Titel: Was ich denke
AutorIn: Goldman, Emma
Datum: 19.7.1908
Quelle: Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte« hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. UNRAST-Verlag, Münster
Bemerkungen: Originaltitel: What I Believe erschienen in der New York World, Juli 19, 1908.

      I. EIGENTUM

      II. REGIERUNG

      III. MILITARISMUS

      IV. REDE- UND PRESSEFREIHEIT

      V. KIRCHE

      VI. LIEBE UND EHE

      VII. GEWALT

›Was ich denke‹ ist schon oft zur Zielscheibe von allen möglichen Schreiberlingen geworden. Welch markerschütternde, zusammenhanglose Geschichten wurden über mich in die Welt gesetzt, und so ist es kein Wunder, dass den Durchschnittsbürgerlnnen das Herz zu rasen beginnt, sobald sie nur den Namen Emma Goldman hören. Zu schade, dass wir nicht mehr in einer Zeit leben, in der Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder so lange gefoltert wurden, bis sie die schlimmen Geister verließen. Denn es ist wahr, Emma Goldman ist eine Hexe! Sie frisst zwar keine kleinen Kinder, aber sie tut noch viel schlimmere Sachen. Sie baut Bomben und kegelt mit gekrönten Häuptern. B-r-r-r-!

Einen solchen Eindruck hat die Öffentlichkeit von mir und meinen Ansichten. Deshalb ist es insbesondere The World zu verdanken, dass ihre Leserinnen wenigstens die Chance bekommen, meine wirklichen Ansichten kennenzulernen.

Wer sich mit der Geschichte progressiver Ansichten beschäftigt, weiß um die Tatsache, dass jegliche Ideen in ihrer Anfangsphase verdreht und ihre AnhängerInnen Opfer von Verleumdung und Verfolgung wurden. Um zu erkennen, wie gering das Verständnis für große Ideen oder wahrhaftige Gläubige ist, muss man nicht einmal 2.000 Jahre in der Zeit zurückgehen, als jene, die an das Evangelium glaubten, in die Arena geworfen oder ins Verlies gesperrt wurden. Die Geschichte des Fortschritts wurde mit dem Blut von Männern und Frauen geschrieben, die es wagten, sich für eine unbeliebte Sache einzusetzen, beispielsweise das Recht der Schwarzen über ihren Körper oder das Recht der Frauen über ihre Seele. Wenn also seit undenklichen Zeiten das Neue stets auf Widerstand und Verurteilung gestoßen ist, warum sollten dann meine Ansichten vor dieser Dornenkrone verschont bleiben?

›Was ich denke‹ ist ein Prozess, kein Ergebnis. Abschließende Ergebnisse sind etwas für Götter und Regierungen, nicht für den menschlichen Intellekt. Es mag zwar stimmen, dass Herbert Spencers Definition von Freiheit als politische Grundlage der Gesellschaft die wichtigste auf diesem Gebiet ist, aber das Leben besteht aus mehr als nur Formeln. Im Kampf für die Freiheit ist es, wie Ibsen so gut gezeigt hat, der Kampf, der all das Stärkste, Entschlossenste und Beste im menschlichen Charakter freisetzt, und nicht so sehr das Erreichen der Freiheit selbst.

Anarchismus ist jedoch nicht nur ein Prozess, der mit ›tristen Schritten‹ voranschreitet und alles Positive und Konstruktive in organischer Entwicklung koloriert. Er ist ein auffälliger Protest, der militanter nicht sein könnte. Er ist derart kompromisslos, eine so beharrliche, durchdringende Kraft, dass er auch der engstirnigsten Beleidigung trotzt und der Kritik jener widersteht, die wahrhaftig die letzten Trompeten einer zerfallenden Zeit blasen. Anarchistinnen sind im Theater der gesellschaftlichen Entwicklung keinesfalls passive Zuschauerinnen; im Gegenteil, sie haben, was Ziele und Methoden angeht, einige sehr positive Ideen.

