Titel: Das Trauerspiel der Frauenemanzipation
AutorIn: Goldman, Emma
Datum: 1911
Bemerkungen: Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«. hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. ISBN 978-3-89771-920-0. UNRAST-Verlag, Münster. S. 180–190. (Mother Earth Publication | 2 nd Ed. 1911)

Ich beginne mit einem Eingeständnis: Ungeachtet aller politischen und ökonomischen Theorien, die sich mit den grundlegenden Unterschieden zwischen verschiedenen Gruppen der Menschheit beschäftigen, ungeachtet aller Klassen- und Rassenunterschiede, ungeachtet aller künstlich gezogenen Grenzen zwischen den Rechten der Frau und den Rechten des Mannes glaube ich, dass es einen Punkt gibt, an dem sich diese Unterschiede treffen und zu einem perfekten Ganzen zusammenfinden können.

Damit möchte ich keinen Friedensvertrag vorschlagen. Der allgemeine gesellschaftliche Antagonismus, der heute unser gesamtes öffentliches Leben erfasst hat und durch das Wirken gegenteiliger und gegensätzlicher Interessen entstanden ist, wird in Stücke zerbrechen, wenn die Neu-Organisation unseres gesellschaftlichen Lebens nach dem Prinzip wirtschaftlicher Gerechtigkeit Wirklichkeit wird.

Frieden oder Harmonie zwischen den Geschlechtern und Individuen ist nicht notwendigerweise abhängig von einer oberflächlichen Gleichstellung der Menschen und setzt auch nicht die Eliminierung individueller Charakterzüge und Besonderheiten voraus. Das Problem, dem wir heute gegenüberstehen und das in nächster Zukunft gelöst werden muss, besteht in der Frage, wie jeder Mensch er selbst und gleichzeitig eine Einheit mit anderen sein kann, wie er mit allen menschlichen Wesen mitfühlen und dabei seine eigenen charakteristischen Qualitäten behalten kann. Dies scheint mir die Basis zu sein, auf der sich Masse und Individuum, wahre Demokratinnen und Demokraten mit wahrer Individualität, Mann und Frau ohne Antagonismen und Widersprüche treffen können. Das Motto sollte nicht lauten: Vergebt einander – es sollte viel mehr heißen: Versteht einander. Der viel zitierte Satz von Madame de Stael »Alles verstehen heißt alles verzeihen« hat mich nie besonders angesprochen; er hat einen Beigeschmack von Beichtstuhl; seinen Mitmenschen zu vergeben, impliziert die Vorstellung pharisäischer Überlegenheit. Es reicht, den Mitmenschen zu verstehen. Dieses Eingeständnis ist Teil der Grundlage meiner Ansichten zur Emanzipation der Frau und ihrer Auswirkungen auf die Geschlechter.

Emanzipation sollte es der Frau ermöglichen, im wahrsten Sinne menschlich zu sein. Alles in ihr, das Bestätigung und Aktivität sucht, sollte vollste Ausdruckskraft erlangen; alle künstlichen Barrieren sollten zerstört werden und der Weg zu größerer Freiheit sollte von jeder Spur jahrhundertelanger Unterwerfung und Sklaverei bereinigt werden.

Das war das ursprüngliche Ziel der Bewegung, die sich für die Emanzipation der Frau formierte. Aber die bisher erreichten Ergebnisse haben die Frau vielmehr isoliert und sie der Quelle jener Freude beraubt, die für sie so wichtig ist. Die rein äußerliche Emanzipation hat aus der modernen Frau ein künstliches Wesen gemacht, das einen an die Produkte des französischen Obstbaus mit seinen arabesken Bäumen und Sträuchern, Pyramiden, Rädern und Kränzen erinnert; aber die Formen, die durch den Ausdruck ihrer inneren Werte möglich wären, werden so nicht erreicht. Derart künstlich gezüchtete Pflanzen des weiblichen Geschlechts sind in großer Zahl zu finden, insbesondere in unseren sogenannten intellektuellen Kreisen.

