Titel: Diskussion und Abstimmung über das Erbrecht auf dem Basler Kongreß der Internationale (10. September 1869)
Datum: 1869
Quelle: Konflikt mit Marx Teil 1. Texte und Briefe bis 1870; Kramer Verlag, Berlin 2004
Bemerkungen: Aus dem Französischen übersetzt von Michael Halfbrodt. Fußnoten leider nicht enthalten.

Auf der Tagesordnung steht die Diskussion der Erbrechtsfrage. Vor der Anhörung des Berichterstatters Brismee beschließt die Versammlung, dass bei allen weiteren Fragen kein Bericht außer dem der Kommission verlesen wird Brismée trägt im Namen der Kommission folgende Beschlüsse vor;

In Erwägung, dass das Erbrecht, das eines der wesentlichen Bestandteile des Privateigentums ist, in besonderem Maße dazu beigetragen hat, das Grundeigentum und den gesellschaftlichen Reichtum zum Nachteil der großen Mehrheit auf einige wenige zu übertragen, und es folglich eines der größten Hindernisse für den Übergang von Grund und Boden in Gemeineigentum ist.

Dass andererseits das Erbrecht, wie beschränkt seine Auswirkung auch sei, dadurch dass es die Menschen hindert, in den Vollbesitz der Mittel ihrer geistigen und materiellen Entwicklung zu gelangen, ein Privileg darstellt, dessen größere oder kleinere Bedeutung für die Praxis nicht die Tatsache aus der Welt schafft, dass es sich um ein Unrecht handelt und somit zu einer permanenten Bedrohung für das Gemeinschaftsrecht wird.

Dass außerdem der Kongress sich für das Gemeineigentum ausgesprochen hat und eine solche Erklärung unlogisch wäre, wenn sie nicht durch die nachfolgende bekräftigt würde.

Anerkennt der Kongress, dass das Erbrecht vollständig abgeschafft werden muss und dass diese Abschaffung eine der unerlässlichen Voraussetzungen für die Befreiung der Arbeit ist.

Eccarius erklärt im Namen des Generalrats, dass sie nach sehr ernsthaften Diskussionen zu Schlussfolgerungen gelangt seien, die denen der Kommission genau entgegengesetzt sind. In einer Kollektivgesellschaft sei das Erbrecht, so Eccarius, nur noch eine Familienangelegenheit, einen Missbrauch von Erbgütern könne es nicht mehr geben. Wolle man hingegen unter den gegenwärtigen Bedingungen dahin gelangen, dieses Recht einzuschränken, schlage er folgende Übergangsmaßnahmen vor:

a) Erweiterung der Erbschaftssteuern, die bereits in vielen Staaten bestehen, und in der Anwendung der dadurch erhaltenen Fonds zu dem Zwecke der sozialen Emanzipation.

b) Beschränkung des testamentarischen Erbschaftsrechts, weil es im Unterschied vom untestamentarischen oder Famlienerbrecht als willkürliche und abergläubische Übertreibung der Grundsätze des Privateigentums selbst erscheint.

Chemale: Wie der Bürger Brismée sagt, ist die Abstimmung über die vorherige Frage [des Gemeineigentums] wichtiger als die Entscheidung über das Erbrecht. Ist das Gemeineigentum erst einmal beschlossen, was gäbe es da noch zu erben? Vorausgesetzt es handelt sich nicht um ein Missverständnis und der Kollektivismus bezieht sich nur auf Grund und Boden. In diesem Fall wäre der Industriearbeiter gegenüber dem ländlichen Produzenten im Vorteil, denn er wäre Besitzer seiner Werkzeuge und folglich freier Produzent, während letzterer, zur Lohnarbeit gezwungen, sich in unterlegener Position befände.

Der Bürger Bakunin sagte uns heute Morgen, dass die Gesetze immer von einer intelligenten Minderheit gemacht worden seien. Darauf antworte ich, dass eben weil es immer intelligente Minderheiten sind, die Gesetze machen, wir hier protestieren. Und man wird gegen Ihre Entscheidungen ebenso protestieren, wie Sie es gegen diejenigen Ihrer Vorläufer getan haben.

