Titel: Der geistige Faktor im menschlichen Befreiungskampf
AutorIn: Nettlau, Max
Datum: 1930
Bemerkungen: Aus: Die Internationale. Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau. Herausgegeben von der Freien Arbeiterunion Deutschlands (Anarchosyndikalisten) angeschlossen an die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA). Heft Nr. 9, III. Jahrgang. Berlin Juli 1930. S. 206-211

Die stete Verbindung materieller Herrschaft mit der Diktatur einer sie anerkennenden und rechtfertigenden Denkweise (Mentalität) und der Unterdrückung, Verkümmerung oder Entstellung der diese Herrschaft bekämpfen, den materiellen und geistigen Kräfte und Bemühungen hatte zur Folge, daß im Laufe der Geschichte nur ein geringer Teil der geistigen Kräfte der Menschheit für ihren wirklichen Fortschritt tätig sein konnte oder überhaupt zu größerer Entwicklung gelangte, von der Routine- und Unterdrückungstätigkeit im Dienst und im Interesse der Herrschenden abgesehen.

So kannten viele Jahrhunderte des Mittelalters nur den Dienst für die Herrschenden, beutelustiges politisches Ränkespiel, Gesetzauslegung, servile Kunst und Luxushandwerk für deren Zwecke, die gleichen Dienste für die Kirche, und mit allen Mitteln die Zurückhaltung des Volkes im Zustand der Unbildung, des Glaubens und des Gehorsams und die Vernichtung aller materiellen und geistigen Rebellen. Damals war der unabhängige Gedanke ein todeswürdiges Verbrechen, und unabhängig denkende Gemeinschaften wurden als Ketzer vernichtet, sei es durch einen Kreuzzug, wie die Albigenser. Wissenschaftlicher Forschung widmeten sich damals nur vereinzelte unter der größten Gefahr, und freieres politisches Denken war ebenso vereinzelt und nur in seltenen Fällen, in einigen wenigen der vielen Städte, von denen die meisten ebenso unfrei waren, wie alles übrige, konnten einzelne Männer sich harmonischer entwickeln, aber auch dann mit der vielfachsten bewußten oder unbewußten Anpassung an die bestehenden grausamen Verhältnisse.

Die europäische Geschichte spielte sich damals ab innerhalb von großen durch natürliche, sprachliche und wirtschaftliche Grenzen sich bereits abhebenden Gebieten zwischen der Vormacht eines solchen Gebiets, König und Staat, den territorialen Machthabern, Dynasten und Adel, den sich im Gegensatz zu letzteren entwickelnden Städten und der durch beständige Schenkungen überall reichbegüterten Kirche. Der Staat, von den Städten unterstützt, zwang die Dynasten und den Adel in gewissem Grade unter seine Macht, hatte aber in ihnen allen und in der Kirche dauernde Gegenspieler und nahm schließlich in einem Teil Europas den Kampf um Beute gegen die Kirche auf. Nun gewannen die Ketzer so vieler Jahrhunderte in der Reformationszeit auf einmal in einer Reihe von Ländern staatlichen Schutz und konnten die umfangreichste Abwendung vom Katholizismus vollziehen, wie mehr als tausend Jahre vorher durch die ,,Bekehrung" des Kaiser Konstantin das offizielle Rom sich plötzlich vom altrömischen Polytheismus abgewendet hatte.