Um mich so kurz und präzise wie möglich auszudrücken, möchte ich das, ›was ich denke‹, in mehrere Themenbereiche gliedern:

I. EIGENTUM

›Eigentum‹ bedeutet die Herrschaft über Dinge, die von anderen nicht genutzt werden dürfen. Solange noch nicht so viel produziert wurde, wie Bedarf herrschte, mag institutionelles Eigentum in gewisser Hinsicht seine raison d’être gehabt haben. Ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung genügt jedoch, um zu erkennen, dass die Produktivität in den letzten Jahrzehnten derart angestiegen ist, dass der normale Bedarf hundertfach gedeckt werden könnte. Damit wird Eigentum nicht nur zu einer Beeinträchtigung für das Wohl des Menschen, sondern sogar zu einem Hindernis, einer tödlichen Sperre für jeglichen Fortschritt. Es ist die private Herrschaft über Dinge, die Millionen von Menschen ins Nichts zwingt, sie zu lebenden Körpern macht, die keine Originalität und Initiative mehr besitzen, zu menschlichen Maschinen aus Fleisch und Blut, die bergeweise Wohlstand für andere schaffen und dafür mit ihrer eigenen grauen, stumpfen und elenden Existenz bezahlen. Ich bin der Meinung, dass es keinen wahren Wohlstand, gesellschaftlichen Wohlstand, geben kann, solange dafür menschliches Leben geopfert wird – junges Leben, altes Leben und entstehendes Leben.

Sämtliche radikalen DenkerInnen räumen ein, dass die Hauptursachen dieser schrecklichen Situation folgende sind: (1) dass der Mensch seine Arbeitskraft verkaufen muss; (2) dass seine Neigungen und sein Urteil dem Willen eines Herren unterworfen sind.

Der Anarchismus ist die einzige Philosophie, die diese erniedrigende und demütigende Situation beenden kann und dies auch tun wird. Was ihn von allen anderen Theorien unterscheidet, ist die Grundeinstellung, dass allein die Entwicklung des Menschen, sein physisches Wohlergehen, seine latenten Qualitäten und angeborenen Anlagen die Art und die Bedingungen seiner Arbeit bestimmen dürfen. Gleichermaßen soll es seiner physischen und mentalen Einschätzung und dem Verlangen seiner Seele überlassen sein, wie viel er konsumiert. Ich bin der Ansicht, dass dies nur in einer Gesellschaft möglich ist, die auf der freiwilligen Zusammenarbeit produktiver, lose miteinander verbundener Gruppen, Gemeinschaften und Verbände beruht. Daraus wird sich schließlich ein freier, von Interessensolidarität bestimmter Kommunismus entwickeln. Im weitesten Sinne des Wortes kann es keine Freiheit, keine harmonische Entwicklung geben, solange das persönliche Verhalten maßgeblich von Geldgier und finanziellen Überlegungen bestimmt wird.

II. REGIERUNG

Meiner Ansicht nach dienen Regierung, organisierte Autorität und Staat allein dem Erhalt und Schutz von Eigentum und Monopol. Allein in dieser Funktion haben sie sich als wirkungsvoll erwiesen. Sämtliche großen DenkerInnen der Welt definieren die Regierung als ungeeignet zur Unterstützung individueller Freiheit, menschlichen Wohlergehens und gesellschaftlicher Harmonie.

Daher bin ich, gemeinsam mit allen anderen Anarchistinnen, der Meinung, dass Rechtsvorschriften, Gesetzeserlasse und Verfassungsvorgaben Eingriffe in die Privatsphäre des Menschen darstellen. Niemals haben sie einen Menschen zu etwas veranlasst, das er nicht allein aus seinem Intellekt oder Temperament heraus ohnehin getan hätte, und sie haben auch nicht verhindern können, wozu sich ein Mensch gedrängt gefühlt hat. Millets malerische Beschreibung des Manns mit der Hacke, Meuniers Meisterwerke der MinenarbeiterInnen, denen es gelang, die Arbeitskraft aus ihrer erniedrigenden Lage zu befreien, Gorkis Beschreibung der Unterwelt, Ibsens psychologische Analyse des menschlichen Lebens hätten nicht mehr von einer Regierung veranlasst werden können als der Geist, der den Menschen dazu bewegt, ein Kind vorm Ertrinken oder eine verkrüppelte Frau aus einem brennenden Gebäude zu retten; der Geist, der niemals von einer Rechtsvorschrift oder durch die Polizei zum Leben erweckt werden könnte. Ich glaube – nein, ich weiß – dass sich alles, was im Menschen gut und schön ist, trotz der Regierung äußert und durchsetzt, nicht wegen ihr.

Daher haben die Anarchistinnen recht, wenn sie meinen, dass der Anarchismus – in Abwesenheit der Regierung – der ungehinderten menschlichen Entwicklung den größten und weitesten Raum geben wird und damit den Grundstein für wahren gesellschaftlichen Fortschritt und eine wirklich harmonische Gesellschaft legt.