Doch der Bürger De Paepe hat uns gerade gesagt: wir behaupten, dass die Diskussion über das Erbrecht noch eine Berechtigung hat, weil der Übergang von Grund und Boden in Gemeineigentum noch nicht vollzogen ist. Wird Ihr Votum zugunsten der Abschaffung des Erbrechts eine größere Wirkung haben?

Ich habe gegen ersteres [gegen das Gemeineigentum] gestimmt, auch wenn ich mein Votum als nutzlos betrachte. Ich beantrage, die zweite Frage [zum Erbrecht] zu übergehen.

De Paepe nutzt die zehn Minuten, die ihm eingeräumt wurden, um einige Absätze aus dem Bericht der Brüsseler Sektion über das Erbrecht zu verlesen. Als dauerhaftes und endgültiges Prinzip ist die Abschaffung der Erblichkeit nicht sinnvoll, heißt es in dem Bericht, als Mittel der sozialen Liquidation ist sie nicht wahrscheinliche.

In Erwiderung auf Eccarius und De Paepe sagt Richarde dass beide zwei Aspekte der Frage verwechselt hätten, nämlich das Recht des Arbeiters, über die Erzeugnisse seiner Arbeit zu verfügen, und die Tatsache, dass dies ein Privileg für den darstellt, der noch nichts produziert und nicht mehr als andere getan hat, um dieses besondere Recht zu verdienen. Er sagt, nicht individueller Willkür dürfe es überlassen bleiben, sondern die Gesellschaft müsse dafür sorgen, dass die Mittel geistiger und materieller Entwicklung unter den Menschen gleich verteilt würden. Wenn die Anhänger des Erbrechtsprivilegs dieses als wenig bedeutsam ansehen würden, sei das ein Grund mehr, es aufzugeben. Wenn sie Freunde der Gleichheit seien, dann müssten sie die oberste von allen respektieren, die Gleichheit des Ausgangspunkts.

Varlin. Wenn wir bereits alle Arbeitsgeräte sowie Grund und Boden in Gemeineigentum überführt hätten, würde sich natürlich die Frage des Erbrechts nicht mehr stellen. Aber so weit sind wir noch nicht: Für einen Großteil der gesellschaftlichen Arbeitsmittel haben wir das Eigentum noch nicht abgeschafft, nicht einmal in der Theorie. Würden wir unter diesen Bedingungen am Erbrecht festhalten, würden wir auch die Ungleichheit aufrecht erhalten, denn manche Kinder würden durch Erbfolge alles bekommen, was sie brauchen, während andere unweigerlich leer ausgehen. Zwar versichert man uns, durch die Einrichtung des zinslosen Kredites würden auch die Mittellosen alles Notwendige erhalten. Wenn sie ihn aber zurückzahlen müssen, sind sie immer noch schlechter gestellt als andere Bürger.

Ich möchte die Erbrechtsfrage noch unter zwei Gesichtspunkten betrachten: das Recht der Kinder auf die Besitztümer ihrer Eltern und das Recht der Eltern, über ihre Besitztümer zu verfügen.

Ich habe noch nie jemanden für das Recht der Kinder eintreten hören, ich bestreite es voll und ganz. Was das Recht der Eltern angeht, über ihre Besitztümer zu verfügen, wenn man es beibehielte, dürfte man es gerechterweise nicht auf die Kinder beschränken. Ein Eigentümer, wenn es denn noch einen gibt, muss unabhängig von der Person über seine Besitztümer verfügen dürfen, und dann ist es kein Erbrecht mehr, sondern das Recht, etwas testamentarisch zu vermachen.

Wir Kollektivisten akzeptieren das eine so wenig wie das andere.

Murat; Die Schlussfolgerungen Brismées sind nach der Abstimmung über das Eigentum logisch: Aber ich lehne sie ab, ebenso wie die Beschlüsse über das Eigentum.