Freiheit und Gleichheit für die Frau! Welche Hoffnungen und Wünsche haben diese Worte doch geweckt, als sie das erste Mal von einigen der edelsten und mutigsten Seelen jener Tage ausgesprochen wurden. Die Sonne mit all ihrem Licht und in all ihrer Herrlichkeit sollte auf eine neue Welt scheinen; in dieser Welt sollte die Frau frei sein, um ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können – ein Ziel, das sicherlich den großen Enthusiasmus, den Mut, die Ausdauer und die endlosen Anstrengungen der großen Anzahl von Pionieren und Pionierinnen wert war, die im Kampf gegen eine Welt voller Vorurteile und Ignoranz alles riskierten. Auch meine Hoffnungen bewegen sich in diese Richtung, aber ich bin der Meinung, dass die Emanzipation der Frau so, wie sie heute interpretiert und praktisch angewendet wird, dieses großartige Ziel nicht erreichen kann. Die Frau sieht sich nun vielmehr , mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich selbst gegen die Emanzipation zu emanzipieren, wenn sie wirklich frei sein will. Das mag paradox scheinen, ist aber dennoch mehr als wahr.

Was hat sie mit ihrer Emanzipation erreicht? Gleiches Wahlrecht in einigen Staaten. Hat das unser politisches Leben bereinigt, wie viele wohlmeinende Befürworterinnen des Frauenwahlrechts vorausgesagt haben? Sicher nicht. Übrigens ist es wirklich an der Zeit, dass jene Menschen, die über ein reines, sicheres Urteilsvermögen verfügen, aufhören, mit erhobenem Zeigefinger über die Korruption in der Politik zu dozieren. Korruption in der Politik hat nichts mit der (fehlenden) Moral verschiedener politischer Persönlichkeiten zu tun. Die Ursache dafür ist rein materieller Natur. Politik ist der Spiegel der geschäftlichen und industriellen Welt, die sich an folgenden Prinzipien orientiert: ›Nehmen ist besser als geben‹; ›kaufe billig, verkaufe teuer‹ und ›eine Hand wäscht die andere‹. Insofern wird nicht einmal die Frau mit ihrem Wahlrecht die Politik jemals von diesem Schmutz befreien können.

Die Emanzipation hat die Frau dem Mann wirtschaftlich gleichgestellt; sie kann also ihren Beruf und ihr Gewerbe frei wählen; da aber ihre physische Verfassung infolge vergangener und gegenwärtiger Verhältnisse sie nicht mit der notwendigen Kraft ausgestattet hat, mit dem Mann mithalten zu können, ist sie oftmals gezwungen, sich völlig zu verausgaben, ihre Lebenskraft zu lassen und alle Anstrengung aufzubringen, um auf dem Markt bestehen zu können. Sehr wenige Frauen sind jemals wirklich erfolgreich, denn es ist bewiesen, dass Lehrerinnen, Ärztinnen, Anwältinnen, Architektinnen und Ingenieurinnen nicht mit dem gleichen Vertrauen begegnet wird wie ihren männlichen Kollegen, und sie bekommen auch nicht das gleiche Gehalt. Und denjenigen, die diese verlockende Gleichheit erreichen, gelingt dies im Allgemeinen nur auf Kosten ihres physischen und psychischen Wohlbefindens. Was die große Masse der arbeitenden Mädchen und Frauen angeht, wie viel Unabhängigkeit ist dadurch gewonnen, dass die Enge und die fehlende Freiheit zuhause gegen die Enge und fehlende Freiheit in der Fabrik, im Ausbeuterbetrieb, im Warenhaus oder Büro ausgetauscht wird? Hinzu kommt die Last, die vielen Frauen auferlegt wird, wenn sie sich nach einem langen und harten Arbeitstag noch um ihr ›trautes Heim, Glück allein‹ kümmern müssen, das sie kalt, trübselig, unordentlich und alles andere als einladend empfangt. Welch glorreiche Unabhängigkeit! Kein Wunder, dass Hunderte Mädchen so entschlossen sind, den erstbesten Heiratsantrag anzunehmen, weil sie ihre ›Unabhängigkeit‹, hinter dem Ladentisch, an der Näh- oder Schreibmaschine leid sind. Sie erwarten die Ehe ebenso ungeduldig wie die Mädchen der Mittelklasse, die sich vom Joch der Herrschaft ihrer Eltern befreien wollen. Eine sogenannte Unabhängigkeit, die lediglich dazu führt, dass man gerade so seinen Lebensunterhalt verdienen kann, ist nicht so verlockend, nicht so ideal, dass die Frau dafür alles opfern würde. Unsere hochgepriesene Unabhängigkeit ist letztendlich nichts als ein langer Prozess, der die Natur der Frau, ihren Liebesinstinkt, ihren Mutterinstinkt abstumpfen lässt und erstickt.