Gewiß hatten Renaissance und Humanismus, das heißt die Wiederentdeckung der besten geistigen und künstlerischen Leistungen des griechischen und römischen Altertums in großem Umfang, ebenso die städtischen und Bauernbewegungen, die Seefahrten und der beginnende Buchdruck und andere Faktoren damals, im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, viele Geister erweckt, aber auch ihrem besten Willen und kühnsten Plänen und Voraussichten fehlte die Grundlage vergangener und gegenwärtiger praktischer geistiger Arbeit, der wirklichen Forschung. So haftete trotz allem das Denken an der Bibel oder an Aristoteles, und nur vereinzelte, wie Servet, der auch damals pünktlich verbrannt wurde — vom hervorragenden Reformator Calvin selbst (1553) — begannen wirklich in ein Wissensgebiet einzudringen. Ein niederdrückender Gegensatz trennt das Frische, Erwachende an Wille und Wunsch in seinen damaligen Anfängen von dem Dürftigen, Schwerfälligen, Zurückgebliebenen an Kenntnissen und Erkenntnis. Darum verflachte der geistige Anlauf jener Zeit in neuen, noch pedantischeren Religionen und dem bureaukratischen Ausbau des Staatswesens, mit nur ganz langsamen Anfängen in Wissenschaft, Technik und einem kräftigen Aufschwung in der Literatur, die durch den Druck nun zum ersten Male ungeahnte Verbreitung gewann und die übrigen Künste, die noch am Luxus hafteten, dauernd überflügelte. Aber erst das siebzehnte Jahrhundert schuf wissenschaftliche Werkzeuge, das achtzehnte befreite den Gedanken von den religiösen Fesseln und bahnte außerstaatliche Menschheitszusammenhänge an und das neunzehnte brachte endlich Wissenschaft und Technik zur vollen Entfaltung im Dienst der ganzen Menschheit, während das zwanzigste bereits zu ihrem Mißbrauch zugunsten der Herrschenden schreitet und einen neuen Abstieg zu beginnen scheint.

Wenn jener schwedische Diplomat im siebzehnten Jahrhundert sagte: es ist erstaunlich, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird, so liegt dem in viel weiterem Umfang noch die Tatsache zugrunde, daß bis dahin und bis heute nur ein erstaunlich geringer Teil der Menschen am Fortschritt geistig mitarbeitet, und daß sich der größte Teil ihrer geistigen Kräfte stets in den Dienst des herrschenden Zwangs und der Routine stellt. Jeder Theologe verewigt die religiösen Fiktionen, jeder Jurist wirkt staats-,eigentumerhaltend und gesetzvermehrend, jeder Arzt flickt nur die Opfer des heutigen Daseins mühselig zusammen, jeder sonstige geistige Arbeiter verteidigt auf irgendeine Weise das heutige System durch Unterricht, Presse, technische Leitung und allgemeine Förderung der befriedigten oder resignierten Durchschnittsmentalität, — jeder, mit leider sehr wenigen Ausnahmen, deren Größe nicht besonders wächst. Denn zum heutigen System gesellt sich immer mehr das System gewisser Erbanwärter hinzu, das sich sozialdemokratisch oder arbeiterparteilich, gewerkschaftlich oder kommunistisch nennt und das genau die Rolle des Protestantismus, von Luther und Zwingli zu Calvin und König Heinrich VIII. von England spielt, den lachenden Erben des Katholizismus in ihren Ländern, die für Freie Denker, wie Servet, für Rebellen, wie Thomas Münzer, dieselben Vernichtungsmittel verwendeten, wie die römische Kirche gegen Giordano Bruno, die Sorbonne gegen Etienne Dolet; wenn Thomas More, der Verfasser der ersten Utopia 1535 von Heinrich VIII. als Bekämpfer seiner kirchlichen Suprematie enthauptet wurde, brachte Campanella, der Verfasser der zweiten Utopie, des Sonnenstaates, siebenundzwanzig Jahre in den päpstlichen Kerkern zu usw. Damals wie heute, in jedem Zentrum des neuen herrschenden Protestantismus wie im jetzigen bolschewistischen Rußland, wurden die einen Augenblick revolutionären Kräfte in kürzester Zeit staatserhaltend und Todfeinde jeder wirkliehen Befreiung. Mit ihnen ihre ganze „geistige Leibgarde", zwischen der, ob sie nun, wie seiner Zeit jener Treitschke, sich die „geistige Leibgarde der Hohenzollern" nennt, oder ob sie jetzt vielfach die Leibgarde des Marxismus bildet, ein Unterschied in ihrem die Machthaber des Tages stets verherrlichendem und ihre Taten beschönigendem Wesen wahrlich nicht besteht.

