Titel: Unkontrollierbar
AutorIn: Fernweh
Datum: August 2013
Quelle: http://fernweh.noblogs.org/texte/4-ausgabe/unkontrollierbar/
Bemerkungen: Anonym publiziert in "Fernweh" Nr.4 August 2013 München

Wenn wir uns als Anarchist_Innen mit anderen Menschen zusammentun um gemeinsam zu kämpfen, organisieren wir uns auf eine bestimmte Art und Weise. Wir tun dies aber nicht so, wie die meisten Bereiche in dieser Gesellschaft organisiert sind: Sie sind allesamt autoritär und hierarchisch. Die Schule ist beispielsweise streng hierarchisch, es gibt Direktoren, Lehrer, Hausmeister und Schüler. In der Arbeitsstelle gibt es Chefs, Filialleiter, Abteilungsleiter, Mitarbeiter, Praktikanten und „Putzfrauen“. Bei der Armee gibt es Generäle, Offiziere, Unteroffiziere und Fußsoldaten. In der Familie gibt es den Vater, die Mutter, die Verwandten und schließlich die Kinder. Überall ist es das gleiche und umso weiter unten du in der Hierarchie stehst, desto mehr Leuten musst du gehorchen.

Wenn wir nun davon ausgehen, dass auf der Welt oder in unserem täglichen Leben etwas schief läuft (worüber wir uns, glaube ich, alle einig sind) und wir daran etwas ändern wollen, können wir das jedoch nicht nur alleine tun, sondern gemeinsam mit anderen Menschen. Aber alle Organisationen, die uns angeboten werden, wenn uns etwas nicht passt und wir uns gegen etwas „engagieren“, „ein Zeichen setzen“ oder „wehren“ wollen, gleichen mehr oder weniger diesem hierarchischen Aufbau. Warum sollten wir nun, wenn wir genau gegen diesen hierarchischen Aufbau der Gesellschaft kämpfen wollen uns wieder mit Führern, Abgeordneten und Repräsentanten organisieren? Warum sollten wir um etwas zu ändern, einer Partei, Gewerkschaft oder sonstigen heuchlerischen Organisation beitreten, obwohl diese sowieso immer nur ihre eigenen Interessen verfolgen? Sie funktionieren allesamt wie Automaten, immer nach den gleichen Regeln, Abläufen und Routinen. Unsere eigenen Ideen und Vorstellungen finden in ihren Besprechungen und Anträgen keinen Platz. Alles muss mit allen „Mitgliedern“ abgeklärt oder von irgendeinem Vorstand abgesegnet werden. Im Grunde wollen sie uns nur auf ihrer Mitgliederliste oder Spendenkartei sehen, um eine möglichst große Anhängerschaft zu erlangen. Um den abgestandenen Mief dieser formellen Organisationen hinter uns zu lassen, wollen wir uns mit den Leuten zusammen zu tun, denen wir vertrauen und mit diesen versuchen, je nach Lust und Fähigkeit, die Aktionen auszuführen, die wir für sinnvoll halten.

Das ist das was wir Selbstorganisation nennen. Sich selbst zu organisieren bedeutet, sich keinem Programm unterzuordnen, sondern gemeinsam mit den Leuten, die einem nahe stehen zu überlegen, was wir beschissen finden und wie wir das ändern wollen. Sich selbst zu organisieren bedeutet keine Chefs oder Führer zu akzeptieren, die uns vorschreiben wollen wie wir uns zu verhalten haben. Sich selbst zu organisieren bedeutet auch Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für die Sachen die wir machen und die Sachen die um uns herum passieren, und diese Verantwortung nicht an verlogene Politiker abzugeben.

Um unsere Idee von Selbstorganisation an einem Beispiel zu verdeutlichen, wollen wir hier deren Grundrisse anhand von Graffiti-Crews skizzieren. Das Beispiel ist ziemlich beliebig und hier soll es auch nicht um das Konkurrenz- und Statusdenken gehen, welches es, wie in unserer ganzen Gesellschaft, natürlich auch in der Graffitiszene gibt. Das ist hier auch nicht das Thema, denn statt um Graffiti-Crews könnte es hier auch um Aufständische in Ägypten gehen, die mit aller Kraft ihre Regierung stürzen wollen oder um dich und einige deiner Freunde, mit denen du den Bau des neuen Justizzentrums am Leonrodplatz verhindern willst. Wenn wir dieses Beispiel gewählt haben, dann nur um unsere Ideen für eine Selbstorganisation des Angriffs, jenseits von Parteien oder anderen Organisationen, zu verdeutlichen. Eine Organisationsform welche vom Individuum und seinen Bedürfnissen ausgeht.

