Titel: Tyrannei der Geschwindigkeit
Datum: 1991
Bemerkungen: Aus dem Französischem übersetzt, Originaltitel: „Relevé Provisoire De Nos Griefs Contre Le Despotisme De La Vitesse À L’occasion De L’extension Des Lignes Du TGV“ Herausgeberin: Redaktion Tunnelblick (www.tunnelblick.es). Schmetterling-Verlag 2015.

Einleitung der Übersetzer/-innen

Anfang der 1990er-Jahre plante die französische Eisenbahngesellschaft SNCF eine Erweiterung ihres Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes bis zum Mittelmeer, um die Reisezeit von Paris nach Marseille auf drei Stunden zu verkürzen.[1] Gegen die neue Bahnstrecke formierte sich eine Protestbewegung von Bauern, Winzern und Anwohnern. Sie verbarrikadierten Gleise und besetzten einen Eisenbahnviadukt, um die Verkehrsplaner von ihrem Projekt abzubringen. Nach einigem Hin und Her beauftragte die Regierung schließlich einen Provinzbürgermeister aus der Bretagne als »neutralen Vermittler«, der einen »Kompromissvorschlag« mit geringfügig geänderter Trassenführung präsentierte. Der Protest flaute ab und die Bahnlinie wurde gebaut.

Die damalige Gegenbewegung ist heute vergessen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang ein Text entstanden, der sich gegen die »Tyrannei der Geschwindigkeit« richtet. Er liest sich so bemerkenswert zeitlos, dass wir uns entschlossen haben, ihn in einer überarbeiteten deutschen Fassung erneut zu publizieren.

Um die Perspektive der Autoren besser zu verstehen, soll kurz die Gruppe vorgestellt werden, die die Schrift ursprünglich verfasst hat. Die Verfasser entstammten dem Umfeld der Situationistischen Internationale, eines Zusammenschlusses von Intellektuellen aus verschiedenen europäischen Ländern mit Frankreich als Zentrum. Dieser Zusammenschluss war nicht unerheblich an der untergründigen Vorbereitung der französischen Revolte des Mai ’68 beteiligt gewesen und hatte sich wenig später, 1972, aufgelöst.

Bereits in den 1950er-Jahren hatten die Situationisten damit begonnen, die alte Idee einer Gesellschaft ohne jede Herrschaft und Ausbeutung erneut auf die Tagesordnung zu setzen, nachdem die revolutionäre Arbeiterbewegung, die einst für die Verwirklichung dieser Idee gekämpft hatte, in Faschismus, Weltkrieg und Stalinismus untergegangen war. Unter den Bedingungen des Massenkonsums der Nachkriegsgesellschaft rückte dabei der Schwerpunkt weg von der Kritik an materiellem Elend und ungleicher Verteilung. »Das Problem ist nicht, dass Menschen mehr oder weniger arm leben, sondern, dass sie das Leben auf eine Weise leben, die sich immer ihrer Kontrolle entzieht«, formulierte Guy Debord (1931–1994), der als führender Kopf der Gruppe galt. Die daraus abgeleitete Forderung, sich kollektiv den freien Gebrauch des Lebens anzueignen, richtete sich gleichermaßen gegen die bürokratische Herrschaft des sozialistischen oder kommunistischen Ostens wie auch gegen die verselbstständigte Ökonomie des kapitalistischen Westens, die der bewussten Planung des einzelnen Individuums entzogen ist.

Mit der 1984 entstandenen Encyclopédie des Nuisances knüpften deren Herausgeber an die situationistischen Ideen an, stellten dabei jedoch einen Aspekt in den Mittelpunkt, der bei den Situationisten nur angelegt war: die Kritik an den modernen Produktivkräften. Für die alte Arbeiterbewegung hatte die soziale Revolution noch wesentlich darin bestanden, den existierenden Produktionsapparat der Kontrolle der Kapitalisten zu entreißen und ihn fortan unter eigener Regie und zum Wohle der ganzen Gesellschaft zu nutzen. Diese Sichtweise lässt sich für die Enzyklopädisten Ende des 20. Jahrhunderts nicht aufrechterhalten: »Die Warenproduktion hat sich, weltweit und unwiderruflich, von der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und von der Möglichkeit ihrer Nutzung für emanzipatorische Zwecke abgekoppelt.« Mit anderen Worten: Für den Großteil des heutzutage hergestellten Plunders hätte eine freie Menschheit schlicht keine Verwendung. Es zeige sich daher die »Unmöglichkeit, die Form der Aneignung [des gesellschaftlichen Reichtums] zu verändern, ohne zugleich alle Produktivkräfte umzugestalten. [...] Die Unermesslichkeit dieser Aufgabe der Umgestaltung ist zweifellos der allgemeinste und wahrhaftigste Grund für die Niedergeschlagenheit unserer Zeitgenossen.«[2]

Als ersten, vorbereitenden Schritt zur Wiederaufnahme eines revolutionären Projekts nahmen sich die Enzyklopädisten vor, ein »Lexikon der Schädigungen« zusammenzustellen (dies ist in etwa die Übersetzung von »encyclopédie des nuisances«), das alle Übel der modernen Gesellschaft, von der Verarmung des Alltagslebens über den Qualitätsverlust des Essens bis zu den ökologischen Katastrophen, benennen und erklären sollte. Nach dem Vorbild der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls eine »Enzyklopädie« herausgegeben hatten, wählten sie die Form des Wörterbuchs, um frei über alle Aspekte schreiben zu können, die ihnen in den Sinn kamen. Es ging ihnen dabei nicht um eine abstrakte Zivilisationskritik, die alle technischen und wissenschaftlichen Neuerungen in Bausch und Bogen verdammt. Vielmehr beanspruchten sie, »die Irrationalität in den Wissenschaften, den Künsten und Berufszweigen« kenntlich zu machen als das »auf den Kopf gestellte und zwanghafte Bild der Freiheit, die in unserer Zeit möglich wäre«.[3]

Letztlich kapitulierten freilich auch die Enzyklopädisten vor der Unermesslichkeit ihrer Aufgabe: Das Wörterbuch-Projekt wurde 1992 eingestellt, es kam über den Buchstaben A nie hinaus.

Neben ihrer Enzyklopädie veröffentlichte die Gruppe von Zeit zu Zeit Flugblätter und Broschüren, um direkt zu aktuellen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen; so publizierte sie 1991 als »Alliance pour l‘opposition à toutes les nuisances« auch den hier übersetzten Text.

Zu guter Letzt noch eine Anmerkung zur Übersetzung: Der Originaltext verwendet einige Begriffe und feststehende Wendungen, die dem situationistischen Sprachgebrauch und dem Denken der damaligen Zeit entstammen. Dazu gehören Formulierungen wie »décideurs« (übersetzt als »die Verfügenden«), »emploi de la vie« (»Gebrauch des Lebens«), »nuisances« (»Schädigungen«) oder »richesse confisquée« (»beschlagnahmter Reichtum«). Bei ihrer Übersetzung blieben unweigerlich gewisse Facetten der französischen Originalbegriffe auf der Strecke, da diese Begriffe keine allgemein geläufigen Entsprechungen im Deutschen haben.