So müssen wir als wahrscheinlich betrachten daß dieser Mangel an geistigen Kräften, mit denen ein aufrechter Charakter und freiheitlicher Wille verbunden sind, auch die Verwirklichung unserer Hoffnungen ungünstig beeinflussen wird, wenn eine entschiedene Kräftigung auf unserer Seite nicht angebahnt und erreicht wird; der Kampf ist sonst ein zu ungleicher. Die Massen, die ungeheure Mehrzahl, die grollende Unzufriedenheit, der aufmunternde Impuls einzelner Rebellen, Wünsche nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, furchtbare Provokationen der Herrschenden — all das hat es immer gegeben, aber trotz aller Versuche und selbst Revolutionen erfolgte ein entscheidender Durchbruch entweder nie oder, wo er wirklich wenige Male im ersten Ansturm gelang, war die geistige Disposition (Verfassung) der Massen eine solche, daß sie zuließen, daß ihnen die Früchte ihres Erfolges vor der Nase weggenommen wurden und daß sehr bald neue Machthaber die alte Sklavenpeitsche über sie schwangen. Es fehlt dem Volk nie, wenn es will, an materieller Kraft, aber es fehlt ihm — selbst wenn es wollte — leider an geistiger Kraft, seinen Erfolg zu behalten, und diese geistige Kraft muß es sich selbst aneignen und ein wesentlicher Teil der bereits vorhandenen geistigen Kräfte müssen mit ihm verbunden sein, oder es wird immer betrogen sein und bleiben.

Also eigene geistige Ertüchtigung des Volkes und uneigennütziger Anschluß vorhandener wertvoller geistiger Kräfte an seine gute Sache — dies scheinen mir die Haupterfordernisse zu sein, ohne die auch erfolgreiche Revolutionen der Menschheit Freiheit und Lebensglück nicht werden bringen können.

Ich weiß wie jeder, daß heute alle lebendigen Elemente irgendwie von irgendeiner Bewegung organisatorisch erfaßt sind, unzählige übrigens von rückschrittlichen oder geistig bedeutungslosen Bewegungen (Sport usw.). Ich bemerke aber auch, bei jeder Berührung mit dem wirklichen Leben, daß für die meisten diese Zusammenhänge nur oberflächliche sind und ihr übriges Wesen in der Alltäglichkeit haften bleibt, und daß weiteste Kreise von all dem kaum berührt sind und geistig gänzlich passiv von einer Zeitung zur anderen dahinleben. Der einzelne für sich tut meist wenig oder nichts und fühlt sich erst, wenn mit andern zusammen auftretend, mit einer Bewegung verbunden und ist gerade dann gewöhnlich von seiner Umgebung getrennt und ohne Kontakt mit Personen, auf die er wirken könnte. So schleppt sich eine ungeheure Scheintätigkeit dahin, die mit dem größten Aufwand von Mitteln das geringste erreicht. Wenn ich z. B. mit jungen Schülern von heute spreche, die bei noch so vielen Jugendbewegungen dabei sein mögen und sozusagen um jeden ihrer Wünsche herum einen Verein bilden und eine Zeitschrift gründen usw., so finde ich, daß sie von unzähligen Dingen, die wirklich jeder wissen sollte, einfach keine Ahnung haben. Vor fünfzig Jahren im Gymnasium, als wir uns alles geheim verschaffen mußten, von Lektüre jeder Art zur Wiener Zukunft damals und sogar Mosts Londoner Freiheit, und alles Verbotene irgendwie taten, da sammelten wir, jeder für sich oder im einfachsten privaten Verkehr, wirklich selbständig Kenntnisse an und Einblicke und Ueberblicke, die mir heute, wo die Schüler pädagogisch auf den Händen getragen werden und jeder nach Wunsch Parteigenosse irgendeiner Art ist, in hohem Grade zu fehlen scheinen, obgleich heute nichts mehr verboten ist. Ebenso fand ich damals, zehn Jahre später, unter den Arbeitern Leute, die wirklich sehr viel gelesen hatten und viel wußten, besonders in London und in der Schweiz; in den damals so wesentlich kleineren Bewegungen traten sie mit ihrer Erfahrung und ihrem Rat gewiß ganz anders hervor als heute, wo sie viel größeren Massen geistig wenig regsamer Mitglieder gegenüberstehen. Gewisse äußerliche Bildungsmittel sind seit damals unendlich vermehrt worden aber ihre Wirkung verliert sich immer mehr, übrigens schon dadurch, weil der heutige Sozialist weiß, daß er doch nichts zu sagen hat und daß es auf seine geistige Ausbildung nicht weiter ankommt, während der damalige Sozialist oft das Zeug in sich hatte, einer Welt von Feinden gegenüberzutreten, und die Pflicht fühlte, sich dazu geistig zu rüsten.