Dennoch ist die Situation des arbeitenden Mädchens weitaus natürlicher und menschlicher als die seiner scheinbar glücklicheren Schwestern, die in gelehrteren Berufen als Lehrerinnen, Ärztinnen, Anwältinnen, Ingenieurinnen usw. tätig sind und nach außen hin würdevoll und ordentlich auftreten müssen, während ihr Innenleben verarmt und abstirbt.

Die beschränkte Auffassung von der Unabhängigkeit und Emanzipation der Frau; die Furcht vor der Liebe zu einem Mann, der nicht ihrer gesellschaftlichen Stellung entspricht; die Angst, dass Liebe ihr die Freiheit und Unabhängigkeit nehmen könnte; der Horror, dass die Liebe oder die Freude der Mutterschaft sie nur an der kompletten Ausübung ihres Berufs hindern könnte – all das zusammen macht aus der emanzipierten, modernen Frau eine Jungfrau in Zwangsjacke, an der das Leben mit seinen bedeutenden, klärenden Sorgen und heftigen, mitreißenden Freuden vorbeirauscht, ohne ihre Seele zu berühren oder fassen zu können. Die Emanzipation, wie sie heute von der Mehrheit ihrer Anhängerinnen und Verfechterinnen verstanden wird, ist zu eng gefasst, als dass sie die grenzenlose Liebe und Ekstase zulassen könnte, die im innersten Empfinden der wahren Frau, der Liebsten, der Mutter in Freiheit verankert sind.

Das Verhängnis der wirtschaftlich unabhängigen Frau ist nicht zu viel, sondern zu wenig Erfahrung. Es stimmt zwar, dass sie ihre Schwestern vergangener Generationen im Weltwissen und der Kenntnis der menschlichen Natur übertrifft; genau deshalb fühlt sie tief in sich den Verlust der Essenz des Lebens, die allein die menschliche Seele bereichern kann und ohne die die meisten Frauen einfache Automaten in ihrem Beruf geworden sind.

Dass es soweit kommen würde, haben jene vorausgesehen, denen bewusst wurde, dass im Bereich der Ethik noch viele brüchige Ruinen aus der Zeit der unbestrittenen Überlegenheit des Mannes erhalten waren; Ruinen, die noch immer als nützlich angesehen werden. Und was noch wichtiger ist: Eine große Anzahl der Emanzipierten kommt nicht ohne sie zurecht. Jede Bewegung, die darauf abzielt, existierende Institutionen zu zerstören und durch etwas Fortschrittlicheres, Perfekteres zu ersetzen, hat AnhängerInnen, die in der Theorie für die radikalsten Ideen eintreten, sich in ihrem Alltag jedoch wie durchschnittliche KleinbürgerInnen verhalten, indem sie Ehrbarkeit vortäuschen und lautstark die Anerkennung ihrer GegnerInnen einfordern. Da gibt es beispielsweise SozialistInnen und sogar AnarchistInnen, die meinen, dass Eigentum Diebstahl ist, aber ungehalten werden, wenn ihnen jemand etwas im Wert von einem halben Dutzend Stecknadeln schuldig bleibt.