Im März 2015

Bündnis für den Widerstand gegen Schädigungen aller Art
Vorläufige Auflistung unserer Einwände gegen die Tyrannei der Geschwindigkeit anlässlich der Erweiterung der TGV-Strecken (Juli 1991)

»Das ganze System des Reisens mit der Bahn ist für Leute gemacht, die in Eile sind – und folglich in einer beklagenswerten Lage. Niemand würde auf diese Weise reisen, der es vermeiden könnte – der die Zeit hätte, gemächlich über Hügel und zwischen Hecken dahinzureisen, anstatt durch Tunnel und zwischen aufgeschütteten Dämmen zu fahren. Zumindest haben diejenigen, die Letzteres vorziehen, keinen so ausgeprägten Sinn für Schönheit, als dass es sich lohnen würde, diesen im Bahnhof anzusprechen. Die Eisenbahn ist in jeder Hinsicht eine ernste Angelegenheit, die schnellstmöglich erledigt werden sollte. Sie verwandelt einen Reisenden in ein lebendes Paket. Für die Dauer der Reise gibt er die edleren Eigenschaften seines Menschseins zugunsten der planetarischen Kraft der Fortbewegung auf. Erwarte von ihm nicht, irgendetwas zu bewundern. Du könntest ebenso gut den Wind fragen. Befördere ihn sicher, entlasse ihn bald: Er wird dir für nichts anderes danken.«
John Ruskin, Die Sieben Leuchter der Baukunst (1849)

Im 19. Jahrhundert wurde Frankreich durch eine erste Industrialisierungswelle und besonders durch den flächendeckenden Ausbau des Eisenbahnnetzes vollkommen verändert. Kritik an diesem neuen Verkehrsmittel wurde von jenen Teilen der herrschenden Klasse geäußert, die weiterhin dem Müßiggang frönten und deren Geschmack und Empfinden noch an den altgewohnten Freuden des Reisens hingen, die der Zug abschaffen würde. Andererseits ermöglichte die Eisenbahn tatsächlich eine größere Bewegungsfreiheit – mit all ihren vorteilhaften Folgen für das gesellschaftliche Leben. Einige der emotionalen Argumente, die damals gegen die ersten Eisenbahnen vorgebracht wurden, kann man heute mit noch größerer Berechtigung wieder gegen den TGV ins Feld führen. Dies umso mehr, als die Einführung des TGV keinerlei Vorteile mit sich bringt, im Gegenteil, trägt dieser doch zur weiteren Isolierung ganzer Regionen, zur Verödung des verbliebenen ländlichen Raums und zur Verarmung des gesellschaftlichen Lebens bei. All das vom persönlichen Geschmack her zu beurteilen oder gar irgendeine historische Wahrheit zu formulieren, wird freilich – anders als damals – kein Angehöriger der heutzutage herrschenden Klasse riskieren, in der jeder wie verrückt arbeitet und seine Ellenbogen gebraucht, um im wirtschaftlichen Wettlauf mitzuhalten. Dies ist daher die Aufgabe von Menschen, die am Gegenpol der Gesellschaft stehen. Sie werden von keinem Interesse an irgendeiner Art von Karriere getrieben – nicht einmal als »Gegenexperten« oder offiziell anerkannte Gegner – um all die guten sowohl subjektiven als auch objektiven Gründe dafür aufzuzählen, sich dieser neuerlichen Beschleunigung der Unvernunft entgegenzustellen. Das Bündnis, zu dem sie sich für die Veröffentlichung des vorliegenden Textes zusammengeschlossen haben, wird zweifellos noch zu anderen Gelegenheiten in Erscheinung treten und sich erweitern.


Die beste aller möglichen Welten

Obgleich die moderne Welt alles andere als glücklich ist (man denke nur an ihr umfangreiches pharmazeutisches Arsenal), kann sie doch einen unbestrittenen Erfolg namens »Konsensus« vorweisen. Denn es scheint gelungen zu sein, Mächtige, die bestimmen, was das Leben sein soll, und Arme, denen die Vorstellung dessen verloren gegangen ist, was das Leben sein könnte, in Gleichklang zu bringen in einer Art von bislang nur wenig gestörter Harmonie: etwa zwischen der Nahrungsmittelindustrie oder den Erzeugern von gepanschten Lebensmitteln und deren Konsumenten, die nichts anderes mehr zu schätzen wissen; zwischen Raumplanern, die bei der Zerstörung von Stadt und Land vor nichts zurückschrecken, und Bewohnern, die dort, wo sie leben, meist nichts hält außer ihrer Fesselung an irgendeine Arbeit; zwischen Technokraten, für die Länder und Landschaften nur dazu da sind, immer schneller durchfahren zu werden, und Verkehrsmittelbenutzern, die es immer eiliger haben, unerträglich gewordene Städte zu verlassen und dem Gedränge zu entkommen, indem sie sich massenweise in Bahnhöfe und Flughäfen und auf die Autobahnen stürzen ... Kurz gesagt: Alles steht zum Besten in der »besten aller möglichen Welten«, solange man diese moderne Welt als die einzig mögliche betrachtet und sie ebenso wenig infrage stellt wie all ihre technischen Fortschritte; mit anderen Worten, solange niemand die schlichte Frage nach dem Gebrauch des Lebens stellt: Warum, zum Teufel, muss die Reisezeit permanent und um jeden Preis verkürzt werden, obwohl die Reise gerade durch ihre Umwandlung in reinen Transit umso länger erscheint und so eigentlich erst zu einer Quälerei wird? Derart, dass man heute in den TGV-Zügen – wie demnächst auch im Auto, in dem die Franzosen durchschnittlich drei Stunden pro Tag verbringen – das Fernsehen einführen muss im Bemühen, eben jene Langeweile zu zerstreuen? Die Entwirklichung der Reise wird vollends perfekt, wenn auf diesen Fernsehschirmen die Reize der durchfahrenen Regionen in Form touristischer Videoclips bewundert werden können …

Die lokalen Widerstandsgruppen gegen den geplanten Verlauf der TGV-Strecke, die sich im Südwesten Frankreichs gebildet haben, behaupten gewiss nicht, die Welt auf diese Weise wieder »auf die Füße stellen zu können«. Dazu werden mit Sicherheit andere Kräfte nötig sein. Doch gerade solche Gelegenheiten können dazu beitragen, diese Kräfte zu vereinen. Tatsächlich ist es das Verdienst dieser Gruppen, durch ihr bloßes Vorhandensein zu zeigen, dass Menschen – und zwar in größerer Zahl, als man es uns glauben machen will – nicht bereit sind, für einen schattenhaften »Fortschritt« Aspekte ihres Lebens aufzugeben, die ihnen keine technische Entwicklung je wieder zurückgeben kann. Und genau hier gerät die scheinbare Selbstverständlichkeit jenes sonderbaren »Gemeinwohls« ins Wanken, das aus dem Leid so vieler einzelner Menschen besteht. Damit sie zusammenbricht – zunächst an dieser Stelle und dann vielleicht auch an anderen darf sie nicht nur halb erschüttert werden. Denn wer als potenzieller Nutzer den »Argumenten« für den TGV zustimmt, ist natürlich in keiner guten Position, ihn als benachteiligter Anwohner abzulehnen. Im Gegenteil: Dadurch, dass man an anderer Stelle den famosen »Notwendigkeiten des modernen Lebens« insgesamt zustimmt, beraubt man sich selbst aller guten Argumente, den TGV abzulehnen – jedenfalls aller Argumente, die irgendjemanden interessieren könnten, der nicht unmittelbar an einer der geplanten Strecken wohnt.

Im 18. Jahrhundert sagte man: »Wenn Ihr es nicht versteht, frei zu sein, so versteht es zumindest, unglücklich zu sein!« [4] Die Entgegnung darauf muss ganz klar lauten: »Wenn wir nicht lernen wollen, unglücklich zu sein, sollten wir uns darauf verstehen, frei zu sein!« Hier wie anderswo auch besteht die vorrangig zu ergreifende Freiheit darin, all das zu verurteilen und zu entlarven, was einen Zwang in sein Gegenteil verkleidet und scheinbar liebenswert macht.

Wer schweigt, stimmt zu

Zuweilen wird behauptet, jede Gesellschaft basiere auf einem gemeinsam begangenen Verbrechen. Sicher ist, dass jede »ehrenwerte Gesellschaft« – jede Mafia – ihr Gesetz des Schweigens durchsetzt, indem sie so viele Menschen wie möglich in ihre Machenschaften verwickelt. Nicht anders gehen die Mafias des Fortschritts vor: Sie versuchen, uns auf die eine oder andere Art zu verwickeln und uns durch einen kleinen Vorteil, der uns zu Komplizen macht, in die Hand zu bekommen. Nach dem Muster der EDF-Werbung[5], die behauptet, Atomkraftwerke seien in unser aller Interesse, da wir gelegentlich Kartoffelgratin zubereiten oder Bachs Musik hören wollen. Es geht darum, uns im Namen des Cui-prodest-Prinzips[6] zum Schweigen zu bringen: Wir ziehen offenkundig Nutzen aus dem Verbrechen, und so bleibt uns nur zu schweigen, da wir es nicht verhindert haben.