Ohne meine persönlichen Beobachtungen verallgemeinern zu wollen, scheint mir doch nach denselben die Annahme gestattet, daß die geistige Vertiefung unserer Bewegungen nicht mit der Zeit Schritt hält. Man kann nicht das geistige Leben auf die Parteigelehrten und Parteijournalisten überwälzen, wie die Marxisten es getan haben. Man kann nicht von dem Nachhall der Worte der älteren Verkünder des Anarchismus geistig leben, wie viele Anarchisten es tun. Man kann auch nicht der schwieligen Faust alles überlassen und das geistige Gebiet vorläufig bei Seite schieben, wie mancher tun zu sollen glaubt. Wenn etwas jederzeit Sache der unmittelbaren Gegenwart ist, ist es das Geistige, und ohne solche Tüchtigkeit in der Gegenwart stünden wir der Zukunft hilf- und ratlos gegenüber und die Früchte revolutionärer Erfolge würden andere ernten.

Ich habe kürzlich einmal überdacht, welche Anarchisten in den ersten hundert Jahren, etwa 1760 bis 1860, als originale Denker, die einen wirklichen Anstoß gaben, betrachtet werden können, und ich fand folgende zwölf: Sylvain Maréchal, Godwin, Josiah Warren, Proudhon, Max Stirner, J. J. May, Bakunin, Bellegarrigue, Elisée Reclus, Coeurderoy, Déjacque, Pisacanc. Sozialisten dieser Jahre wären etwa: Thomas Spence, Robert Owen, Babeuf, Saint Simon, Fourier, Pierre Leroux, Considérant, Pecqueur, Blanqui, Louis Blanc, Marx und Engels, Colins, Cabet. In den folgenden zwanzig Jahren, bis 1880, der Zeit der Internationale, treten neben Bakunin und Reclus noch in erster Linie hervor: De Paepe, James Guillaume, Malatesta, Kropotkin; auf sozialistischer Seite, neben Blanqui, Marx und Engels: Lassalle, Bebel, Tschernyschevsky und der zeitweilig antistaatliche, aber nie antisautoritäre Dühring. In den fünfzig Jahren seit 1880 begegnen wir originalen anarchistischen Leistungen von Reclus, Kropotkin, Malatesta, Antonio Pellicer Paraire, Ricardo Mella, Voltairine de Cleyre, Gustav Landauer, sozialistischen eigentlich nur von Marxinterpreten und -kritikern und eklektischen (nur auswählenden) Sozialisten, von Bernstein und Jaurès bis Lenin, und von dem liberal-soziali stischen Dr. Theodor Hertzka. Daneben laufen die ganzen Jahre hindurch ernste Bodenreformvorschläge, von Ogilvie (1782) und Patrick Edward Dove (1850) bis zu Henry George, Michael Flürschheim u. a., konstruktive Versuche und Utopien, von William Thompson und Godin bis Bellamy usw., die syndikalistische Literatur von ihren Ausgängen in der belgischen, Jurassischen und spanischen Internationale bis zu Pelloutier, Pouget usw., daneben die tradesunionistische und deutsche Gewerkschaftsliteratur, die genossenschaftliche Literatur, die neuere individualistische Literatur, die sexuellen, anti-militaristischen und anderen Spezialliteraturen und die Anwendung all dieser Ideen in solchen Werken der Literatur und Kunst, die sich über bloße Tendenzproduktionen zu erheben verstanden.

Um diese weiten Gebiete genauer zu überblicken, müßte die sich an jede der Hauptrichtungen und vieler anderer Nuancen anschließende sekundäre Literatur in ihren Verzweigungen und ihren Verbreitungskreisen betrachtet werden, was hier für mich ganz ausgeschlossen ist, Mein allgemeiner Eindruck ist aber der einer Verringerung der Vielartigkeit der ersten hundert Jahre, 1760 bis 1860, was zweierlei Ursachen haben könnte: die geistige Ueberlegenheit einiger weniger Richtungen oder ein Abnehmen der Originalität der Produktionen. Es kann aber auch zwischen beiden Ursachen ein Zusammenhang bestehen.

