Titel: Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen
Datum: 1914
Quelle: Aus: Errico Malatesta: Anarchistische Interventionen – Ausgewählte Schriften (1892–1931)
Bemerkungen: Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel »Anarchists have forgotten their Principles« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 307 (November 1914). Aus dem Englischen übersetzt von Felix Kurz.

Auf die Gefahr hin, als Einfaltspinsel zu gelten, gestehe ich, es niemals für möglich gehalten zu haben, dass Sozialisten – oder selbst Sozialdemokraten – einem Krieg wie dem gegenwärtig Europa verwüstenden Beifall spenden und freiwillig, sei es auf der Seite Deutschlands oder der Alliierten, an ihm teilnehmen würden. Was aber soll man sagen, wenn Anarchisten dasselbe tun – zwar nicht viele, das stimmt, darunter jedoch einige der geschätztesten und angesehensten Genossen? [1]

Es wird behauptet, die gegenwärtige Situation offenbare den Bankrott »unserer Formeln« – d.h. unserer Prinzipien – und man müsse sie revidieren.

Allgemein gesprochen muss jede Formel revidiert werden, wenn die gegebenen Fakten sie als unzureichend erweisen; doch das ist heute nicht der Fall, wo nicht etwa Mängel unserer Formeln, sondern die Tatsache, dass sie vergessen und verraten wurden, zu einem Bankrott führen.

Lasst uns zu unseren Prinzipien zurückkehren.

Ich bin kein »Pazifist«. Ich kämpfe, wie wir alle, für den Triumph von Frieden und Brüderlichkeit unter allen Menschen; doch ich weiß, dass der Wunsch, nicht zu kämpfen, nur dann erfüllt werden kann, wenn keine Seite dies tun möchte, und dass, solange es Menschen gibt, die die Freiheiten anderer verletzen, diese anderen sich verteidigen müssen, wenn sie nicht ewig geschlagen werden wollen; und ebenso weiß ich, dass Angriff häufig die beste, oder einzige, Verteidigung ist. Außerdem denke ich, dass die Unterdrückten immer in einer Situation legitimer Selbstverteidigung sind und immer das Recht haben, die Unterdrücker anzugreifen. Ich räume deshalb ein, dass es notwendige, heilige Kriege gibt: Kriege der Befreiung, die in der Regel »Bürgerkriege«, d.h. Revolutionen sind.

Doch was hat der gegenwärtige Krieg mit der menschlichen Emanzipation gemein, um die es uns geht?

Heute hören wir, wie Sozialisten – nicht anders als irgendein Bürger – von »Frankreich«, »Deutschland« und anderen politischen und nationalen Gebilden, die das Ergebnis historischer Kämpfe sind, so reden, als wären es homogene ethnographische Einheiten mit jeweils eigenen Interessen, Bestrebungen und eigener Mission, die im Gegensatz zu denen der rivalisierenden Einheiten stehen. Dies mag relativ gesehen stimmen, solange die Unterdrückten, namentlich die Arbeiter, kein Selbstbewusstsein haben und die Ungerechtigkeit ihrer Unterdrücker nicht zu erkennen vermögen. Dann kommt es allein auf die herrschende Klasse an; und aufgrund des Bedürfnisses, ihre eigene Macht zu erhalten und zu vergrößern, ja sogar aufgrund eigener Vorurteile und Auffassungen mag es dieser Klasse gelegen scheinen, rassische Bestrebungen und Rassenhass zu entfachen und ihre Nation, ihre Herde, gegen »fremde« Länder in Marsch zu setzen, um diese ihren gegenwärtigen Unterdrückern zu entwinden und der eigenen politisch-ökonomischen Herrschaft zu unterwerfen.

Doch die Aufgabe derer, die wie wir das Ende jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen anstreben, besteht darin, ein Bewusstsein des Interessenantagonismus zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Ausbeutern und Arbeitern zu wecken und innerhalb jedes Landes den Klassenkampf sowie die grenzüberschreitende Solidarität aller Arbeiter zu entfalten, gegen jegliches Vorurteil und jegliche Begeisterung für Rasse oder Nationalität.

Und wir haben dies schon immer getan. Wir haben immer propagiert, dass die Arbeiter aller Länder Brüder sind und dass der Feind – der »Fremde« – der Ausbeuter ist, ob er nun in der Nähe oder in einem fernen Land geboren ist, ob er dieselbe Sprache oder irgendeine andere spricht. Wir haben unsere Freunde, unsere Kampfgefährten, ebenso wie unsere Feinde immer nach den von ihnen vertretenen Ideen und ihrer Position im sozialen Kampf, niemals aber mit Blick auf Rasse oder Nationalität bestimmt. Wir haben den Patriotismus, ein Relikt der Vergangenheit, das den Interessen der Unterdrücker gute Dienste leistet, immer bekämpft; und wir waren stolz darauf, nicht nur in Worten, sondern im Tiefsten unserer Seele Internationalisten zu sein.