Die gesamte Propaganda für den TGV kann folglich auf zwei Trugschlüsse zurückgeführt werden – oder vielmehr auf einen einzigen, der nach Belieben umkehrbar ist: Was allen schadet, bringt trotzdem jedem persönlich einen Nutzen – aus allgemeinem Übel entspringt individuelles Wohl. Landschaften werden verwüstet, Dörfer und Kleinstädte werden unbewohnbar oder verschwinden; Güter wie die Stille oder die Schönheit, die niemandem gehören, werden uns genommen. Und erst im Nachhinein erkennen wir, wie sehr sie Gemeingut waren. Andererseits möchte jeder Einzelne zwei, drei Mal im Jahr Frankreich in ein paar Stunden durchqueren, sozusagen als »Kleinprofiteur des Fortschritts«. Er hängt also mit drin, lässt sich bestechen und nimmt sich damit die Möglichkeit, dazu Stellung zu beziehen, ebenso wie zur Lohnarbeit oder zur Ware, auf die er, wie sich täglich zeigt, nicht verzichten kann.

Auch in seiner Umkehrung bleibt dieser Trugschluss unwahr. Er lautet dann: Was einigen schadet, ist doch für alle von Nutzen – aus individuellem Übel entspringt allgemeines Wohl. Diese Variante wird immer dann benutzt, wenn irgendwo bestimmte real existierende Menschen – keine »Verkehrsteilnehmer« im Allgemeinen, diese Phantome der SNCF-Statistiken – sich dem Diktat der Raumplaner widersetzen. Welch ein unfassbarer Egoismus, beispiellos in einer Gesellschaft, die so einmütig dem universellen Interesse der Menschheit verpflichtet ist!

Diesen kläglichen Lügen zugrunde liegt das vorgebliche Interesse des »Beförderten« an immer höherer Geschwindigkeit. Doch wer hat denn – solange das Bedürfnis nach dem TGV noch nicht allen aufgezwungen worden ist – heute wirklich ein Interesse daran, schneller zu reisen? Just diejenigen, die mit allen Mitteln die Trostlosigkeit vorantreiben, jene Klientel, welche die SNCF dem Flugzeug abspenstig zu machen versucht. Für dieses standardisierte und konditionierte menschliche Frachtgut, diese »Turbo-Kader«, wie sie sich selbst nennen, soll der Großteil der französischen Städte wie Pariser Vororte behandelt werden.

Nur wer seine eigene Zeit auf dem Arbeitsmarkt teuer genug verkauft, hat auch ein Interesse daran, den vom TGV angebotenen Zeitgewinn zu kaufen. Obwohl hier einmal mehr die alte Klassengesellschaft abgewandelt aufscheint, gibt es einen großen Unterschied zur einstigen gesellschaftlichen Hierarchie: Die Inhaber dieser eher aufgenötigten als gewährten Privilegien der Mobilität erscheinen heutzutage kaum beneidenswert. Zumindest nicht jenen, die sich einen Rest Sensibilität bewahrt haben. Denn keine Fahrgeschwindigkeit wird je den Verlust der Zeit wettmachen, die zu Geld gemacht, als Arbeitszeit verkauft oder als Freizeit zurückgekauft: worden ist. Ein Grund mehr, solche »Vorteile« abzulehnen, welche die einen ins Unglück stürzen, nur um den anderen ein trostloses Scheinglück zu ermöglichen.

Mobilis in mobili [7]

Auch wenn Mobilität noch immer etwas von ihrem früheren Prestige bewahrt hat, so versetzt sie doch niemanden mehr in die Lage, der Mobilisierung durch die moderne Ökonomie zu entkommen. Das, was die Bewegungsfreiheit versprach, wurde in der Tat zugleich mit der Möglichkeit zerstört, diese nicht zu nutzen: Die gleichermaßen zur Lohnarbeit, zur Suche nach einem Auskommen und zur organisierten Freizeit gezwungenen Menschen haben in diesem ökonomischen Wettlauf allesamt jeden Beweggrund verloren, einen Ort zu verlassen oder an ihm zu verweilen.

Die Bewegungsfreiheit war als Freizügigkeit einer der wichtigsten Gründe für den Umsturz despotischer Regimes. Doch am Ende sind es nun die Waren, die Bewegungsfreiheit genießen, während die Menschen, zu zahlenden Handelsgütern degradiert, von einer Ausbeutungsstätte zur anderen transportiert werden. Das Befreiungsversprechen, das aus der Tatsache erwuchs, sein Dasein nicht mehr gezwungenermaßen an einem einzigen Ort verbringen zu müssen, hat sich am Ende dieser Entwicklung in die bedauerliche Gewissheit verkehrt, nirgends mehr zu Hause zu sein und sich ständig woanders auf die Suche nach sich selbst machen zu müssen. Der TGV entspricht diesem letzten Stadium. Es liegt tatsächlich eine gewisse Logik darin, eine Landschaft so schnell wie möglich zu durchqueren, wenn daraus beinahe alles verschwunden ist, was es wert war, dort zu verweilen, und wenn deren parodistische Nachbildung jederzeit im Euro-Dysneyland [sic!] konsumiert werden kann, das zweckmäßig an einem Hauptknotenpunkt des Streckennetzes platziert wurde.

Die Menschen haben immer versucht, sich aus jener Abhängigkeit zu befreien, in der sie von den Mächtigen durch die Einschränkung der Freizügigkeit gehalten wurden. Schon die antiken Gesellschaften waren so weit zerfallen, dass Menschen den Reiz, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, den einengenden, wenn auch geregelten Lebensweisen vorzogen. Allerdings konnte das Bedürfnis, ein eigenes Leben zu erfinden und eigene Werte zu entwickeln, noch lange von der wirtschaftlichen Entwicklung absorbiert werden – einer Entwicklung, die technische Innovationen und eine größere soziale Mobilität mit sich brachte und bewirkte, dass die jüngeren Generationen überlieferte Traditionen infrage stellten. Erst als die Hindernisse in Gestalt verschiedener historischer Relikte aus dem Weg geräumt waren, zeigte sich, dass die immer schnellere wirtschaftliche Entwicklung einzig zu einem rasenden Verharren in der Selbstzerstörung der Gesellschaft führt.

Und erst dann entwickelte sich das starke Bedürfnis, anderswo nicht mehr Neues zu suchen, sondern gewissermaßen das Alte, nämlich das, dessen Verwüstung man zuvor am eigenen Wohn- und Lebensort erlebt hatte. So ist es kein Zufall, dass das Wort Flucht, welches das Entkommen von Sklaven, den Ausbruch aus dem Knast oder das freiwillige Exil osteuropäischer Dissidenten beschreibt, heutzutage auch gebraucht wird, um den allsommerlichen Run der Zivilisierten gen Süden zu beschreiben, raus aus den Städten und weg vom erschöpfenden Rhythmus der Lohnarbeit.

Auch wenn die individuellen Wege unter Umständen variieren mögen – von immergleichen Bahnen bis hin zu heimlichen Fluchten –, so sind die Bestimmungsorte dieser Gesellschaft, zu denen all diese Wege hinführen, doch überall auf der Welt austauschbar, und jeder Einzelne bleibt dem unterworfen. So betrachtet stellt die Geschwindigkeit nur einen zusätzlichen Zwang dar, eine schwachsinnige Illusion.

Zeitgewinn ist Zeitverlust

Die Betreiber von Verkehrsprojekten versäumen es nicht, bei jedem neuen Vorhaben an ein scheinbar nicht zu hinterfragendes Naturgesetz zu erinnern: »Geschwindigkeit bedeutet Zeitgewinn.« Der gesunde Menschenverstand erkennt diese Tatsache insofern an, als sie mit den Gesetzen der Physik übereinstimmt. Die Praxis jedoch scheint sie in dem Maße zu widerlegen, wie die in den Verkehrsmitteln bzw. für die Verkehrsmittel verlorene Zeit mit deren Geschwindigkeit zunimmt.