Was den autoritären Sozialismus betrifft, sollten wirklich Marx und Engels seit 1844 die einzige Lösung gefunden haben? Ihr Name deckte, wie wir wissen, ihre eigenen verschiedenen Auffassungen in den folgenden fünfzig Jahren, bis Engels 1895 starb, dann die ihrer Interpreten (Ausleger), dann die der in ihrem Namen handelnden Parteien und der Machtkämpfe unter ihnen. Als in Rußland eine Partei in diesen Kämpfen siegte, wechselt der Marxismus je nach der Lage des Landes und ihren Erfordernissen seine zur Anwendung gebrachte Form, d. h. es wird in seinem Namen experimental kalkuliert und dekretiert, und das Wetter, die Ernte, die Stimmung der Bauern bei schlechter, mittlerer oder guter Ernte und unzählige andere Faktoren des Lebens Rußlands und der übrigen Welt in ihrem Verhältnis zu Rußland bestimmen, was im Namen von Marx und Lenin von den die nominelle Diktatur des Proletariats jeweils faktisch beherrschenden Diktatoren verfügt wird. So ist es bei allen Handlungen aller sozialistischen Parteien, in deren Vorständen oder sonstigen Machthabern sich irgendwie der einzig maßgebende Sozialismus offenbart, wie die Weisheit der Kirchen in den Konzilien und im Papst. Weder eine wissenschaftliche Erkenntnis, noch der Wille der einzelnen Sozialisten bestimmen also Form und Wege des autoritären Sozialismus, sondern die aus komplizierten Organisations, und Administrationsapparaten schließlich herausdestillierten obrigkeitlichen Verfügungen, die amtliche Weisheit, so wie es bei allen Regierungen ist.

Ein solcher Sozialismus verewigt also die geistige Unmündigkeit des Volkes und, indem durch ihn graduell die noch vorhandenen geistigen Kräfte wie alle andern Akkumulationen (angesammelten Vorräte der Vergangenheit) verbraucht werden, würde eine solche Gesellschaft auf ein tieferes Niveau sinken und schließlich unausdenkbaren Katastrophen preisgegeben sein.

Wenn sich die geistigen Kräfte der Menschheit je einem Sozialismus zuneigen sollen, muß es also ein ganz anderer sein, ein freiheitlicher, wie der, auf den jene zwölf hervorragenden Männer, die ich oben nannte, von 1760 bis 1860 auf den verschiedensten Wegen zuschritten und den sie sich in den verschiedensten Formen und Stufen der Entwicklung vorstellten, wodurch sich ihre anscheinenden Unterschiede der Auffassung bereits verringern. J. J. May, Reclus, Coeurderoy, Déjacque sahen vor allem Stadien der äußersten Vollendung, auch Sylvain Marechal, während Bakunin und Pisacane sich auf die schweren Anfänge konzentrierten. Warren, Proudhon, Max Stirner, Bellegarrigue beschrieben Mittelzustände gerechtester Gegenseitigkeit auf der Grundlage des Vertrauens, ohne daß bereits die vollste Solidarität erreicht ist, die den Idealen von Reclus oder Coeurderoy zugrunde liegt.

In den Jahren 1860 bis 1880 wurde man sich hierüber klarer, und für die Anfangsperiode trat die Richtung Bakunin ganz in den Vordergrund, die Richtung Proudhon fiel in dieser Hinsicht so gut wie weg, und erst zuletzt, in fakultativer Form als persönliche Ueberzeugung seit 1876, in sehr affirmativer (bejahender) Form (Kropotkin und die französischen Anarchisten) seit 1880, trat die bis dahin äußerste kommunistische Entwicklung nunmehr an die Anfangsstelle, als gewünschter unmittelbarer Ausgangspunkt. Dies war, wie ich oft gesagt habe und immer mehr fühle, eine durch zeitliche Verhältnisse herbeigeführte Auffassung, deren Permanenz (Dauer) seit nunmehr fünfzig Jahren wieder die Frage offen läßt, ob dadurch diese Frage für alle Zeiten entschieden sei, oder ob besondere Umstände die kritische Prüfung derselben und weitere Entwicklungen verzögert haben. Auch wie die Sache jetzt liegt, sind nicht alle andern Auffassungen gänzlich abgestorben und hat auch der freiheitliche Kommunismus recht verschiedene Interpretationen erfahren, so daß alles dazu drängt, auf diesem Gebiete weiterzuarbeiten und sich nicht im Bannkreis alter Formeln zu bewegen.