Und nun, da die grauenvollsten Folgen kapitalistischer und staatlicher Herrschaft selbst den Blinden zeigen, dass wir im Recht waren, verbünden sich die Sozialisten und viele Anarchisten in den kriegführenden Staaten mit der Regierung und der Bourgeoisie ihres jeweiligen Landes, vergessen sie den Sozialismus, den Klassenkampf, die internationale Brüderlichkeit und alles übrige. Welch‘ tiefer Fall!

Es mag sein, dass die gegenwärtigen Ereignisse gezeigt haben, dass nationale Gefühle lebendiger, Gefühle internationaler Bruderschaft hingegen schwächer verwurzelt sind, als wir dachten; aber das sollte ein Grund mehr sein, unsere antipatriotische Propaganda zu verstärken, anstatt sie aufzugeben. Die Ereignisse zeigen auch, dass etwa in Frankreich religiöse Gefühle stärker und Priester einflussreicher sind, als wir meinten. Ist das ein Grund dafür, dass wir zum römischen Katholizismus konvertieren?

Mir ist bewusst, dass es Umstände geben kann, unter denen das allgemeine Wohl die Hilfe aller erfordert – etwa eine Epidemie[2], ein Erdbeben oder eine Invasion von Barbaren, die alles töten und zerstören, was in ihre Hände gerät. In einem solchen Fall muss der Klassenkampf, müssen die Unterschiede in der sozialen Stellung vergessen werden, um gemeinsam gegen die gemeinsam erfahrene Bedrohung vorzugehen – allerdings unter der Bedingung, dass beide Seiten diese Unterschiede vergessen. Wenn sich während eines Erdbebens Menschen in einem Gefängnis befinden und bei dessen Einsturz ums Leben zu kommen drohen, dann haben wir die Pflicht, alle, selbst die Wärter, zu retten – unter der Bedingung, dass die Wärter ihrerseits zunächst die Zellentüren aufschließen. Treffen sie dagegen alle Vorkehrungen, um die Inhaftierung der Gefangenen während und nach der Katastrophe sicherzustellen, dann haben die Gefangenen gegenüber sich selbst und ihren inhaftierten Gefährten die Pflicht, die Wärter ihrem Schicksal zu überlassen und die Gelegenheit zu nutzen, sich selbst zu retten.

Kommt es zu einer Invasion des heiligen Bodens des Vaterlands durch ausländische Soldaten und sollte die privilegierte Klasse ihre Privilegien aufgeben und so handeln, dass das »Vaterland« tatsächlich das gemeinsame Eigentum aller Einwohner wird, dann wäre es richtig, dass alle gemeinsam gegen die Invasoren kämpfen. Wollen die Könige aber Könige bleiben, die Grundbesitzer ihr Land und ihre Häuser retten und die Händler ihre Güter schützen – und sogar noch teurer verkaufen -, dann sollten die Arbeiter, die Sozialisten und Anarchisten sie sich selbst überlassen und nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sich der Unterdrücker im eigenen Land ebenso zu entledigen wie der aus dem Ausland anrückenden.

Es ist unter allen Umständen die Pflicht der Sozialisten, und besonders der Anarchisten, alles zu tun, was den Staat und die kapitalistische Klasse schwächen kann, und allein das Interesse des Sozialismus zur Richtschnur des Handelns zu machen; oder, sofern sie der materiellen Machtmittel entbehren, um wirkungsvoll für ihre Sache einzutreten, wenigstens der Sache des Feindes jede freiwillige Unterstützung zu verweigern und sich aus dem Geschehen herauszuhalten, um zumindest ihre Prinzipien zu retten – was gleichbedeutend damit ist, die Zukunft zu retten.

Alles bisher Gesagte ist Theorie, und als Theorie akzeptieren es vielleicht auch die meisten derer, die in der Praxis das genaue Gegenteil tun. Wie also kann man es auf die gegenwärtige Situation beziehen? Was sollten wir tun, worauf sollten wir – im Interesse unserer Sache – hoffen?

Ein Sieg der Alliierten, so heißt es auf dieser Seite des Rheins, wäre das Ende des Militarismus, der Triumph der Zivilisation, der internationalen Gerechtigkeit etc. Dasselbe wird auf der anderen Seite der Front über einen deutschen Sieg gesagt.