Für die Physik ist die Geschwindigkeit eine Funktion von Zeit und Entfernung. Zum Unglück der Technokraten, die kaum jemals über ihre Berechnungen hinauszudenken scheinen, leben wir aber nicht in der begrifflichen Welt der Physik. Je höher die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs, desto größer ist auch der Widerstand der Umgebung: der physikalischen (Luftwiderstand und Reibung), der natürlichen (Gelände und Oberflächenbeschaffenheit) und der menschlichen (Reaktion der Anwohner auf die zu erwartenden Schädigungen). Je mehr Mittel aufgewendet werden müssen, um diese hartnäckigen Widerstände zu überwinden und zu beseitigen, desto mehr Arbeitskraft wird es kosten, um diese Mittel zu produzieren und anzuwenden. Umso geringer wird also unterm Strich die tatsächliche Geschwindigkeit der Fahrgäste ausfallen, nämlich das Verhältnis zwischen den Entfernungen, die sie zurücklegen, und der gesamten für die Beförderung aufgewendeten Zeit.

Rechnet man die gesamte für den Verkehr aufgewandte gesellschaftliche Arbeitszeit zusammen – etwa für Bau, Betrieb und Instandhaltung der Verkehrsmittel sowie für diverse Auswirkungen wie Gesundheitsschäden –, so stellt man fest, dass die modernen Gesellschaften mehr als ein Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit für diesen Bereich verausgaben; das ist deutlich mehr, als alle vorindustriellen Gesellschaften jemals für ihre Fortbewegung aufgewendet haben, einschließlich des Nomadenvolks der Tuareg. Jenseits einer bestimmten Geschwindigkeit sind schnelle Verkehrsmittel kontraproduktiv und kosten ihre Nutzer mehr Zeit, als sie einsparen – was sie allerdings für ihre Besitzer nicht weniger profitabel macht. Die Lohnabhängigen verschwenden ihre Zeit damit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die Konsumenten verschwenden ihr Leben damit, Zeit zu gewinnen.

Die Menschen aber möchten diesen Zwang abschaffen, der Zeit zu einem seltenen Gut macht und ihr Dasein zu einer endlosen Jagd nach einem Lebensstil, der ihnen als wünschenswert dargestellt wird, während ihnen ihr wirkliches Leben zwischen den Fingern zerrinnt: »Wäre der Tag, die Woche doch schon vorbei! Wären nur schon Ferien! Wäre ich doch endlich in Rente!« Derart hilfloses Trachten lässt den Technokraten freie Bahn, die – ganz kühle Objektivität – technische Lösungen anbieten können, bei denen solchen menschlichen Regungen mit materiellen Dingen und reibungslos funktionierenden Maschinen begegnet wird. Da die Funktion das Bedürfnis erzeugt und nicht umgekehrt, ist in der Folge das, was die Verkehrsmittel möglich gemacht haben, zur Verpflichtung geworden: Unsere Vorfahren konnten keine großen Strecken zurücklegen, weil ihnen die Mittel dazu fehlten, wir müssen sie zurücklegen.

Dank der Verkehrsmittel können wir weiter und schneller reisen und an immer mehr Orte gelangen, die wiederum in erster Linie des großen Andrangs wegen erschlossen und so zu etwas Alltäglichem werden. Einmal erschlossen, spezialisieren sich die Gegenden, weil die verschiedenen Tätigkeiten und Beschäftigungen nun an anderen Stellen im Land konzentriert werden: Technologieparks, Sehenswürdigkeiten, Freizeitparks, Industrie-, Handels- und Verwaltungszentren, Supermärkte, Schlafstädte, Vororte usw. Das macht selbstverständlich noch schnellere Verkehrsmittel notwendig, um die auf diese Weise neu geschaffenen Entfernungen zu bewältigen. Wenn wir in einem einzigen Jahr eine längere Strecke zurücklegen als unsere Vorfahren in ihrem ganzen Leben, so tun wir das nicht, um anderswohin zu kommen, sondern um uns immer an dieselben Orte zu begeben.

Im Hamsterrad

Verödete ländliche Gegenden, drangvolle Enge in namenlosen Vorstädten und unbewohnbaren Städten, standardisierte Lebensplanungen, ein völlig von wirtschaftlichen Erfordernissen beherrschtes Dasein, eine sogenannte Frei-Zeit samt ihren Beschäftigungen, die selbst zu Waren geworden sind, sowie das zunehmende Gefühl der Absurdität eines solchen Lebens und die ständige Flucht nach vorn im Versuch, das zu vergessen – so sieht das Los der Mehrheit in unserer Zeit aus. Das schnelle Befördern von Waren und Menschen ist von einem in erster Linie wirtschaftlich begründeten Erfordernis zum Selbstzweck geworden. »Wir haben die Welt verkleinert!«, brüstet sich eine Charterfluggesellschaft. Der ganzen Bevölkerung wurde als Grundbedürfnis das aufgezwungen, was die Lebensschablonen der Manager zum Funktionieren benötigen – dieser Makler und Hofschranzen im Dienste der Warenmobilität, die bloße biologische Wurmfortsätze der Wirtschaft sind.

Was immer man auch halten mag von der wenig beneidenswerten Dauerhektik der Geschäftsleute, der »Verantwortungsträger« oder der jungdynamischen Durchschnittsburschen, die fast immer den Eindruck machen, als kämen sie mit ihrem Mountainbike direkt aus der Metro oder dem Büro – man muss leider einräumen, dass ihr Tempo zum Modell geworden ist. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die 68er-Parole »Leben ohne tote Zeit« eine so erbärmliche Bedeutung bekommen hat.

Der Wahn einer allumfassenden Dringlichkeit hat sich der Bevölkerung bemächtigt. Unsere Zeitgenossen, die aus so vielen verschiedenen, freilich nach demselben Muster gestrickten Beschäftigungen wählen können, scheinen diese allesamt fieberhaft auskosten und vor allem keine versäumen zu wollen. Man muss unbedingt hin! Kaum von der Maloche zurück, muss man auf allen Hochzeiten tanzen, in die Berge und ans Meer fahren, in die Tropen und an den Polarkreis – und das alles in Rekordzeit; so sehr scheint unser Dasein buchstäblich ausgelaugt und eingeschrumpft zu sein. Ganz ungehemmt äußert sich diese Tyrannei der Geschwindigkeit vor allem in der Dynamik des Geschäftslebens: Wirtschaftliche Schwankungen sind überall »in Echtzeit« präsent und erscheinen dadurch umso flüchtiger; die Hektik der Businessmen ist umso hoffnungsloser, weil alles, ohne Ende, permanent von vorne beginnt. Das billige Heldenepos, von der neoliberalen Ideologie um das Tun und Lassen von Wirtschaftsbossen, Golden Boys und sonstigen Marionetten zusammenfabuliert, hat letztendlich Wirkung gezeigt: Das Reisen muss abgeschafft werden, nur das Ankommen zählt.

Aus vielerlei Gründen wollen sich die Menschen nicht länger in einem angenehmen Rhythmus fortbewegen, nicht zuletzt deshalb, weil sie vor der Rätselfrage, wie ein eigenes Leben zu erfinden sei, kapituliert haben. Nicht, dass sie grundsätzlich Geschmack an der Geschwindigkeit gefunden hätten, sie können es lediglich nicht mehr ertragen, sich langsam fortzubewegen.