Manche syndikalistischen Richtungen wünschen und erwarten, dem Anarchismus zuzusteuern; andere glauben einen Zustand erreichen zu können, der weder autoritärer Sozialismus, noch Anarchismus, sondern nur freiwillig zusammenarbeitende organisierte Arbeit sein würde. Unter diesen Umständen ist es für den Anarchismus nach wie vor schwer, in ein zweckmäßiges Verhältnis zum Syndikalismus zu gelangen, und umgekehrt. Dasselbe betrifft alle andern mit der Gegenwart verknüpften Bewegungen, die von manchen Anarchisten begrüßt, von andern abgelehnt werden.

So ist auf all diesen Gebieten noch heute viel Ungewißheit und wäre sehr viel geistige Arbeit erforderlich. Aber noch mehr: auch wenn wir seit zwölf Jahren Zeitgenossen der unzulänglichen Leistungen und moralischen Niederlagen des autoritären Sozialismus sind, hat dies unsere Sache gefördert? So steht es nicht, daß wir ohne weiteres Erben dieses mangelhaften Sozialismus wären. Nach der englischen Ausdrucksweise we are all in the same boat (schwimmen wir alle auf demselben Schiff), und der Schaden des einen ist auch der Schaden des andern. Kapitalismus Fascismus lauern auf den Untergang von uns beiden. Wäre es anders, hätten z. B. In Rußland die freiheitlich denkenden Kräfte andere gleiche Kräfte im Volk zu erwecken verstanden, wäre ihre gänzliche Ausschaltung und ihre Verurteilung zu endlosem Martyrium nicht auf diese Art möglich gewesen. Es hat sich keine Hand in Rußland für sie erhoben, weil irgendwie das Wertvolle ihrer Lehren dem Volk nicht zum Bewußtsein kam — und so steht es überall, einige Teile Spaniens ausgenommen, zwischen dem Volk und dem freiheitlichen Sozialismus und Syndikalismus. Warum ist es in jenen Teilen Spaniens besser? Weil dort im Volk selbst von alters her freiheitliche Traditionen, Freiheitswille bestehen und es fühlt, daß die Anarchisten an all das anknüpfen, es fortzusetzen und durchzuführen versuchen — das Volk versteht sie und sieht in ihnen Kräfte, in die es Vertrauen haben kann.

Elisée Reclus stellte einmal (2. Juni 1888) die Gegenden der Erde zusammen, in denen die Anarchisten am zahlreichsten sind, und es waren, nach seiner Meinung, „diejenigen, in denen die Geister am längsten von den religiösen und monarchistischen Vorurteilen befreit sind, in denen vorausgegangene Revolutionen den Glauben an die bestehende Ordnung erschüttert haben und in welchen die praktische Ausübung kommunaler Freiheiten am besten die Menschen daran gewöhnt hat, ohne Befehle auszukommen, und wo uneigennütziges Studium Denker entwickelt hat, die außerhalb der üblichen Cliquen stehen. Wo diese verschiedenen Vorbedingungen zusammentreffen, da entstehen Anarchisten. . . . . Die Rasse hat nichts damit zu tun, es liegt alles an der Erziehung . . ." (Corr. II, S, 441-442.) Dies sind die klügsten Worte, die gesagt werden konnten, und sie begründen die Eugenik der Anarchie, die nicht Gläubigen und Fanatikern, nicht Vereinzelten, die sich am Rande der Gesellschaft durchschlagen, nicht irgendwie organisiert auf sie zu Marschierenden ihre ersten größeren Verwirklichungen verdanken wird, sondern der solche dann nur gelingen werden, wenn sie an die besten, bestvorbereiteten vorhandenen Kräfte intelligent und nützlich anzuknüpfen verstehen wird — und als Vollenderin von deren besten Wünschen zu handeln weiß.