Graffiti-Crews sind selbstständige, unabhängige Kleingruppen mit beliebig vielen Leuten, die sich für einen bestimmten Zweck zusammen getan haben. Es gibt unzählige verschieden Crews in einer Stadt, teilweise kennen sich die Leute aus den verschiedenen Crews, teilweise auch nicht, es gibt auf jeden Fall kein übergeordnetes Programm oder eine Mitgliederliste. Die einen sind vielleicht mehr daran interessiert Züge zu verschönern, während die anderen sich eher für graue Häuser-Fassaden begeistern. Auf jeden Fall gibt es keine feste (Graffiti-)Organisation, denn die beteiligten Personen entscheiden selbst wo sie ein Bild malen wollen oder welche Aktionen sie als notwendig ansehen. Das heißt natürlich nicht, dass es keine geplanten Aktionen gibt, ganz im Gegenteil, aber die Planung zielt immer auf die Aktion ab.

Das was die unterschiedlichen Leute miteinander verbindet, ist ein gemeinsames Projekt, in diesem Falle das der Farbangriffe. In diesem Projekt vertiefen die einzelnen Personen ihre Kenntnis voneinander. Dieses genaue Kennen der Personen mit denen mensch zusammen handelt, ermöglicht es einem etwas über die jeweiligen Fähigkeiten, Motivationen, Ängste, Ideen und Bedürfnisse, aber auch über die gegenseitigen Unterschiede zu erfahren.

Denn wenn die unterschiedlichen Vorstellungen und Pläne nicht mehr zusammen passen, macht dies ein gemeinsames Handeln unmöglich. Andererseits wird eine Crew durch das gegenseitige Wissen voneinander immer effektiver, kann immer besser gemeinsame Aktionen machen, ihre Umgebung erforschen und tiefgründiger Ideen austauschen. Dieses Vertiefen von gegenseitigem Wissen ist ein endloser Prozess und je fortgeschrittener dieser ist, desto intensiver ist die Verbindung zueinander.

Der gemeinsame Antrieb ist aber immer die Aktion, denn diese ermöglicht es Diskussionen und Ideen zu klären und in die Tat umzusetzen. Diese (Farb-)Angriffe zielen auf einen stetigen Konflikt ab, sie sind keine vereinzelten Aktionen, sondern ein ständiger Prozess in dem versucht wird mit unterschiedlichen Mitteln etwas Konkretes zu verändern bzw. zu zerstören. Allerdings sind die Mittel für diese Aktionen nicht festgelegt und es besteht auch keine Hierarchie unter ihnen. Egal ob Sprühdose, Marker, Feuerlöscher oder Schleifpapier, alles macht die Stadt bunter und greift die Ordnung der Dinge an. Zu dieser Ordnung gehört aber weit mehr als nur graue Wände und hässliche S-Bahnen, dazu gehört auch die ständige Überwachung und Kontrolle, die Polizei, Securities, die Justiz, die aufgewerteten Viertel etc.,denn letztendlich richtet sich all das auch gegen Graffiti-Crews und ihre Aktionen.

Doch um all das anzugreifen und etwas dagegen ausrichten zu können, braucht es keine im herkömmlichen Sinn besonders „starke“ Crew. Unsere Auffassung von Stärke hat nichts mit einer Masse, einer riesigen Gefolgschaft oder muskulösen Kerlen zu tun. Gemeinsame Stärke heißt viel eher, dass jede_r ihre oder seine individuellen Stärken entwickelt und entfaltet und sich je nachdem flexibel und wandelbar mit anderen zusammen tut, anstatt den eigenen Willen einer Masse unterzuordnen und sich selbst auf eine bloße Zahl zu reduzieren, die austauschbar und vergleichbar mit all den anderen Zahlen, Nummern und Mitgliedern ist.