In den modernen Verkehrsmitteln – wie auch im städtischen Leben, dessen Erweiterung sie sind – ist eine quasi schizophrene Abkapselung entstanden, indem jede mögliche Gemeinschaft sowie jede echte Individualität beseitigt wurde: Walkmans ergänzen heute die Reiselektüre, die mit der Eisenbahn aufkam, und in den Zugabteilen installierte Bildschirme sollen die darin herrschende drückende Stille ausfüllen. Was keinen Reiz mehr hat, muss verkürzt und unterhaltsam gemacht werden; unterwegs zu sein (mit U-Bahn oder Zug, mit Auto, Fähre oder Flugzeug) ist nur noch tote, verlorene Zeit, Zeit der Langeweile. Schnell und weit zu fahren war zunächst theoretisch wünschenswert. Für die meisten Menschen ist es indes praktisch unverzichtbar geworden, weil sie unterwegs nichts zu tun und niemanden zu treffen haben. Diesem irregeleiteten Bedürfnis entspricht der TGV vollkommen. Mehr als nur ein verbesserter Zug ist er etwas anderes: »ein Airbus im Tiefflug«, wie der Trottel vom Dienst in »Le Monde« so schön schreibt. Die Bedingungen des Luftverkehrs sind auf der Erde gelandet und nichts wird sie mehr zum Abheben bewegen. Die abstrakte Vorstellung der Luftfahrt hat sich zu Recht auf der Erde durchgesetzt, seit diese so leer wie der Himmel geworden ist. Weit fahren, ohne irgendwo anzuhalten, Länder überfliegen, in die man niemals einen Fuß setzen und von denen man niemals etwas wissen wird – das ist die Erfahrung, die der TGV demokratisch verbreitet. Die allgemeingültigen Bedingungen des modernen Verkehrswesens werden über die gesamte Bevölkerung im selben Maß demokratisch und verbindlich hereinbrechen, wie das landesweite Streckennetz fertiggestellt wird und die klassischen Eisenbahnlinien nach und nach stillgelegt werden.

Blitzblankes Dekor wie im Schnellrestaurant, das Klima ebenso konditioniert wie die Fahrgäste, synthetische Lebensmittel, eine einlullende Atmosphäre – alles soll dem Beförderten anzeigen, dass er, misshandelt und eingezwängt in die technologischen Erfordernisse der Transportmaschinerie, tatsächlich nach den Bedingungen des heutigen Massenluftverkehrs behandelt wird, der die ergonomischen und psychologischen Normen festlegt: maximale Raumausnutzung bei totaler Vereinzelung in der Masse.

Wozu nützt der Nutzen?

Indem der TGV einem verfälschten Bedürfnis entspricht, aufgezwungen durch die Widersprüche eines Sklavendaseins, gehört er derselben Familie an wie die Mikrowelle, die so praktisch erscheint, wenn man verlernt hat, Mahlzeiten vorzukochen. Die technische Entwicklung zieht jedermann in eine endlose Spirale von Übeln hinein, die sie durch ihre falschen Gegenmittel nur immer weiter verschlimmert. So drängt sie sich den zunehmend hilflosen »Zivilisierten« als Selbstverständlichkeit auf, die gierig nach jeder Krücke greifen, um ihre verkümmerten Fähigkeiten und Wünsche zu kompensieren. Wer vergessen hat oder nie wusste, dass Reisen bedeutet, nach Belieben die Route zu ändern oder anzuhalten, dem mag der TGV als Fortschritt erscheinen – umso unzweifelhafter, als die Möglichkeit, wirklich zu reisen, durch andere Fortschritte derselben Sorte immer weiter abgeschafft wird: Der Rest, der von der Landschaft übrig bleibt, nachdem alles nicht ökonomisch Verwertbare getilgt wurde, und der nur noch aus Beefsteaks auf vier Beinen, Hektaren von flurbereinigten Weiden und Milchkontingenten besteht – dieser Rest verdient kaum etwas anderes, als mit Hochgeschwindigkeit durchquert zu werden.

Dieses eigenartige, computergestützte Glück wäre perfekt, wenn Produzenten und Konsumenten jeweils in ihrer Traumwelt schwebend verharren könnten – die einen besessen von der erhofften Rentabilität ihrer Investitionen, die anderen gierig ihre kurzlebigen, immer neuen Pseudokompensationen einsaugend. Doch ärgerlicherweise bleibt, egal wie schnell auch immer diese Welt jedes Lebewesen in eine ökonomische Gleichung übersetzt, stets eine Unbekannte übrig: die Schädigungen, die stetig vervielfacht werden, und die dadurch hervorgerufenen ablehnenden Reaktionen.

Kaum werden die kommerziellen Illusionen einmal kritisiert, so ist auch schon die technikgläubige Einfalt zur Stelle und entgegnet, dass lediglich deren Durchführung in der Vergangenheit unzulänglich und zum Scheitern verurteilt gewesen sei, dass aber diese Unannehmlichkeiten in Zukunft behoben würden. Auf diese Weise kann man sogar jegliche Schädigung im Nachhinein verurteilen, solange nur die ihnen allen zugrundeliegende Argumentation weiterhin unanfechtbar und gültig bleibt und somit immer neue Schäden geschaffen werden können. Die Abfolge technischer Allheilmittel, deren fortgesetztes Scheitern allmählich alle Lebensbereiche durchdringt, zeigt hinlänglich, in welche Sackgasse die Menschheit geraten ist. Die Ent-Eignung wird inzwischen derart schnell von ihren eigenen Auswirkungen überholt, dass jede weitere Katastrophe, die naturgemäß daraus entspringt, es scheinbar verlangt, erneut auf dieselben zweifelhaften Notlösungen zurückzugreifen – und selbstverständlich auch auf dieselben Experten, die diese bereithalten.

Eine solche Flucht nach vorn kann nie ein Ende finden: Alles wird immer wieder verbraucht und muss immer wieder von Neuem beginnen. Die Aussicht auf irgendein nützliches Ergebnis für die große Mehrheit (wie etwa weniger Arbeit) wird übrigens von den Führern in Politik und Wirtschaft nicht einmal mehr erwähnt. Der wirkliche Nutzen technischer Entwicklung in der modernen Welt besteht inzwischen in ihrer sozialen Funktion: die Lösung der von ihr geschaffenen Probleme zu verhindern, indem sie ständig neue hervorbringt. Ganz nach dem Motto »Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?« erlaubt es die schnelle Ausbreitung einer selbstzerstörerischen Technologie, dem historischen Widerspruch des fortwährend konfiszierten Reichtums aus dem Weg zu gehen. So gesehen kann man den TGV als eine weitere Waffe in jenem Arsenal beschreiben, mit dessen Hilfe innerhalb der heutigen Gesellschaft die in ihr selbst enthaltenen emanzipatorischen Möglichkeiten bekämpft und verschiedenste Bereiche des Daseins sturmreif geschossen werden.

Seit ein Verteidigungsminister den Einmarsch französischer Truppen in den Irak mit der Geschwindigkeit des TGV verglich, ist die Funktion, die diesem Transportmittel in der Vorstellungswelt der Verfügenden zugedacht ist, offenkundig geworden. Wurde nicht sein – selbstverständlich japanisches – Vorbild »Geschosszug« genannt? Die tatsächlichen Auswirkungen auf die derart beschenkte Bevölkerung werden zweifellos ebenso verschleiert werden wie der Zusammenhang zwischen dem lärmenden Feldzug am Golf und der »Tragödie« der kurdischen Bevölkerung oder der Katastrophe der brennenden Ölquellen. Es handelt sich auch hier um einen Krieg, in dem der Vorstoß des TGV, der »alles auf seinem Weg hinwegfegt«, ein entscheidendes Moment ist, ein Krieg, der die Eigentümlichkeit hat, den Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau so sehr wie kein anderer zu verkürzen, indem er beide Operationen zu einer einzigen namens »Raumplanung« verschmilzt.

Es ist ein Krieg, in dem es nur Verlierer gibt, denn die Illusionen einer Verbesserung, eines Zeitgewinns usw. gehen vorüber, während die Schädigungen bleiben. Insofern ist es verlockend, in seinem Verlauf ein unentrinnbares Schicksal zu sehen – sei es das der »Technik« oder das der »modernen Gesellschaft«. Allerdings wird sich eine Empörung, die sich gegen allgemeine Verhältnisse richtet und diese nicht mehr als angreifbare und veränderliche Wirklichkeit behandelt, zwangsläufig recht schnell erschöpfen. Wer jedoch einmal die Entscheidung getroffen hat, über die demokratische Sichtblende hinweg auf die Verfügenden zu blicken und die Schädigungen bis zu den Schädigern zurückzuverfolgen, dem wird es nicht an Gegnern mangeln, die benannt und bekämpft werden können.