An das stereotypische Argument, die Regierung gebiete Verbrechen und Lastern Einhalt, glauben nicht einmal die Gesetzgeber selbst. In diesem Land werden Millionen von Dollar dafür ausgegeben, dass Kriminelle hinter Gittern bleiben, und dennoch gibt es immer mehr Verbrechen. Sicher ist diese Tatsache nicht einer unzureichenden Gesetzgebung geschuldet! 90 Prozent unserer Verbrechen stehen in Verbindung mit Eigentum und sind in unseren wirtschaftlichen Ungleichheiten verwurzelt. Solange diese weiter bestehen, können wir jeden Laternenpfahl in einen Galgen umwandeln, ohne dass das auch nur die geringste Auswirkung auf das Verbrechen in unserer Mitte haben wird. Ererbte Verbrechen lassen sich sicher niemals mit Gesetzen bekämpfen. Aber natürlich gibt es auch heute Beweise dafür, dass solche Verbrechen mit den besten modernen medizinischen Methoden, die uns zur Verfügung stehen, effektiv behandelt werden können, vor allem aber durch einen tieferen Gemeinschaftsgeist, durch Freundlichkeit und Einfühlungsgabe.

III. MILITARISMUS

Ich würde diesen Themenbereich, da er zur Ausrüstung der Regierung gehört, nicht separat behandeln, aber die erbittertsten Gegnerinnen meiner Ansichten, die letztere für brutal halten, sind MilitaristInnen.

Tatsache ist, dass die AnarchistInnen in Wirklichkeit wahre FriedensbotschafterInnen sind – die einzigen Menschen, die ein Ende der zunehmenden Tendenz zum Militarismus fordern, der dieses einst freie Land in rasendem Tempo in eine imperialistische und despotische Macht verwandelt.

Der militärische Geist ist der gnadenloseste, herzloseste und brutalste überhaupt. Er unterstützt eine Institution, für die es nicht einmal den Versuch einer Rechtfertigung gibt. Der Soldat, um mit Tolstoi zu sprechen, ist ein professioneller Mörder. Er tötet nicht wie ein Wilder um des Tötens Willen oder aus Leidenschaft wie bei einem Mord. Er ist das kaltblütige, mechanische, gehorsame Werkzeug seiner militärischen Vorgesetzten. Er ist bereit, auf Befehl eines Ranghöheren Kehlen durchzuschneiden oder ein Schiff zu versenken, ohne zu wissen oder sich vielleicht auch nur dafür zu interessieren, warum und wozu. In dieser Ansicht pflichtet mir kein Geringerer als der Militärexperte General Funston bei. Ich zitiere aus seinem Brief an die New York Evening Post vom 30. Juni, in dem er sich zum Fall des Soldaten William Buwalda äußert, der den ganzen Nordwesten der USA beschäftigte. »Die erste Pflicht eines Offiziers oder Gefreiten«, so unser edler Kriegsherr, »ist bedingungsloser Gehorsam und absolute Loyalität gegenüber der Regierung, der er die Treue geschworen hat; ob er mit dieser Regierung einverstanden ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.«

Wie können wir das Prinzip des »bedingungslosen Gehorsams« mit dem Prinzip von »Leben, Freiheit und der Suche nach Glück« in Einklang bringen? Die tödliche Macht des Militarismus hat sich in den USA noch nie so deutlich gezeigt wie vor Kurzem im Fall William Buwaldas aus San Francisco, Kompanie A, Ingenieurkorps, den ein Kriegsgericht zu fünf Jahren Militärgefängnis verurteilte. Dieser Mann hatte 15 Jahre lang im Militär gedient. »Sein Charakter und sein Verhalten waren tadellos«, erfahren wir von General Funston, der in Anbetracht dessen das Strafmaß auf drei Jahre heruntersetzte. Dennoch wird der Mann plötzlich aus der Armee geworfen, zur Ehrlosigkeit verdammt, seiner Rentenansprüche beraubt und ins Gefängnis geworfen. Was hatte er verbrochen? Hört nur her, ihr Bürgerinnen der freien USA! William Buwalda hatte eine öffentliche Versammlung besucht und dort der Rednerin die Hand geschüttelt. General Funston versichert in seinem bereits erwähnten Brief an die New York Evening Post, dass es sich bei Buwaldas Handlung um »einen schlimmen militärischen Verstoß handelt, weitaus schlimmer als Fahnenflucht.« An anderer Stelle erklärte der General in Portland, Oregon, öffentlich, dass »Buwaldas Verbrechen schwerwiegend war und einem Verrat gleichkommt.«