Durch die Aktionen einiger weniger werden andere Menschen auch dazu angeregt sich selbst zu organisieren und das Bestehende anzugreifen. Jedes gemalte Bild und jede Aktion ist ein Vorschlag, eine Einladung, denn es zeigt wie einfach es ist etwas zu verändern, anzugreifen oder etwas lahm zu legen. Doch dieser Vorschlag ist nicht darauf angelegt, dass sich ihm Leute anschließen, denn schließlich kann jede Crew ihr eigenes Projekt radikalisieren, auch ohne dass neue Crews aus dem Boden geschossen kommen.

Dass die unterschiedlichen Personen in einer Crew ein gemeinsames Ziel verbindet, heißt aber nicht, dass sie dies in irgendeinem feststehendem Programm auszuformulieren hätten. Schließlich hat jede Person ihre eigenen Motivationen, Überzeugungen und Ideen und diese können sich auch entwickeln oder verändern. Denn wenn der gemeinsame Zweck einer Organisierung nicht mehr bestehen würde, hätte es keinen Sinn sich in Zukunft noch zusammen zu tun und jede einzelne Person hat sich nun neue Kompliz_innen zu suchen. Denn einer der wichtigsten Aspekte dieser Selbstorganisierung ist wohl, dass jede Person stets seine_ihre Selbstständigkeit behält. Niemand ist zu irgendetwas gezwungen und wenn mensch etwas anderes machen will, hat er_sie stets die Möglichkeit dazu. Alle Crew-Mitglieder treffen gemeinsame Entscheidungen, also niemand trifft Entscheidungen über jemanden anderen und nur diejenigen, die von der Entscheidung betroffen sind, entscheiden sie gemeinsam.

Jede Crew agiert unabhängig von einander, aber wenn ein gemeinsames Interesse besteht, auch zusammen mit anderen Crews oder Einzelpersonen. Diese Form des Organisierens ist auch am schwersten zu kontrollieren, da es keine Anführer gibt die man ausschalten könnte um die anderen Graffiti-Maler zu stoppen. Im Gegenteil dazu ist eine hierarchische Organisation erst mal handlungsunfähig wenn ihr Oberhaupt beispielsweise verhaftet wird. Selbstorganisierte Gruppen stellen in ihrer Form und ihrem Inhalt die schlichte Ablehnung von Autorität, Zentralismus und Disziplin dar. Sie begeben sich in keinen Stirn-gegen-Stirn Kampf mit der Macht oder wollen eine „Gegenmacht“ aufbauen, sondern haben ihre Stärke in ihrer Verstreutheit, die unkontrollierbar die Ordnung untergräbt und zersetzt.

Wenn wir also diese Gesellschaft mit ihren Hierarchien und all der Langeweile, Routine und Abstumpfung ablehnen und eine andere Welt des Abenteuers und der Freiheit aufbauen wollen, müssen wir die heutige Welt der Autorität und Unterdrückung überwinden. Diese verrottete Gesellschaft lässt sich überall angreifen, unzählige Personen und Firmen profitieren von diesem System und sind an jeder Ecke auffindbar. Doch du musst selbst herausfinden was dich an deinem Leben ankotzt, was dich tagtäglich unterwirft und was dir ein Dorn im Auge ist. Um diese Sache, Institution, Struktur oder was auch immer anzugreifen, brauch es nur ein paar Leute denen du vertraust (vor allem, dass sie nie mit den Bullen reden oder dich verpfeifen würden), einen guten Plan und ein paar Sicherheitsmaßnahmen um Stress mit den Bullen zu verhindern. Ziele gibt es tausende, genauso wie es unzählige Mittel gibt diese anzugreifen oder zu sabotieren, das einzige was ihr braucht, ist etwas Kreativität und Entschlossenheit.

Je mehr autonome Kleingruppen es gibt und je intensiver diese in ihrem Umfeld versuchen Firmen, Strukturen und Einzelpersonen anzugreifen, umso breiter gefächerter diese Angriffe sind und umso mehr Personen, mit ihren individuellen Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten daran teilnehmen, desto zerstörerischer wird der Angriff. Und je mehr zerstört wird, desto mehr Raum entsteht um eine neue Welt und neue, von gegenseitiger Hilfe geprägte, soziale Beziehungen aufzubauen.

Selbst organisierte, unabhängige Kleingruppen sind unmöglich zu kontrollieren und können unabhängig von einander überall dort zuschlagen wo es niemand erwartet…

Und je mehr kleine Gruppen sich bilden, desto unkontrollierbarer wird die Situation…