Die Netze der Tyrannei

Es ist inzwischen so weit, dass selbst die Urheber der Katastrophen die Schädigungen beklagen, die unser Leben erlitten hat. Sie versuchen, uns ihre entscheidende Rolle bei der Plünderung vergessen zu machen, indem sie in den Chor der Klageweiber einstimmen; ja sie bieten sogar wie Schutzgelderpresser ihre Dienste an, um scheinbar wiederherzustellen, was sie tatsächlich zerstört haben.

Zudem vermitteln sie den Eindruck, dass – auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung offensichtlich allen entgleitet – dennoch niemand persönlich von ihr profitiere oder ein Interesse daran habe, dass dieser Wahnsinn weitergeht. Die Verschlagensten unter ihnen – man denke etwa an das politische Personal, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es in ihrem Interesse sei, sich ihm vollkommen auszuliefern und davon auszugehen, dass seine willkürlichen Entscheidungen dem Allgemeinwohl dienen – die Verschlagensten also sind schamlos genug, sich als ergebene Staatsdiener darzustellen, die unter widrigen Umständen und zum Wohle aller ihre Pflichten erfüllen. Wohlgemerkt sind das dieselben Leute, die das Militär schicken, wenn die Gesellschaft erwägt, einen anderen Weg als den ihren einzuschlagen. Erst vernichten sie die sich neu auftuenden Perspektiven und beteuern dann, dass nichts anderes möglich ist und es unverantwortlich sei, die Unterwerfung des gesamten Lebens unter den Imperativ ihrer Geschäfte infrage zu stellen.

Die Propaganda der Verfügenden nutzt eine breite Palette von Lügen, um die TGV-Strecke durchzusetzen und die eigenen, profanen Interessen daran zu verschleiern. Sie stützt sich zum Teil auf alte Lügen, um neue zu konstruieren, und macht so sowohl die Willkür dessen deutlich, was sie voraussetzt, als auch die unglaubliche Dummheit der Schlussfolgerung, zu der sie gelangt: Wenn man nämlich glaubt, dass eine Gesellschaft ohne Wirtschaft nicht möglich ist, und wenn man weiterhin annimmt, dass die Wirtschaft ohne TGV zugrunde gehen würde, so folgt daraus zwingend der Schluss, dass eine Gesellschaft ohne TGV nicht möglich ist. Hier liegt der neuralgische Punkt des Konflikts um die Hochgeschwindigkeitsstrecke, da deren Gegner aus gutem Grund vom Gegenteil überzeugt sind: nämlich davon, dass die Gesellschaft unter den Hieben dieser Art von Raumplanung zerfällt. Im Grunde geht es in solchen Konflikten um die Frage nach der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Bevölkerung, ob diese Abhängigkeit vertieft oder infrage gestellt wird. Dennoch ist es von Nutzen, genau zu untersuchen, wie sich die Scheinargumente der Pro-TGV-Propaganda in diesem Fall zusammensetzen.

Es handle sich zunächst, gemäß dem aktuellen Ökotrend, um das Transportmittel, das am wenigsten Energie verbrauche und am umweltfreundlichsten sei. Doch ist es für niemanden ein Geheimnis, dass zum Erreichen höherer Geschwindigkeiten zwangsläufig mehr Energie nötig ist – und dass der Atomstrom, den der TGV nutzt, eine Verbesserung der Umwelt darstellt, an der die Bewohner dieses Planeten noch lange zu knabbern haben werden. Wir haben es hier mit dem gängigen Verfahren zu tun, Gegebenheiten einander vergleichend gegenüberzustellen, obwohl sie sich objektiv ergänzen und miteinander verbunden sind. Es gibt keine echte Konkurrenz zwischen Straße, Schiene und Flugzeug, sondern eine gleichzeitige und koordinierte Entwicklung. Die Autobahnen sind verstopft von Warentransporten oder Urlauberkolonnen und das Flugzeug ist auf Mittelstrecken schneller – damit ist der TGV zu einer Funktion als Super-Vorortzug verurteilt, der so die Suburbanisierung des Landes vollendet. Im besten Fall profitieren einige Ballungsräume, im schlimmsten Fall nur die Pariser Region, deren Wachstumsraten – ohnehin schon höher als im Rest des Landes – durch dieses neue zentralisierte Verkehrsnetz mit Sicherheit noch weiter steigen werden.

Im Namen des stets notwendigen Wachstums – das per definitionem nie erfolgen kann, da die Konkurrenz in jeder neuen Runde des Wettbewerbs das im vorhergehenden Stadium penibel austarierte Gleichgewicht an Arbeitsplätzen etc. wieder infrage stellt – versuchen die Raumplaner immer brutaler, dem Antlitz der Erde ihren monomanischen Wahn aufzuprägen.

Sie sprechen von positiven wirtschaftlichen Effekten, auch wenn Beispiele wie Creusot-Montchanin an der TGV-Linie Paris-Lyon, dessen Reichtum in einem einsamen, neo-vorstädtischen Parkplatz besteht, eine andere Sprache sprechen. Sie zwingen jahrhundertealte Kulturlandschaften unter den ballistischen Imperativ des Schnellverkehrs und »begradigen« Regionen, indem sie diese auf die Erfüllung weniger Funktionen reduzieren. Als Krönung wollen sie uns alle die lächerliche Wunschvorstellung von einem Frankreich glauben machen, das dank TGV die Organisation eines europaweiten Transportsystems übernimmt, auf dass die positiven wirtschaftlichen Effekte, ebenso üppig wie illusorisch, auch das Leben der Anrainer Frankreichs verschönern mögen.

Was Bauvorhaben der öffentlichen Hand betrifft, so hat die sogenannte Staatsmacht in der Tat aber sowohl ihr Monopol als auch die Entscheidungshoheit verloren: In immer engerer Symbiose mit der Hoch- und Tiefbaumafia besteht ihre Aufgabe nur noch darin, von der Betonlobby konzipierte, pharaonenhaft anmutende Projekte aller Art der öffentlichen Meinung so zu verkaufen, als handle es sich dabei um Antworten auf tatsächlich vorhandene gesellschaftliche Bedürfnisse. Aus diesem abgekarteten Spiel zwischen »Privatwirtschaft« und »öffentlicher Hand« entsteht jene Verkehrung, welche die Bedürfnisse der Gesellschaft verändert und verfälscht, indem sie diese ständig neuen, aufgezwungenen Maßnahmen unterzieht. Die mächtigen Interessengruppen der Bau- und Betonbranche, der Zementindustrie und des Schwerverkehrs sind zu Finanzmonstern geworden, die von Jahr zu Jahr nach höheren Auftragsvolumen verlangen. Daher müssen sie die Verfügenden – die ihrerseits danach gieren, sich durch irgendeine architektonische Großtat oder einen grandiosen Technologiepark hervorzutun – immer dringender und zwingender mit neuen, größenwahnsinnigen Projekten versorgen. Und es ist unbestreitbar, dass sich das professionelle Know-how im Hoch- und Tiefbauwesen zumindest in einem Bereich beträchtlich vergrößert hat: in der Kunst der Überredung. Die Branche hat es geschafft, sich den politischen Entscheidungsträgern, den Verfügenden, unentbehrlich zu machen, vor allem, indem sie ihnen verlässlich ihre Dienste anbietet, gleichgültig, ob diese nun sinnvoll oder unsinnig sind.

Die Art, wie diese Menschen beeinflusst werden und ihr Tun gelenkt wird, hat etwas von einer Schmierenkomödie und könnte Anlass zum Schmunzeln geben. Es gibt sogar Abgeordnete, die sich im Parlament gegenseitig vorwerfen, ihre Stimmen mit dem Versprechen von Umgehungsstraßen erkauft zu haben (vgl. Le Monde, 21. Juni 1991). Doch es erwächst eine dramatisch unumkehrbare Situation aus dieser Posse um die Macht, in der Ränkespiel und raffgierige Lüge miteinander wetteifern.

