Titel: Unser Standpunkt!
AutorIn: Olday, John
Datum: 1948
Quelle: Scan aus: Günter Bartsch, Anarchismus in Deutschland. 1965–1973. Band 2/3. Fackelträger-Verlag, Hannover 1973
Bemerkungen: Erschienen in: Räte-Anarchist Nr. 6/7, London 1948

In der deutschen Linken zeigt sich eine neue Strömung, die auch vom Auslande mit steigender Aufmerksamkeit verfolgt wird; denn in Deutschland entwickelt sich ein Prozeß, der infolge der außergewöhnlichen Einwirkungen und Umstände der letzten Jahrzehnte und der Gegenwart, in schärferer Vergrößerung auftritt als anderswo. Von ihm lassen sich Rückschlüsse auf die Entwicklung in den Ländern ziehen, in denen der gleiche Prozeß unauffälliger unter der Oberfläche vor sich geht.

Aber nicht nur deswegen erregen die Vorgänge in Deutschland besonderes Interesse. Die deutsche Arbeiterbewegung ist in der Vergangenheit für die internationale Arbeiterschaft richtunggebend gewesen und hat einen entscheidenden. Einfluß auf die geistige Einstellung und die Konstruktion der Arbeiterorganisationen in der Welt gehabt. In keinem Lande ist der Bankrott eben dieser Organisationen und ihrer Politik so vollkommen zutage getreten wie in Deutschland. Es ist daher nur natürlich, daß man mit besonderem Interesse die augenblicklichen Ansätze einer Neuorientierung und -gruppierung verfolgt und die eventuelle Auswirkung auf die Arbeiterschaft Deutschlands mit Spannung erwartet.

Die Neuausrichtungstendenz, die jetzt in den, durch die Verluste der Verfolgungen stark reduzierten Gruppen der Linken vor sich geht, ist durchaus nicht eine ausschließliche Angelegenheit dieser Gruppen, die sich abseits von den Reflexionen und der Stellungnahme der großen Masse vollzieht, obgleich bei oberflächlicher Betrachtung weder ein unmittelbarer Zusammenhang noch Wechselwirkungen zu bestehen scheinen. Dennoch reflektieren die Diskussionen der Gruppen die kritischen Argumente der Masse. Gelingt es den Gruppen, sich grundsätzlich auf einen freiheitlichen Nenner zu verständigen und eine gemeinsame Basis für alle Revolutionäre zu finden von der aus sich gemeinschaftlich operieren läßt; kristallisiert sich aus der augenblicklichen Gärung eine Synthese, die mit den elementarsten Gedankengängen und Aspirationen der fortschrittlichen Schichten der Masse harmonieren, so wird das Ergebnis notwendigerweise eine Massenbewegung sein, deren Intensivität von ungewöhnlicher Durchschlagskraft sein muß.

Es ist natürlich, daß jede Gruppe nach einer Formulierung ringt, die dem revolutionären Geist der militanten Schichten am nahesten entspricht und zugleich am ehesten die latenten revolutionären Kräfte in der breiten Masse zu entzünden fähig sein wird. Jedoch, mit bloßen Formulierungen und Proklamationen allein ist nichts getan. Nach allen bisherigen Profanierungen und Diskreditionen genügen jetzt weder Erklärungen, Definitionen noch Direktiven. Was heute notwendig ist, ist die Präsentation von unwiderleglich überzeugenden Tat-Sachen. Die formelle Adoption von Losungsworten wie »freiheitlich«, die Veröffentlichung von revolutionären Thesen allein, bleibt angesichts der totalen Deflationierung der Begriffe sinnlos, wenn der allein geltungsgebende Faktor der übereinstimmenden Haltung und Tat ausbleibt. Das herrschende Mißtrauen der Masse und die Aversion der deutschen Jugend gegen die Politiker aller Schattierungen läßt sich nicht mit Worten überbrücken, solange die Kluft zwischen den verkündeten Idealen und den tatsächlich vorhandenen Qualitäten der Verkünder im Widerspruch zueinander stehen. Das gilt nicht nur für diejenigen, deren politische Vergangenheit eine endlose Kette von nachweislicher Unfähigkeit, Irrtum, Verrat und Verbrechen darstellt.

Die im deutschen Spartakusbund [1] zusammengetretenen Gruppen haben ein moralisches Guthaben von nicht zu unterschätzendem Wert. Sie haben weder in der Weimarer Republik, noch in Hitler-Deutschland ihre revolutionäre Tradition aufgegeben. Mehr noch — sie haben, unter ungeheuren Opfern, ihre antireformistische, antiimperialistische, Antikriegs- und Rätepropaganda allen Widerständen zum Trotz aufrechterhalten. Und — sie haben nicht mit den Besatzungsmächten und ihren politischen Handlangern paktiert.