Es stimmt wohl, dass diese Versammlung von AnarchistInnen organisiert worden war. Hätten die SozialistInnen dazu eingeladen, so General Funston, hätte nichts gegen Buwaldas Anwesenheit gesprochen. Ich zitiere: »Ich selbst würde nicht einen Moment zögern, eine sozialistische Versammlung zu besuchen.« Aber eine anarchistische Zusammenkunft, auf der Emma Goldman spricht – konnte es einen schlimmeren Verrat geben?

Für dieses schreckliche Verbrechen schmachtet nun ein Mann, ein freier Bürger der USA, der hier geboren wurde und dem Land die besten 15 Jahre seines Lebens geschenkt hat und dessen Charakter und Verhalten in diesem Zeitraum »tadellos« waren, im Gefängnis – entehrt, blamiert, seiner Lebensgrundlage beraubt. Kann es etwas Destruktiveres für die wahre Berufung zur Freiheit geben als den Geist, der Buwaldas Urteil möglich machte – den Geist des bedingungslosen Gehorsams? Ist es das, wofür die Bürgerinnen der USA in den letzten Jahren 400 Millionen Dollar und ihr Herzblut geopfert haben?

Ich bin der Ansicht, dass der Militarismus – ein stehendes Heer und eine Kriegsmarine in jedem Land – für den Verfall der Freiheit und die Zerstörung des Besten und Großartigsten unserer Bevölkerung steht. Die zunehmende Forderung nach mehr Kriegsschiffen und einer größeren Armee auf der Grundlage, dass diese uns Frieden garantieren sollen, ist so absurd wie das Argument, dass der friedlichste Mensch der ist, der die meisten Waffen trägt.

Ebenso wenig nachvollziehbar ist die Einstellung jener angeblichen FriedensbotschafterInnen, die gegen den Anarchismus sind, weil er in ihren Augen zur Gewalt auffordert, die sich aber dennoch ungemein darüber freuen würden, wenn die USA bald in der Lage wären, aus Flugzeugen Dynamitbomben auf wehrlose Feinde abzuwerfen.

Ich bin der Meinung, dass das Ende des Militarismus gekommen ist, wenn alle freiheitsliebenden Menschen auf der Welt zu ihren Herren sagen: »Geht und tötet selber. Wir haben uns und unsere Liebsten lange genug in euren Schlachten geopfert. Im Gegenzug habt ihr uns in Friedenszeiten zu Parasiten und Kriminellen gemacht, in Kriegszeiten mussten wir wie Tiere sein. Ihr habt uns von unseresgleichen entfremdet und aus der Welt ein Schlachthaus für Menschen gemacht. Nein, wir kämpfen und töten nicht für das Land, das ihr uns gestohlen habt.«

Oh ja, ich glaube mit ganzem Herzen daran, dass die menschliche Gemeinschaft und Solidarität den Horizont von dieser schrecklichen roten Spur des Krieges und der Zerstörung befreien wird.

IV. REDE- UND PRESSEFREIHEIT

Der Fall Buwalda ist nur ein Aspekt eines größeren Bereiches, der die Redefreiheit, die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit betrifft.

Viele gute Menschen meinen, dass die Prinzipien der Rede- oder der Pressefreiheit innerhalb der Verfassungsgarantien ordentlich und sicher ausgeübt werden können. Das ist, so scheint mir, die einzige Entschuldigung für die schreckliche Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber den Angriffen auf die Rede- und Pressefreiheit, die wir in den letzten Monaten in diesem Land erleben mussten.

Meiner Ansicht nach sollten Rede- und Pressefreiheit bedeuten, dass ich sagen und schreiben kann, was ich möchte. Dieses Recht wird zu einer Farce, wenn es durch Verfassungsbestimmungen, Gesetzeserlässe, allmächtige Entscheidungen der Zensurstelle oder der Polizei geregelt wird. Mir ist durchaus bewusst, dass man mich vor den Folgen warnen wird, die uns erwarten, wenn wir der Meinungsäußerung und der Presse die Fesseln abnehmen. Dennoch glaube ich, dass die Heilung dieser Folgen der unbegrenzten Ausübung der Meinungsfreiheit in noch mehr freien Meinungsäußerungen bestehen wird.