Um hier nur einmal die Bedrohung durch eine katastrophale Erwärmung des Planeten infolge des Treibhauseffekts zu nennen, zu dem der Energieverbrauch der Verkehrsmittel aller Art und der Industrien, die sie produzieren, wesentlich beiträgt. Alle offiziell anerkannten Experten sehen in seltener Einmütigkeit eine drastische Veränderung der Produktionsmethoden als einzige Möglichkeit, um die Klimaveränderung – hoffentlich – um die Mitte des 21. Jahrhunderts stabilisieren zu können. Und gleichzeitig halten andere, auf ihre Weise »kompetente« Spezialisten an ihrem einzigen Ziel fest: aufgrund anderer Erfordernisse (Einzelinteressen in der Industrie, nationale Interessen einzelner Staaten, persönliche Karriereinteressen der Politiker) den Energieverbrauch ungebrochen weiter ansteigen zu lassen. Wenn die Raumplaner vom Allgemeininteresse sprechen, dann ist dies die Gelegenheit, dem verheerend allmächtigen Netzwerk aus abgehalfterten Lokalpolitikern, bornierten Vertretern von Einzelinteressen und vollautomatisierten Technokraten den öffentlichen Diskurs darüber zu entreißen – insbesondere den über den Transportbedarf.

Das einzige Allgemeininteresse, das am Ende dieses Jahrhunderts eines öffentlichen Diskurses wert ist, ist der Versuch, die Verwüstung unserer Lebenswelt zu stoppen, und nicht die Ersparnis einiger Minuten Reisezeit durch das Rhonetal. Und das einzige Wachstum, das unserer Aufmerksamkeit wert ist, ist das qualitative Wachstum des menschlichen Daseins, das allein einen Ausweg aus dieser finsteren ökonomischen Vorgeschichte ermöglicht.

Sand im Getriebe

Hie und da wird dem Widerstand gegen den TGV vorgeworfen, er komme recht spät, da die Provence und das Rhonetal schon durch die Autobahnen und die Verstädterung stark in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Abgesehen davon, dass dies die Widerstände außer Acht lässt, die sich seinerzeit in geringerem Umfang gegen Autobahnen und Atomkraftwerke formiert hatten, ist es nur normal, dass die Angst, nicht mehr genug Platz zum Atmen oder auch nur zum Seufzen zu haben, sich irgendwann Bahn bricht angesichts der sich unerbittlich aufaddierenden Erschließungsmaßnahmen, die den Lebensraum zusehends in Funktionsflächen aufteilen. Die jetzige Widerstandsbewegung geringzuschätzen hieße aber vor allem, die Bedeutung zu verkennen, die dieser Versuch, die Hirngespinste der Raumplaner zu stoppen, für alle haben kann. Denn niemand wird der Katastrophe entkommen: Wenn wir auch nicht alle Anrainer der TGV-Trassen sind, so sind wir doch alle Anrainer des Wirtschaftssystems.

Dieselben aber, die alles im Leben ihren Buchführungsmaßstäben und ihrer Bemessung nach MTEP[8] unterjochen wollen, brandmarken skrupellos die angeblich »kleinlichen« Interessen derer, die sich ihren Projekten widersetzen.

Selbst wenn diesen Widerständigen tatsächlich nur sehr beschränkte Interessen am Herzen lägen, so hätten sie in diesen finsteren Zeiten doch wenigstens den Vorzug, die Mächtigen dazu zu zwingen, ihre Missachtung des wirklichen Lebens etwas zu zügeln. Aber wie dem auch sei: Wovon sollten die Menschen denn ausgehen, um sich der Willkür jener aus dem Technokratenhimmel abgeworfenen Projekte zu erwehren, wenn nicht von dem, was sie rein intuitiv am besten kennen: die verletzbare Umgebung, in der sie leben? Doch genau dafür werden sie als egoistisch gegeißelt. Wenn aber die kalte ökonomische Unvernunft behauptet, dass es außerhalb ihrer selbst keine Zukunft geben könne, müssen dann nicht diejenigen, die es ablehnen, dieser Unvernunft weiter zu folgen, dies zunächst einmal im Namen der bedrohten Vergangenheit tun und all dessen, was sie daran schätzen? Eine betroffene Bevölkerung, die das, was sie kennt – also ihre bisherigen Lebensbedingungen, mögen diese mitunter auch wenig glanzvoll sein –, gegenüber dem verteidigt, was sie von der anstehenden Katastrophe befürchtet, vertritt das Allgemeininteresse allemal besser als jene Wissenschaftler, Experten und Funktionäre, die zwar jeweils auf ihrem Gebiet die Schäden bilanzieren, aber weder fähig noch willens sind, ihnen ein Ende zu setzen.

Im Gegensatz zu deren verlogenen Allgemeinplätzen und geheucheltem Wehgeschrei kann der praktische Widerstand durch seine bloße Hartnäckigkeit dafür sorgen, dass die verschiedenen Arten von Ent-Eignungen, die alles Lebendige erdrücken, miteinander in Verbindung gebracht werden. Damit kann er eine Atmosphäre schaffen, in der die Angst vor der Zukunft aus einer unglücklichpassiven Haltung heraus in das Bestreben umschlägt, sich die Gegenwart wieder anzueignen.

Andere lokale Widerstände – gegen die Staudämme an der Loire, gegen Atommülldeponien, Industriemüllkippen oder Steinbrüche – haben dafür bereits Beispiele geliefert und in dieser Hinsicht zur Klimaverbesserung beigetragen.

Mit dem sicheren Gespür, auf dem die Widerstandsbewegungen gegen die Schädigungen gründen, sind sie bestens dafür gewappnet, mehr Mitstreiter und Unterstützung zu finden, ohne auf die Medien angewiesen zu sein, von denen sie unvermeidlich auf höchst eindimensionale Weise dargestellt werden: Die Medien präsentieren nur geschädigte Grundbesitzer, Weinbauern und Anwohner und wollen nichts wissen von dem immer weiter verbreiteten Gefühl, dass diese Welt nichts mehr zu bieten hat außer der Verschlimmerung des jetzigen Zustandes. Was jedermann befürchtet, muss aber ausgesprochen werden. Es nützt nichts, in der Hoffnung auf einen Aufschub auf Kompromissvorschläge einzugehen: Kein Entgegenkommen wird eine Verschnaufpause sichern, im Gegenteil, es wird die Urheber der Verwüstung nur noch ermutigen. Wer jedoch mit allem Grund gegen den TGV Widerstand leistet, der legt nicht nur diesem Projekt Steine in den Weg, sondern auch all jenen, die es begleiten oder die es unweigerlich nach sich ziehen wird.

Daher ist es eine besondere Schande, dass einige Umweltschützer – wie etwa die Fédération Rhône-Alpes de la Protection de la Nature oder René Dumont – zu behaupten wagen, dass der TGV uns weitere Autobahnen ersparen werde, wo doch jeder in den vergangenen zehn Jahren beobachten konnte, dass parallel zur Inbetriebnahme der TGV-Strecke Paris-Lyon der Luft- und der Autoverkehr ständig zugenommen haben. Weit davon entfernt also, den Bau neuer Autobahnen (gegen die es übrigens von anderer Seite im Südosten ebenfalls Proteste gibt) oder die Verdopplung der Fahrspuren der »Autoroute du Soleil«[9] zu verursachen, würde ein Erfolg des Widerstands gegen den TGV ganz im Gegenteil eine Bresche in jenen unfreiwilligen Konsensus schlagen, der dem einzelnen Menschen immer weniger einleuchtet. Die hinterhältige Frage »Warum lehnt ihr diese Schädigung ab, wenn ihr doch so viele andere akzeptiert und legitimiert habt?« wird erst dann komplett vom Tisch sein wenn auf die Ablehnung des TGV-Projekts noch viele weitere Ablehnungen folgen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Welle von allen möglichen Infrastrukturprojekten, die gegenwärtig über die Menschen hereinbricht, keinen entschiedenen Widerstand auslösen sollte, der diesem organisierten Wahnsinn ein Ende setzt – vorausgesetzt, die Menschen verfallen deswegen nicht in völlige Apathie, so als wären sie heimlich lobotomiert worden.