Der Bürger Varlin hat gesagt, das Kind habe nicht mehr Rechte als irgendjemand sonst auf die Produkte der Arbeit seines Vaters. Er vergisst, dass vor allem auf dem Lande die Kinder, sobald sie drei oder vier Jahre alt sind, mitarbeiten. Wenn sie erben, handelt es sich schon zu einem großen Teil um ihre eigene Arbeit, die in dem Erbe steckt, das sie antreten.

Den Bürger Richard verstehe ich nicht. Denn wenn der Arbeiter, wie er sagt, als Eigentümer seines Produkts anerkannt wird und wenn er nicht alles verbraucht, was er produziert hat, kann er es immer noch vor seinem Tod verschenken oder verkaufen. Das würde die Abschaffung des Erbrechts hinfällig machen und stattdessen zu Betrug und Unmoral führen. Wenn alle, wie ich es mir wünsche, Eigentümer ihrer Arbeitsmittel wären, würden alle diese Schwierigkeiten verschwinden, und das Erbe könnte beibehalten werden.

Bakunin. Der Unterschied zwischen den Kollektivisten, die meinen, nachdem sie für das Gemeineigentum gestimmt haben, sei es überflüssig, auch für die Abschaffung des Erbrechts einzutreten, und den Kollektivisten, die wie wir der Meinung sind, dass es nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig ist, da- für zu stimmen, ist bloß einer der Perspektive.

Sie stellen sich vor, sie wären schon mitten in die Zukunft, nehmen das Gemeineigentum als Ausgangspunkt und befinden,‘ dass es keinen Grund mehr gebe, vom Erbrecht zu sprechen.

Wir indessen gehen von der Gegenwart aus, wir stehen unter der Herrschaft des siegreichen Privateigentums, und auf dem Weg zum Gemeineigentum stoßen wir auf ein Hindernis: das Erbrecht.

Wir meinen also, man müsse es beseitigen, abschaffen.

Im Bericht des Generalrats heißt es, das juristische Faktum sei immer nur Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse, so dass es genüge, letztere zu verändern, um ersteres hinfällig zu machen.

Es ist unbestreitbar, dass alles, was sich juristisches oder politisches Recht nennt, historisch gesehen nie etwas anderes gewesen ist als der Ausdruck oder das Produkt einer vollendeten Tatsache. Aber es ist ebenso unbestreitbar, dass das Recht, nachdem es Wirkung vorheriger Taten und Tatsachen gewesen ist, seinerseits zur Ursache späterer Taten, selbst eine sehr reale und machtvolle Tatsache wird, die man beseitigen muss, wenn man zu einer anderen als der bestehenden Ordnung der Dinge gelangen will.

So ist das Erbrecht, nachdem es zunächst die natürliche Folge der gewaltsamen Aneignung der Naturschätze und der gesellschaftlicher Reichtümer war, später zur Grundlage des politischen Staates und der juristischen Familie geworden, die das Privateigentum zum Gesetz erheben und schützen.

Folglich müssen wir für die Abschaffung des Erbrechts stimmen.

Man hat uns viel von Praxis erzählt. Und eben im Namen der Praxis empfehle ich ihnen, für die Abschaffung des Erbrechts zu stimmen.

Es war heute zu hören, dass die Umwandlung des Privateigentums in Gemeineigentum auf großen Widerstand bei den Bauern, den kleinen Grundbesitzern stoßen werde.

In der Tat — wenn man versuchen würde, nachdem man die soziale Liquidation verkündet hat, diese Millionen Kleinbauern per Dekret zu enteignen, würde man sie zwangsläufig in die Arme der Reaktion treiben, und um sie der Revolution zu unterwerfen, müsste man Gewalt, d.h. die Reaktion, gegen sie einsetzen.

Man muss ihnen also den faktischen Besitz an diesen Parzellen lassen, deren Eigentümer sie heute sind. Aber wenn Sie das Erbrecht nicht abschaffen, was würde dann passieren?

Die Bauern würden diese Parzellen mit Billigung des Staates als Eigentum auf ihre Kinder übertragen.