Die Kontrolle von Gedanken konnte noch nie die Welle des Fortschritts aufhalten, wohingegen verfrühte gesellschaftliche Explosionen nur zu oft durch Repressionswellen ausgelöst worden sind.

Werden unsere Regierenden denn nie begreifen, dass Länder wie England, Holland, Norwegen, Schweden und Dänemark, wo die größte Meinungsfreiheit herrscht, am meisten von diesen ›Folgen‹ verschont worden sind? Wohingegen Russland, Spanien, Italien, Frankreich und ach, selbst die USA diese ›Folgen‹ zum dringlichsten politischen Faktor erhoben haben. Angeblich handelt es sich bei den USA um ein mehrheitsregiertes Land, aber trotzdem kann jeder Polizist, auch wenn er nicht von der Macht der Mehrheit unterstützt wird, in russischer Manier eine Versammlung auflösen, RednerInnen von der Bühne zerren und das Publikum aus dem Saal prügeln. Der Vorstand der US-Bundespost, der nicht gewählt wird, hat die Befugnis, Veröffentlichungen zu verhindern und Post zu beschlagnahmen. Gegen seine Entscheidungen kann man ebenso wenig Revision einlegen wie gegen die des russischen Zaren. Ich bin voll und ganz der Ansicht, dass wir eine neue Unabhängigkeitserklärung brauchen. Gibt es denn keine modernen Jeffersons oder Adams?

V. KIRCHE

Unlängst wurde auf einer Tagung der politischen Überreste einer einst revolutionären Idee beschlossen, dass Religion und Wahlrecht nichts miteinander zu tun haben dürfen. Warum sollten sie auch? »Solange der Mensch dazu bereit ist, dem Teufel seine Seele zu überlassen, kann er mit der gleichen Konsequenz dem Politiker seine Rechte überlassen. Dass Religion eine private Angelegenheit ist, haben die bis-marxistischen SozialistInnen Deutschlands längst geklärt. Unsere US-MarxistInnen, die wenig Rückgrat und Originalität besitzen, müssen für diese Weisheit unbedingt nach Deutschland reisen. Religion hat dort als Knüppel gedient, um mehrere Millionen Menschen in die disziplinierte Armee des Sozialismus zu prügeln. Hier in den USA kann das Gleiche geschehen. Um Himmels Willen, lasst uns nicht gegen die Ehrbarkeit verstoßen, lasst uns nicht die religiösen Gefühle der Menschen verletzen.

Religion ist ein Aberglaube, der einst aus der geistigen Unfähigkeit des Menschen entstand, Naturphänomene zu verstehen. Die Kirche ist eine organisierte Institution, die dem Fortschritt stets im Wege gestanden hat.

Die Kirche als Institution hat die Religion ihrer Naivität und Ursprünglichkeit beraubt. Sie hat die Religion in einen Albtraum verwandelt, der die menschliche Seele unterdrückt und den Verstand fesselt. »Die Herrschaft der Finsternis«, wie Leo Tolstoi, der letzte wahre Christ, die Kirche nennt, ist der Feind der menschlichen Entwicklung und des freien Denkens und hat als solcher keinen Platz im Leben wahrhaft freier Menschen.

VI. LIEBE UND EHE

Ich glaube, das sind wahrscheinlich die Themen in diesem Land, die am meisten totgeschwiegen werden. Es ist nahezu unmöglich, darüber zu sprechen, ohne den Missfallen des geschätzten Anstandes einer Menge guter Menschen zu erregen. Kein Wunder also, dass bezüglich dieser Frage so viel Unwissen herrscht. Allein eine offene, ehrliche und intelligente Behandlung dieser Themen, die für das Individuum ebenso lebenswichtig sind wie für das gesellschaftliche Wohlergehen, wird die Luft von dem hysterischen, sentimentalen Unsinn bereinigen, der sie umgibt.

Ehe und Liebe sind nicht gleichbedeutend; im Gegenteil, oft stehen sie einander verfeindet gegenüber. Ich bin mir zwar der Tatsache bewusst, dass einige Ehen aus Liebe entstehen, aber die engen materiellen Einschränkungen der Ehe, wie sie ist, zerquetschen rasch die zarte Blume der Zuneigung.