Machen wir uns doch einmal ein Bild von dem »unbefangenen« Arbeitseifer, den man gegenwärtig von den Führungskadern und Fachleuten für die Erzeugung von Schädigungen erwartet, am Beispiel einer gewissen Nicole Le Hir, Top-Headhunterin in einem anderen Spitzensektor, der Agrar- und Lebensmittelindustrie, die erklärte: »Heutzutage darf man nicht zu viel nachdenken, man muss loslegen« (Ouest-France vom 18. April 1991). Wir können auch bei der Entdeckung von Pierre Verbrugghe verweilen, jenem Pariser Polizeipräfekten, der die Mutation der Primaten unter seiner Ägide so beschrieb: »Der Pariser von heute hat nicht zwei Beine, sondern vier Räder« (Le Monde vom 27. April 1990). Oder würdigen wir doch noch, wie blindwütig der Vizepräsident der Region Poitou-Charentes als zuständiger Bauherr die geplante Autobahn Nantes-Niort quer durch die dortige Sumpflandschaft verteidigte: »Zwischen Frosch und Mensch wähle ich den Menschen.« (Nur: welchen Menschen?)

Solche Äußerungen sind keineswegs die Ausnahme. Aus ihnen allen spricht der Wille, allerorten unumkehrbare Fakten zu schaffen. Der verzweifelte Starrsinn, mit dem die Verfügenden um jeden Preis die Verschlechterungen weiter vorantreiben, beweist, dass sie nichts anderes mehr kennen: Was sie in Gang gesetzt haben, indem sie die Lebensweisen früherer Zeiten getilgt und die Emanzipationsversuche dieses Jahrhunderts unterdrückt haben, darüber verlieren sie nun die Herrschaft, denn sie verfügen ja über keine anderen Mittel als diejenigen, welche in die Katastrophe führen. Ihre Beschränktheit an praktischem Verstand spiegelt sich wider in ihrer unglaublich beschränkten Vorstellung vom Leben. Gegen diese anzukämpfen, in welcher Maske auch immer sie erscheint, muss zu den vordringlichsten Maßnahmen öffentlicher Gesundheitspflege zählen. Es liegt bei den Widerständigen, ohne Hemmungen und weiteres Zögern das verlassene Terrain des Denkens zu besetzen, dort ihre Beweisführung aufzubauen und die universellen Argumente für ihre Verweigerung zu formulieren – Argumente, die dazu dienen können, diese Verweigerung auszuweiten.


Bündnis für den Widerstand gegen Schädigungen aller Art, Juli 1991




Nachwort der Herausgeberin

Bis heute rufen technische Großprojekte Widerstände bei Teilen der direkt betroffenen Bevölkerung hervor. Vordergründig geht es dabei nur um das konkrete Vorhaben, andere Bereiche des Lebens werden nicht infrage gestellt. Bei vielen Beteiligten schwingt jedoch die Ahnung mit, dass mit der modernen Welt mehr im Argen liegt als nur dieser eine Stein des Anstoßes. Die Emotionalität, mit der zum Beispiel die Menschen angesichts des Stuttgart-21-Projektes plötzlich einen alten Bahnhof verteidigten, von dem vorher nie bekannt geworden wäre, dass sie an ihm besonders hingen, lässt ein Unbehagen erkennen, dessen Ursachen sich längst nicht auf die Zerstörung eines Bauwerks beschränken.

Solange dieses Unbehagen jedoch über die Form eines vagen Gefühls nicht hinauskommt und sich seiner selbst nicht bewusst wird, bleibt es ohnmächtig und kann von der Herrschaft, den décideurs, strategisch eingebunden und dadurch neutralisiert werden.

Auf diese Weise hatten auch in Stuttgart die Politstrategen – und zwar aufseiten der Projektbetreiber wie auch aufseiten der Kritiker – ein leichtes Spiel, als sie beanspruchten, die gefühlsmäßige Ablehnung der Bevölkerung in »sachliche Argumente« zu überführen und damit politikfähig zu machen. Mit den von Heiner Geißler, CDU- Politiker und Attac-Mitglied, moderierten sogenannten Schlichtungsrunden wurde der Protest von der Straße in Expertengremien verlagert. Dort wetteiferten professionelle Stuttgart-21-kritische Fachleute – vermeintlich »auf Augenhöhe« – mit jenen der Bahn, um zu beweisen, dass Leistungsfähigkeit, Energieeffizienz, Kosten-Nutzen-Relation und dergleichen des geplanten Tiefbahnhofs bei Weitem nicht so positiv ausfallen wie von den Projektbetreibern behauptet.

Das Eintrittsticket in solche rein faktenorientierten Debatten besteht freilich darin, die Voraussetzungen nicht anzutasten, auf denen die Argumentation der Projektbetreiber in Politik, Wirtschaft und Medien beruht: Es muss Wirtschaftswachstum geben, »unsere Region« muss wettbewerbsfähig bleiben, es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden. So ist sichergestellt, dass, egal wie die Verhandlungen ausgehen, in dieser Hinsicht alles beim Alten bleibt und der Bevölkerung einmal mehr nur die Zuschauerrolle bleibt.

Der vorliegende Text über die »Tyrannei der Geschwindigkeit« ist im Grunde nichts anderes als eine Selbstaufklärung des erwähnten Unbehagens in der modernen Zivilisation. Fast alle Argumente, die er gegen den TGV vorbringt, lassen sich genauso gut gegen Stuttgart 21 und andere aufgezwungene Großprojekte einwenden. Er setzt die Unvernunft des konkreten Vorhabens mit der allgemeinen Unvernunft einer Gesellschaft in Beziehung, deren ökonomisches Bewegungsgesetz den immer schnelleren Umschlag von Waren, Dienstleistungen, Informationen und nicht zuletzt Menschen zwingend erfordert. Damit gehen die Autoren weit über die Position derjenigen hinaus, die zwar den in Stuttgart geplanten Tiefbahnhof ablehnen, in ihrer herrschaftskonformen Detailkritik aber alle anderen Begleiterscheinungen des modernen Lebens nicht infrage stellen.

Die »vorläufige Aufstellung« bestärkt all jene, die gegen Stuttgart 21 Widerstand leisten – oder gegen eines der zahllosen anderen unsinnigen Projekte, die den gesellschaftlichen Reichtum verzehren und unser aller Leben enteignen. Sie ermuntert dazu, das Bewusstsein für gesellschaftliche Zusammenhänge und die eigene Rolle in der Gesellschaft weiter zu schärfen. Und vielleicht kann sie auch dazu beitragen, dass immer mehr Zuschauer endlich auch praktisch damit beginnen, »sich die Gegenwart wieder anzueignen«.


Redaktion Tunnelblick, im März 2015



[1] Die Strecken des französischen Hochgeschwindigkeitszugs TGV führten bis dahin durch dünn besiedelte Ebenen. Die geplante TGV-Strecke Richtung Marseille und Nizza war die erste, die durch hügeliges und dicht bevölkertes Gebiet führen sollte.

[2] »Ab ovo«, in: Encyclopédie des Nuisances Nr. 14 (1989), S. 3–13.

[3] »Vorrede«, in: Encyclopédie des Nuisances Nr. 1 (1984), S. 3–10.

[4] «Peuples lâches, peuples stupides, puisque la continuité de loppression ne vous rend aucune énergie, puisque vous vous en tenez à d’inutiles gémissements lorsque vous pourriez rugir, puisque vous êtes des millions et que vous souffrez qu’une douzaine d’enfants armés de petits bâtons vous mènent à leur gré, obéissez! Marchez sans nous importuner de vos plaintes, et sachez au moins être malheureux, si vous ne savez pas être libres.» Guillaume-Thomas Raynal (1713–1796).

[5] EDF (Électricité de France SA): die staatlich dominierte französische Elektrizitätsgesellschaft:.

[6] »cui prodest«, auch »cui bono« (lateinisch): »Wem nützt es?« – die Frage nach dem Nutznießer eines Verbrechens.

[7] Mobilis in mobili, lateinisches Motto der »Nautilus« von Jules Vernes Kapitän Nemo, deutsch ungefähr zu übersetzen mit »Beweglich im beweglichen Element«.

[8] Maßeinheit der Maßlosigkeit: 1 MTEP (= »million-ton equivalent of Petroleum«, Energieinhalt von einer Million Tonnen Rohöl), entspricht ca. 11,6 TWh (Terawattstunden).

[9] »Autobahn zur Sonne«: die Autobahnstrecke im Rhonetal zwischen Lyon und Marseille.