Wie ich schon früher einmal bemerkte, war nach der Reformation die Religion nicht erschüttert, sondern mächtiger und herrschsüchtiger als je, und der freie Gedanke konnte ihre Vorherrschaft erst brechen, als er als Wissenschaft Unendliches an allgemein Nützlichem leistete. So wird, nachdem Kapitalismus und autoritärer Sozialismus nebeneinander, Unterdrückung und Ausbeutung erst recht verschärfend, die so gründlich verpfuschte „Reformation" unserer Zeit bilden, die freiheitlich-sozialistische Auffassung sich erst durch Leistungen, wie die der Wissenschaft es waren, ihre dann unangreifbare Stellung und Verwirklichungsmöglichkeiten zu erringen haben. Denn sie bedeutet, wie die Wissenschaft, eine höhere Leistung, die günstige Vorbedingungen erfordert. All solche Vorbedingungen zu überspringen, ist ein schöner Traum und kann hier und da anscheinend gelingen, kann aber ebensowenig als Regel und Dogma aufgestellt werden, als man eventuelle Lotteriegewinne als sicheres Einkommen erklären würde. Mühe und Arbeit sind vielmehr notwendig, und ein wesentlicher Teil von ihnen sollte nicht der Uebermittlung des Ueberlieferten, sondern neuem geistigen Fortschritt gewidmet sein.

Anders geht es einfach nicht. Es ist ein Defizit an freiheitlich-sozial orientierter geistiger Tätigkeit vorhanden, und die Pflege und Fortpflanzung des bisher Geleisteten genügen nicht; Stillstand ist Rückschritt; nichts Kläglicheres, als wenn Wissenschaft von gestern über Dinge von heute urteilen zu können glaubt. Nicht allzu hohe Anforderungen glaube ich zu stellen, wenn ich dies hier schreibe, sondern ich wünsche nur, daß wir nicht unter das Mindestmaß sinken. Im Besitz der schönsten Ideen und des besten Willens konnten wir in einer bereits langen Zeit welthistorischer Umwälzungen und Umwertungen, in der sich alles regt, in der viele bisherige Schranken gegen freies Wort und Schrift gefallen sind, in der auf manchen Spezialgebieten, z. B. dem pädagogischen, freieres Denken sich wirklich entfaltet, eigene Leistungen, die die Allgemeinheit beachten müßte, nicht im wesentlichen Umfang vollbringen. Nicht die italienische und spanische Revolution, kein zollbreit Boden in Rußland, keine die trägen Großgewerkschaften in den Schatten stellenden allgemeinen syndikalistischen Erfolge, keine größere Beachtung des freiheitlichen Sozialismus gegenüber dem kommunistischen Lärm usw. Die stille Freude an dem Gedanken, daß die Welt an den Fehlern der gegnerischen Richtungen von selbst lernen wird, zu uns zu kommen, hilft uns nicht weiter. Die Welt, die Erdbevölkerung, ist noch immer eine von ihren eigenen Angelegenheiten absorbiert in unzähligen Einzelschicksalen dahinlebende Masse, die sich nur dem zuwendet, was ihr praktisch und nützlich erscheint oder was ganz und gar ihren Durchschnittswünschen und ihrer Durchschnittsphantasie entspricht. Sie sieht mit Vergnügen den autoritären Sozialismus abwirtschaften und betrachtet dadurch den ganzen Sozialismus als erledigt; unsere Hoffnungen und Ziele sind ihr so gut wie unbekannt.

Es ist wirklich noch alles zu tun, um unsere Ideen in lebendige Berührung mit den lebenskräftigsten Elementen der Menschheit zu bringen. Wie könnte dies je geschehen, wenn nicht ein Anfang gemacht wird? Die Naturkräfte waren immer vorhanden, aber erst die Wissenschaft und die Technik und die Arbeit machten sie nutzbar. Tun wir endlich dasselbe mit den Freiheitstrieben und Freiheitskräften der Menschen: wir besitzen etwas Wissenschaft und viel Arbeitskräfte; mit sehr viel mehr Wissenschaft und einer uns noch fehlenden wirklichen Technik wird es gelingen, den Freiheitswillen der Menschheit zu erwecken, und das ist unsere Hauptaufgabe.