Die Ehe ist eine Institution, die Staat und Kirche enorme Einnahmen garantiert und sie außerdem dazu befähigt, sich in diesen Lebensbereich einzumischen, der von kultivierten Menschen seit Langem als ihr persönlicher Bereich betrachtet wird, als ihre ureigenste heilige Angelegenheit. Liebe ist die mächtigste Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen, die seit Urzeiten alle menschengemachten Gesetze herausgefordert und die eisernen Schranken der Konventionen von Kirche und Moral durchbrochen hat. Die Ehe ist oft ein rein wirtschaftliches Abkommen, das für die Frau eine lebenslange Versicherungspolice darstellt und dem Mann die Erhaltung seiner Art ermöglicht oder ihm ein hübsches Spielzeug zur Verfügung stellt. Die Ehe und die Vorbereitung darauf bedeuten also für die Frau ein Leben als Parasit, als abhängige, hilflose Magd, während dem Mann das Recht über ein menschliches Leben erteilt wird.

Was können derartige Umstände mit Liebe gemein haben? Mit dem Element, dem alles Geld und alle Macht der Welt nichts bedeuten und das in seiner eigenen Welt des freien menschlichen Ausdrucks existiert? Aber wir leben nicht mehr in der Zeit der Romantik, von Romeo und Julia, von Faust und Margarita, von Verzückung im Mondenschein, von Blumen und Musik. Wir leben in einem praktischen Zeitalter. An erster Stelle steht für uns das Einkommen. Wie schlimm steht es doch um uns, wenn wir in einer Zeit angekommen sind, in der selbst die Höhenflüge der Seele kontrolliert werden. Ohne das Element der Liebe kann sich kein Mensch entwickeln.

Wenn aber zwei Menschen dem Schrein der Liebe huldigen, was wird dann aus dem goldenen Kalb, der Ehe? »Sie ist die einzige Sicherheit für die Frau, für das Kind, die Familie, den Staat.« Für die Liebe aber gibt es keine Sicherheit, und ohne Liebe kann kein gutes Zuhause existieren und tut es auch nicht. Ohne Liebe sollte kein Kind geboren werden; ohne Liebe kann sich eine wahrhafte Frau nicht mit einem Mann verbinden. Die Angst, dass Liebe allein nicht ausreicht, um dem Kind materielle Sicherheit zu geben, ist überholt. Ich glaube, dass die erste Unabhängigkeitserklärung der Frau, wenn sie ihre Emanzipation unterschreibt, sein wird, dass sie einen Mann wegen seines Herzens und Verstandes bewundert und liebt und nicht aufgrund der Größe seines Geldbeutels. Die zweite Erklärung wird sein, dass sie das Recht hat, diese Liebe ohne Hindernisse der Außenwelt zu leben. Die dritte und wichtigste Erklärung wird das absolute Recht auf freie Mutterschaft sein.

Auf einer solchen Mutter und einem gleichermaßen freien Vater baut die Sicherheit des Kindes auf. Sie haben die Kraft, die Entschlossenheit, die Harmonie, eine Umgebung zu schaffen, in der allein die menschliche Pflanze zu einer erlesenen Blume wachsen kann.

VII. GEWALT

Nun kommen wir zu dem Thema, zu dem die meisten Missverständnisse in den Köpfen der US-amerikanischen Öffentlichkeit existieren. »Wie, propagiert ihr etwa keine Gewalt, wenn ihr die Gekrönten und die Präsidenten töten wollt?« Wer sagt denn, dass ich das vorhätte? Hat mich jemand so etwas sagen gehört? Hat das jemand in unseren Schriften gefunden? Nein, aber es steht in den Zeitungen und alle sagen es; also muss es stimmen. Ach, wie ist es doch um das logische Denken und das Urteilsvermögen unserer lieben Öffentlichkeit bestellt!

Ich bin der Ansicht, dass der Anarchismus die einzige Philosophie des Friedens ist, die einzige Theorie gesellschaftlicher Beziehungen, die menschliches Leben höher schätzt als alles andere.