Der deutsche Spartakusbund präsentiert sich auf den ersten Blick als ein Konglomerat der verschiedensten Richtungen, die auf den beiden letzten Kongressen auftraten, und in gegenseitiger Toleranz ihre spezifistischen Positionen vertraten. Damit steht der Spartakusbund dort, wo er ursprünglich begann, als im März 1917 sich die deutschen Linksradikalen im Spartakusbund zusammengeschlossen. Dennoch handelt es sich nicht um eine Wiederbelebung des alten Spartakusbundes und schon gar nicht um eine Wiederaufnahme der Parolen »Rätestaat und Diktatur des Proletariats«, noch um zentralistische und parlamentarische Tendenzen. Wohl sind einige Traditionalisten und Konservative vorhanden, die, blind für die Lehren der Wirklichkeit, sich in Konzeptionen des politischen Bolschewismus festgebissen haben; solche, die den Stalinismus im Namen des reinen Bolschewismus ablehnen, jedoch sind sie in der verschwindenden Minderheit und die Entwicklung geht über die Stagnierten hinweg zur Tagesordnung über. Die in der deutschen Arbeiterschaft immer weiter um sich greifende Strömung kehrt sich von dem Politikantentum, dem Parlamentarismus und Etatismus ab und es zeigt sich, daß gerade die in 1918/19 verdrängte Opposition innerhalb des deutschen Spartakusbundes führend geworden ist, nämlich die KAPD mit ihren ausgesprochenen Antiparlamentarismus und Antigewerkschaftstum und die Anarchisten mit ihren antiautoritären Lehren. Sie geben dem heutigen Spartakusbund in Deutschland das freiheitliche Gepräge. Die Mängel der alten Arbeiterorganisationen und der alten Spartakusbewegung werden von allen erkannt und die bisherigen Ansätze zur Auffindung neuer, wirksamerer Wege, versprechen eine durchgreifende Erneuerung, durch die eine schließliche Überwindung aller reformistischen, opportunistischen, zentralistischen und autoritären Tendenzen gewährleistet zu sein scheint.

Wenn die allgemeine freiheitlich tendierte Strömung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft und der deutschen Jugend bisher nicht spontan in die vorhandenen anarchistischen Organisationen einmündet, so muß dafür ein Grund vorhanden sein, der nicht unbedingt erklärt zu werden braucht mit der Unkenntnis und Unreife der Masse. Es ist ein alter anarchistischer Grundsatz, daß die Masse im allgemeinen, und ihre militanten Schichten im besonderen, kein Abstraktum ist, sondern sich zusammensetzt aus denkenden und empfinden Einzelwesen, die, in allen revolutionären Situationen mehr Initiative, und in ihren Aktionen weit gesünderen politischen Instinkt gezeigt haben, als ihre Manager. Der Schluß liegt daher nahe, daß nicht nur die alten autoritären, sondern auch die antiautoritären Organisationen negative Symptome aufweisen, die das Mißtrauen der Massen stärken.

Wir wollen an dieser Stelle nicht auf den Reformismus der Pseudoanarchisten der FFS und der Leute von der »Freie Arbeiterstimme« eingehen, noch auf die zentralistischen Tendenzen der AFB und der hinter dieser stehenden spanischen Pro-kriegs-Anarchisten in England. Es genügt, daß wir feststellen, daß es Anarchisten und Halbanarchisten gibt, die eine spontane Massenaktion, d. h. die Anarchie wie sie Bakunin verstand, im Grunde genauso ablehnen, wie es die alte Sozialdemokratie tat und sie in sogenannten revolutionären Massenorganisationen auffangen und dirigieren möchte.

Von diesen Leuten wird Spartakus als eine Neuauflage des Bolschewismus und die rein räteanarchistischen Gruppen und Genossen, als verkappte Autoritäre und Marxisten verschrien.

Es liegt auf der Hand, daß die revolutionären Elemente der Masse und vor allen Dingen der Jugend kein Vertrauen haben kann zu angeblichen Anarchisten, die eine Beteiligung an Gewerkschaftsunternehmungen und für die Bildung von Genossenschaftskomitees und wohlbestallten Sekretariaten sind, und das um so weniger, als gerade aus diesem Lager sich diejenigen rekrutierten, die in der Vergangenheit für Beteiligung an Regierungen und am Kriege waren.