Sie würden das Privateigentum, dessen notwendige Abschaffung und Umwandlung in Gemeineigentum Sie befürwortet haben, für alle Ewigkeit erhalten. Wenn Sie aber zugleich mit der sozialen Liquidation auch die politische und juristische Liquidation des Staates verkünden, wenn Sie das Erbrecht abschaffen, was bliebe dann den Bauern?

Nichts als der faktische Besitz, und dieser Besitz, der keine Rechtsgrundlage hat und nicht mehr unter dem mächtigen Schutz des Staates steht, wird sich unter dem Druck der Ereignisse und der revolutionären Kräfte leicht verändern lassen.

Es wird Schluss der Debatte beantragt.

Mehrere Delegierte sind der Meinung, dass die Frage noch nicht hinreichend geklärt sei.

Liebknecht ist für Schluss der Debatte: Wir können noch zwanzig Kongresse weiterdiskutieren und würden immer wieder zu denselben Schlussfolgerungen gelangen. Wir haben heute noch drei Fragen, darunter eine sehr wichtige, über die Widerstandsvereine die einige Stunden in Anspruch nehmen wird, und die sollten wir nicht mit der Erbrechtsfrage vertrödeln.

Das Ende der Debatte wird beschlossen.

Die namentliche Abstimmung über den Antrag der Erbrechtskommission ergab folgendes Resultat:

68 abgegebene Stimmen; absolute Mehrheit; 35.

32 Ja-Stimmen. 23 Nein-Stimmen. 13 Enthaltungen.

Mit Ja haben gestimmt: Sentinon, Farga Pellicer, Robin, Bastin, Brismée, Varlin Robert, Hins, Heng, Brosset, Floquet, Jaillet, Schwitzguébel, Bourseau, Outhier, Bakunin, Caporusso, Richard, Palix, Monnier, Fourreau, Dereure, Rittinghausen, Guillaume, Leßner, Neumayer, Collin, Becker, Jannasch, Krieger, Gorgé, Martinaud.

Mit Nein haben gestimmt: Aubry, Tolain, Murat, Pindy, Piéton, Langlois, Chemalé, Qumche, Applegarth, Eccarius, Stepney, Jung, Starke, Hess, Lei- singer, Gut, Greulich, Liebknecht, Fruneau, Tartaret, Bürger, Cameron, Frey.

Enthaltungen: De Paepe, Landrin, Dosbourg, Durand, Roussel, Flahaut, Mollin, Franquin, Grosselin, Creusot, Goegg, Bruhin, Scherrer.

Abwesend: Perret, Lucraft, Spier, Bohny, Holeiter, Bürkli.

Krank: Überwinder.

Anschließend erfolgt die Abstimmung über den Antrag des Generalrats.

Abgegebene Stimmen: 62; Absolute Mehrheit: 32.

19 Ja-Stimmen, 37 Nein-Stimmen, 6 Enthaltungen.

Der Antrag ist abgelehnt.

Mit Ja haben gestimmt: Bastin, Goegg, Rittinghausen, Bruhin, Quinche, Applegarth, Eccarius, Stepney, Jung, Leßner, Neumayer, Hess, Leisinger, Gut, Greulich, Liebknecht, Krieger, Cameron, Frey.

Mit Nein haben gestimmt: Farga Pellicer, Robin, De Paepe, Brismée, Aubry, Varlin, Robert, Tolain, Dosbourg, Hins, Murat, Pindy, Franquin, Heng, Brosset, Floquet, Jaillet, Schwitzguébel, Bourseau, Outhier, Piéton, Bakunin, Caporusso, Langlois, Richard, Palix, Monner, Fourreau, Dereure, Chemalé, Guillaume, Starke, Jannasch, Gor- gé, Martinaud, Fruneau, Tartaret.

Enthaltungen: Sentinon, Landrin, Roussel, Flahaut, Mollin, Collin.

Abwesend: Durand, Perret, Grosselin, Cruesot, Lucraft, Spier, Becker, Bohny, Holeiter, Scherrer, Bürkli, Bürger.

Krank: Überwinder.


Ende der Sitzung um 7 Uhr.