Die gleichen SpießbürgerInnen sind in der Emanzipationsbewegung zu finden. SensationsjournalistInnen und schlechte LiteratInnen haben ein Bild von der emanzipierten Frau gezeichnet, das dem guten Bürger und seinem stumpfen Gefährten die Haare zu Berge stehen lässt. Jede Angehörige der Frauenrechtsbewegung wurde als eine George Sand dargestellt, ohne jede Moral. Nichts war ihr heilig. Sie hatte keinerlei Respekt für die ideale Beziehung zwischen Mann und Frau. Kurz gesagt, Emanzipation stand lediglich für ein rücksichtsloses Leben voller Lust und Sünde; ohne Rücksicht auf Gesellschaft, Religion oder Moral. Die Verfechterinnen der Frauenrechte waren angesichts einer solch verzerrten Darstellung entsetzt, und anstatt es humorvoll zu nehmen, versuchten sie, mit aller Kraft zu beweisen, dass sie nicht so schlecht waren, wie behauptet wurde, sondern dass das ganze Gegenteil der Fall war. Solange die Frau vom Mann versklavt war, konnte sie natürlich nicht gut und rein sein; jetzt aber, da sie frei und unabhängig war, würde sie allen zeigen, wie gut sie sein konnte und dass ihr Einfluss alle Institutionen der Gesellschaft bereinigen würde. Es stimmt schon, dass die Frauenrechtsbewegung viele alte Fesseln abgeworfen hat, aber sie hat auch neue Fesseln geschaffen. Die großartige Bewegung für wahre Emanzipation ist noch nicht auf die großartige Art von Frauen getroffen, die der Freiheit auf Augenhöhe begegnen können. Die eingeschränkte, puritanische Sicht der Frau hat den Mann als Störfaktor und zweifelhaften Charakter aus ihrem Gefühlsleben verbannt. Der Mann konnte um keinen Preis mehr toleriert werden, ausnahmsweise vielleicht als Väter eines Kindes, da ein Kind ohne einen Vater schlecht zur Welt kommen kann. Glücklicherweise werden selbst die striktesten Puritanerinnen nie stark genug sein, den angeborenen Drang zum Mutterdasein in sich abzutöten. Aber die Freiheit der Frau ist eng mit der Freiheit des Mannes verbunden und viele meiner sogenannten emanzipierten Schwestern scheinen die Tatsache zu übersehen, dass ein Kind, das in Freiheit geboren werden soll, die Liebe und Hingabe aller menschlichen Wesen seiner Umgebung braucht, die des Mannes ebenso wie die der Frau. Unglücklicherweise hat eine solch beschränkte Sichtweise auf die menschlichen Beziehungen großes Unglück in das Leben des modernen Mannes und der modernen Frau gebracht.

Vor etwa 15 Jahren erschien ein Werk aus der Feder der brillanten Norwegerin Laura Marholm: Woman, a Charakter Study[1]. Marholm war eine der Ersten, die auf die Leere und Borniertheit der existierenden Vorstellung von der Emanzipation der Frau und ihre tragischen Auswirkungen auf ihr Gefühlsleben hinwies. In ihrem Werk spricht Marholm über das Schicksal einiger begabter Frauen, die in der ganzen Welt bekannt sind: von der genialen Eleonora Duse; der großartigen Mathematikerin und Schriftstellerin Sofia Kowalewskaja; von der Künstlerin und Dichterin Marie Bashkirtseff, die so jung starb. Durch jede Beschreibung des Lebens dieser Frauen von außergewöhnlicher Mentalität zieht sich eine Spur ungestillter Sehnsucht nach einem erfüllten, abgerundeten, kompletten und schönen Leben sowie die Unruhe und Einsamkeit, die aus dessen Nichtexistenz entstand. Anhand dieser meisterhaften psychologischen Abhandlungen bleibt einem die Erkenntnis nicht erspart, dass es für die Frau mit einem höheren geistigen Entwicklungsstand immer schwieriger wird, einen ebenbürtigen Partner zu finden, der in ihr nicht nur das weibliche Geschlecht sieht, sondern auch den Menschen, die Freundin, die Gefährtin und das starke Individuum, das keine Facette des Charakters verlieren kann und darf.