Persönlich habe ich, wenn ich den »tollwütigen Hund« von Berlin und den »alten Henker« von Wien nüchtern beurteile, nicht mehr Vertrauen in den blutrünstigen Zar oder in die englischen Diplomaten, die Indien unterdrücken, die Persien verrieten, die die Burenrepubliken zerschlagen haben; oder in die französische Bourgeoisie, die die Eingeborenen Marokkos massakriert hat; oder in die belgische, die die Grausamkeiten im Kongo zugelassen und erheblich davon profitiert hat – und ich erinnere hier nur an einige beliebig ausgewählte ihrer Untaten, und rede gar nicht von dem, was alle Regierungen und alle kapitalistischen Klassen gegen die Arbeiter und Rebellen im eigenen Land tun. Meines Erachtens würde ein Sieg Deutschlands gewiss den Triumph von Militarismus und Reaktion bedeuten; doch ein Sieg der Alliierten würde eine russisch-englische (d.h. knuto-kapitalistische) Herrschaft in Europa und Asien, würde die allgemeine Wehrpflicht und die Entwicklung eines militaristischen Geistes in England sowie eine klerikale, möglicherweise monarchistische Reaktion in Frankreich bedeuten.

Außerdem ist es meines Erachtens sehr wahrscheinlich, dass keine der Seiten einen definitiven Sieg erringen wird. Nach einem langen Krieg und gewaltigem Verlust an Menschenleben und Vermögen, wenn beide Seiten erschöpft sind, wird man irgendeinen Friedensvertrag zusammenflicken, der alle Fragen offen lässt und dergestalt einem neuen, noch mörderischeren Krieg den Boden bereitet.[3]

Die einzige Hoffnung heißt Revolution; und da ich in Anbetracht der gegenwärtigen Lage denke, dass die Revolution aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst in einem besiegten Deutschland ausbrechen würde, hoffe ich aus diesem Grund – und nur aus diesem Grund – auf die Niederlage Deutschlands.

Ich mag natürlich im Irrtum sein über die richtige Position. Doch für alle Sozialisten (Anarchisten und andere) elementar und grundlegend zu sein scheint mir die Notwendigkeit, sich von jeglichem Kompromiss mit den Regierungen und den herrschenden Klassen fernzuhalten, um in der Lage zu sein, jede sich möglicherweise bietende Gelegenheit zum eigenen Vorteil nutzen, und in jedem Fall, um unsere Vorbereitungen und Propaganda für die Revolution neu aufzunehmen und fortzusetzen.

 

[1] Die vorliegende Stellungnahme hat zum Hintergrund den kriegsbefürwortenden Kurs mancher Anarchisten (vor allem) aus Malatestas Londoner Umfeld. Besonders nahe ging Malatesta dabei der Zusammenstoß mit seinem alten Freund Peter Kropotkin, über den er gegen Ende seines Lebens rückblickend schreibt: »[I]n der Tat gab es zwischen uns niemals eine ernsthafte Unstimmigkeit bis zu dem Tag, an dem sich im Jahre 1914 eine Frage praktischen Verhaltens stellte, die sowohl für mich als auch für ihn von grundlegender Bedeutung war: die Frage der Haltung nämlich, die die Anarchisten gegenüber dem Krieg einnehmen sollten. Bei dieser unseligen Gelegenheit erwachten und erstarkten bei Kropotkin seine alten Vorlieben für alles Russische oder Französische, und er erklärte sich zum leidenschaftlichen Anhänger der Entente. Er schien zu vergessen, daß er Internationalist, Sozialist und Anarchist war; er vergaß, was er selbst kurz zuvor über den Krieg gesagt hatte, den die Kapitalisten vorbereiteten. Er begann, die schlimmsten Staatsmänner und die Generäle der Entente zu bewundern, behandelte die Anarchisten, die sich weigerten, der Heiligen Allianz beizutreten, als Feiglinge und beklagte es, daß Alter und Gesundheit ihm untersagten, ein Gewehr zu nehmen und gegen Deutschland zu marschieren. Eine Verständigung war daher nicht möglich: für mich war es ein wirklich krankhafter Fall. Jedenfalls war es einer der schmerzhaftesten, tragischsten Momente meines Lebens (und ich wage zu sagen, auch des seinen), als wir nach einer außerordentlich mühseligen Diskussion wie Gegner, ja fast wie Feinde auseinandergingen.« (Peter Kropotkin. Erinnerungen und Kritik eines alten Freundes (1931), in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 56–66. Hier: S.58f.)

[2] Diese Anmerkung hat auch einen biographischen Hintergrund. So sind Malatesta und einige seiner Genossen im Jahr 1884 nach Neapel geeilt, wo die Cholera ausgebrochen war, um der Bevölkerung zu helfen.

[3] Dies lässt sich wohl als eine hellsichtige Vorwegnahme des Versailler Vertrags und der Entwicklung der Nachkriegszeit – hin zum Zweiten Weltkrieg – interpretieren.