich ja das freie und solidarische Leben selbst, in gleicher Weise befreit von Staat und Kirche, Kapital und allen Spuren des autoritären Sozialismus, des Panmarxismus.

Der Syndikalismus als solcher kann, nach meiner Auffassung, die Aufgabe nicht übernehmen, sollte ihr aber freundlich gegenüberstehen und nicht vorgreifend Hindernisse bereiten. Auf ihm lastet der Gegenwartskampf der Arbeit von Tag zu Tag, dessen Art und Form von dem kapitalistischen Feind abhängt, Angriff oder Abwehr, und dessen Aussichten und Resultat durch die stets wechselnden Gegenwartsfaktoren bedingt sind. Daß solche Kämpfe einmal große Dimensionen annehmen und den politisch-sozialen Zusammenbruch herbeiführen, den man die soziale Revolution nennt, ist möglich; möglich ist ebenso, daß diese Revolution durch andere Faktoren ausgelöst wird, wie 1917 in Rußland usw. Möglich ist also, daß der Syndikalismus eines Tages als der unmittelbare Sieger in einer sozialen Revolution erscheint. Bedeutet dies aber seine Verwirklichung, wie seinerzeit die Spanische Internationale und Regionale Föderation, später die französischen und andere Syndikalisten sich vorstellten, d. h. eine auf den Arbeiterassoziationen für Produktion und Güterverteilung aufgebaute freie Gesellschaft? Dies wäre eine Diktatur, wie jede andere und würde der gleichen Kritik begegnen. Der Sozialismus darf nie die Domäne einer einzigen Richtung werden und wäre es die für uns vorgeschrittenste und sympathischste.

Darum wird der experimentale Sozialismus nicht nur die erwähnten Erfahrungen sammeln und ins Beispiel umzusetzen haben, sondern auch die gegenseitigen Verhältnisse aller Richtungen, die sonst die Nachfolger der einander feindlichen Religionen, Nationen, Staaten, heutigen Parteien werden würden, zu untersuchen und diese Richtungen zu ruhigem Nebeneinander geistig und moralisch fähig zu machen haben, so daß ein sozialistischer Sieg nicht inter-sozialistische Kämpfe um die Alleinherrschaft zur Folge hätte, eine Hauptfrage, die ich in früheren Artikeln besprach und einer Lösung zuzuführen versuchte. All dies muß von den Gegenwartskämpfen getrennt werden, und der Sozialismus, wenn seine vielen Millionen eine Realität sind, wird für alle Aufgaben Kräfte besitzen. Wird er aber die moralische Kraft besitzen, sich durch solche ernste Arbeit geistig zu erneuern und der Menschheit wieder eine Leuchte zu werden, oder wird er fortfahren, im Schlepptau der Ereignisse dahinzutreiben, sich in vergangener Glorie sonnend - das ist die Frage.