Ich weiß, dass einige Anarchistinnen gewaltsame Handlungen unternommen haben, aber es sind die schreckliche wirtschaftliche Ungleichheit und die große politische Ungerechtigkeit, die solche Aktionen provozieren, nicht der Anarchismus. Jede Institution baut heute auf Gewalt auf; unsere ganze Atmosphäre ist davon durchsetzt. Solange ein solcher Staat existiert, können wir wahrscheinlich eher darauf hoffen, die Niagarafälle aufhalten zu können als die Gewalt. Ich erwähnte bereits, dass in den Ländern, in denen größere Meinungsfreiheit herrscht, weniger oder keine Gewalt herrscht. Was ist die Moral davon? Ganz einfach: Keine von AnarchistInnen begangene Handlung diente ihrem persönlichen Vorteil, ihrer Verherrlichung oder ihrem Profit, sondern es handelte sich vielmehr dabei um einen bewussten Protest gegen repressive, willkürliche, tyrannische Maßnahmen von oben.

Der französische Präsident Carnot wurde von Caserio aufgrund seiner Weigerung getötet, das Todesurteil für Vaillant zurückzunehmen, für dessen Leben sich die gesamte literarische, wissenschaftliche und humanitäre Welt Frankreichs eingesetzt hatte. Bresci reiste auf eigene Kosten nach Italien, verdiente sich den Lebensunterhalt in den Seidenfabriken von Paterson und führte König Umberto seiner gerechten Strafe zu, weil dieser angeordnet hatte, während eines Hunger-Protests auf wehrlose Frauen und Kinder zu schießen. Angiolillo tötete den Premierminister Canovas, weil dieser im Montjuich-Gefängnis die spanische Inquisition wieder hatte aufleben lassen. Alexander Berkman versuchte, während des Streiks von Homestead Henry Clay Frick zu töten, weil er sich mit den elf Streikenden in enger Solidarität verbunden fühlte, die von den Pinkerton-Kräften getötet worden waren, und mit den Witwen und Kindern, die Frick aus Mr. Carnegies armseligen kleinen Hütten jagen ließ.

Jeder dieser Männer teilte der Welt schriftlich oder in gesprochenen Worten seine Gründe mit und legte die Ursachen dar, die zu seiner Handlung geführt hatten. Daraus ist ersichtlich, dass es nicht die Philosophie des Anarchismus war, die ihn zu diesen Taten trieb, sondern die unerträgliche wirtschaftliche Situation und der politische Druck, das Leid und die Verzweiflung seiner Mitmenschen. Jeder dieser Männer handelte offen und freimütig und war bereit, die Konsequenzen zu tragen und das eigene Leben zu geben.

Wenn ich die wahre Natur unserer gesellschaftlichen Übel diagnostiziere, kann ich nicht jene verurteilen, die ohne eigenes Verschulden an einer weit verbreiteten Krankheit leiden.

Ich glaube nicht, dass diese Taten eine gesellschaftliche Erneuerung mit sich bringen oder darauf angelegt waren. Das kann einerseits nur durch eine umfassende, breit angelegte Bildung bezüglich der Position des Menschen in der Gesellschaft und seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen geschehen und zum Zweiten durch Beispiele. Damit meine ich, dass die Wahrheit, wenn sie einmal erkannt wurde, auch gelebt werden muss und ihr Wesen nicht nur theoretisiert werden darf. Und zum Dritten ist die mächtigste Waffe der bewusste, intelligente, organisierte wirtschaftliche Protest der Massen durch direkte Aktion und den Generalstreik.

Im Allgemeinen wird angenommen, dass die AnarchistInnen nichts von Organisation halten und Anarchismus folglich Chaos bedeutet. Diese Aussage entbehrt jeglicher Grundlage. Es stimmt, dass wir nicht an die obligatorische, willkürliche Seite von Organisation glauben, die Menschen gegensätzlicher Vorlieben und Interessen in ein gemeinsames Gehäuse presst und dort durch Zwang festhält. Organisation im Ergebnis einer natürlichen Vermischung gemeinsamer Interessen jedoch, die freiwillig entsteht, wird von den Anarchistinnen nicht nur nicht abgelehnt, sondern ist in ihren Augen sogar die einzig mögliche Grundlage gesellschaftlichen Lebens.

Es ist die Harmonie natürlichen Wachstums, das eine Vielfalt an Farben und Formen hervorbringt – ein komplettes Ganzes, das wir in der Blume bewundern können. Dementsprechend wird die organisierte Aktivität freier Menschen im Geist der Solidarität zur Perfektion gesellschaftlicher Harmonie führen – und das ist der Anarchismus. Tatsächlich kann nur er die nicht-autoritäre Organisation zum Leben erwecken, da er den bestehenden Widerspruch zwischen Individuen und Klassen abschafft.