Wohl haben die echten Anarchisten sich von diesen Leuten zu distanzieren versucht; sie haben jedoch nicht verhindern können, daß im Bewußtsein der kritischen Masse die Tatsache vermerkt wurde, daß der ursprüngliche, grundrevolutionäre und integrale Anarchismus infektioniert wurde, und zwar von derselben Seuche bürgerlicher Herkunft, an die der ursprüngliche Sozialismus und Kommunismus eingingen. Der insurgente Anarchismus wurde in die Verteidigung gedrängt und fand es nötig, seine radikale Position zu rechtfertigen, anstatt sie immer und überall rücksichtslos zu verfechten. Die Tolerierung des schöngeistigen Pazifismus in seiner modernen »Linken« Aufmachung war der erste Schritt zur schließlichen Paralysierung des revolutionären Geistes in der deutschen sozialistischen Bewegung, und seine schleichende Verbreitung innerhalb der anarchistischen Bewegung, droht auch ihr der Akzent der konsequenten Rebellion zu nehmen. In den Spartakusgruppen ist der insurgente Geist dominierend. Die Tradition des Spartakus ist eine Tradition der Rebellion. Im Gegensatz zu allen anderen Bewegungen zeigt Spartakus eine aufsteigende Kurve in seiner Entwicklung gerade zu derjenigen Revolutionskonzeption Bakunins, von der sich die Anarchisten immer mehr zu entfernen scheinen. Spartakus will die gründlichste Zerstörung der bestehenden Systeme mit allen ihren bürokratischen Einrichtungen, um an ihre Stelle völlig neue revolutionäre Organe der menschlichen Beziehungen zu setzen, Organe, die nichts mit den parlamentaristischen Institutionen der bürgerlichen Revolution zu tun haben, noch mit deren Abklatsch, den Parteien, Gewerkschaften und kapitalistisch verseuchten Genossenschaften.

Gerade weil Spartakus eindeutig und unmißverständlich insurgent ist, werden die zur Empörung herangereiften Massen seine Botschaft hören und ihre Nutzanwendung verstehen, nämlich, daß die Befreiung nur ihr eigenes Werk sein kann und nur dann Erfolg haben wird, wenn sie die einmal ergriffene Initiative sich von keiner Seite aus der Hand nehmen lassen.

Es sollte zu denken geben, daß gerade diejenigen jungen Spartakisten, die sich vom autoritären Sozialismus mit seinem Integrantentum und bürokratischen Winkelzügen abwandten, heute am entschiedensten jede verschleierte Hierarchie und bürokratischen Zentralismus, wo immer sie ihn spüren, bekämpfen. Selbstredend werden im Spartakus wahrscheinlichkeitsberechnende politische Spekulanten auftauchen, um sich an hervorragender Stelle einzuschalten. Sicher werden sich Agenten einschleichen, um eine Zersetzung zu versuchen. Maniebesessene Pathologen, intigrierende Quertreiber, Geltungssüchtige und Geschäftemacher haben noch ihren Weg in jede Organisation hineingefunden. Sie können jedoch nur dort ungehindert agieren, wo bereits ein Nährboden Ausbeutung, Cliquengeist und – herrschaft und Korruption vorhanden ist. Wo aber der antiautoritäre Geist, das Prinzip der Gleichberechtigung tatsächlich vorhanden sind; wo die Identifizierung eines jeden mit der Bewegung sich in permanenter aktiver Anteilnahme und stets wacher Kontrolle äußert, da nützen die bloßen Lippenbekenntnisse der Ambitionierten, der macht – und führungslüsternen Dialektiker und Taktiker nichts, da sich, früher oder später, ihre Handlungen in offenem Widerspruch zur freiheitlichen Auffassung und allgemein gültigen Praxis der Bewegung offenbaren werden. Das Recht, ja, die Pflicht zur Kritik, ist der sicherste Garant dafür, daß die Grundsätze nicht entwürdigt werden. Entartung ist nur dort möglich, wo es an einer stets gegenwärtigen Kontrolle und Kritik aller über alle fehlt.

Durch die Abwürgung der Kritik degeneriert die Sozialdemokratie. Durch die Liquidation der Opposition wurde es erst möglich, daß sich die Kommunistische Partei zu ihrer gegenwärtigen Monströsität entwickeln konnte.

Sich aus Prestigegründen der allgemeinen Kritik oder gar der ebenso notwendigen Selbstkritik zu enthalten, ist nicht nur unweise, sondern auch gefährlich. Man kann immer nur gewinnen durch unbestechliche Offenheit.

Die Räteanarchisten im deutschen Spartakusbund, in dem sie, im Gegensatz zu den Spartakusgruppen im Ausland eine Minderheit sind, tolerieren die abweichenden Einstellungen der revolutionären Auffassungen der nichtanarchistischen Genossen unter dem natürlichen Vorbehalt der Vertretung ihrer eigenen Position. Wenn sie deshalb von Anarchisten als verkappte Marxisten, Autoritäre und Politiker hingestellt und des Opportunismus bezichtigt werden, weil sie zusammen mit ihren spartakistischen Genossen Wege zur Erneuerung und zwar: der revolutionären Erneuerung suchen und eine Synthese für die spartakistischen und anarchistischen Revolutionäre —, dann deutet die Kritik auf eine bedauerliche Unkenntnis der Kritiker. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Zusammenarbeit mit Revolutionären, von denen die meisten sich nur durch geringfügige Abweichungen von den Räteanarchisten unterscheiden und von denen manche im Wesentlichen anarchistischer denken und handeln als gewisse Leute, die sich je nach Situation Anarchisten nennen jedoch wo immer ihnen Gelegenheit geboten wird, mit Staats-, Partei- und Gewerkschaftspolitikern übelster Sorte zusammenwirken.

[1] Hinweis: Olday spricht hier nicht vom ursprünglichen Spartakusbund Rosa Luxemburgs, sondern von seinem eigenen.