Der durchschnittliche Mann mit seinem Hochmut, seinem lächerlichen Überlegenheitsgefühl gegenüber dem weiblichen Geschlecht, kommt für die Frauen, die Laura Marholm in ihrer Charakterstudie beschreibt, als Partner schlichtweg nicht in Frage, ebenso wenig wie der Mann, der in ihr nichts anderes als ihr Genie und ihren Geist sieht, nicht aber ihre weibliche Natur erwecken kann.

Ein reicher Intellekt und eine gute Seele werden gewöhnlich als Voraussetzungen für eine tiefgründige und wunderbare Persönlichkeit angesehen. Im Falle der modernen Frau sind es genau diese Attribute, die sie daran hindern, sich ganz zu verwirklichen. Mehr als hundert Jahre lang wird nun schon die alte, bibelkonforme Art der Ehe, »bis dass der Tod uns scheidet«, als Institution angeprangert, die für die Herrschaft des Mannes über die Frau steht, für ihre komplette Unterwerfung unter seine Launen und Befehle und für ihre absolute Abhängigkeit von seinem Namen und seiner Unterstützung. Immer wieder ist schlüssig bewiesen worden, dass die alte Ehebeziehung die Frau auf die Rolle der Dienerin des Mannes und Gebärerin seiner Kinder reduziert hat. Und trotzdem finden wir viele emanzipierte Frauen, die die Ehe mit all ihren Unzulänglichkeiten der Enge eines unverheirateten Lebens vorziehen: eng und unerträglich aufgrund der Ketten, die Moralvorstellungen und gesellschaftliche Vorurteile ihrer Natur anlegen und sie damit fesseln.

Dieser Widerspruch im Leben vieler fortschrittlicher Frauen erklärt sich aus der Tatsache, dass sie die Bedeutung von Emanzipation nie wirklich verstanden haben. Sie glaubten, allein die Unabhängigkeit von allen äußerlichen Tyranneien sei nötig; die inneren Tyrannen, die Leben und Wachsen viel mehr schädigen – ethische und gesellschaftliche Konventionen – wurden sich selbst überlassen und haben sich damit verselbstständigt. Sie scheinen in den Köpfen und Herzen der aktivsten Verfechterinnen der Emanzipation der Frau wunderbar miteinander zurechtzukommen, wie schon in den Köpfen und Herzen unserer Großmütter.

Diese inneren Tyrannen haben verschiedene Formen: die öffentliche Meinung, oder was werden Mutter, Bruder, Vater, Tante oder andere Verwandte sagen; oder was werden Frau Müller, Herr Meyer, der Chef oder die Schulbehörde sagen? Alle diese WichtigtuerInnen, die Moralapostel, Kontrolleure des menschlichen Geistes, was werden sie sagen? Bis die Frau nicht gelernt hat, ihnen allen zu trotzen, sich zu behaupten und auf ihrer unbeschränkten Freiheit zu bestehen, auf die Stimme ihrer Natur zu hören, ob sie nun nach dem größten Schatz des Lebens, der Liebe zu einem Mann, verlangt, oder nach ihrem großartigsten Privileg, dem Recht, Kinder zu gebären – solange kann sie sich nicht als emanzipiert bezeichnen. Wie viele emanzipierte Frauen haben wirklich den Mut, dem Ruf der Liebe zu folgen, die in ihren Brüsten pocht und fordert, gehört und befriedigt zu werden?

Der französische Schriftsteller Jean Reibrach versucht in seinem seiner Romane, New Beauty, das Bild der idealen, wundervollen, emanzipierten Frau zu zeichnen. Dieses Ideal wird von einem jungen Mädchen verkörpert, einer Ärztin. Sie spricht schlau und weise darüber, wie Kinder zu ernähren sind; sie ist freundlich und verteilt kostenlos Medizin an arme Mütter. Mit einem jungen Mann aus ihrer Bekanntschaft spricht sie über die hygienischen Bedingungen der Zukunft und wie diverse Bazillen und Keime durch die Nutzung von Steinwänden und -böden und die Abschaffung von Teppichen und Vorhängen ausgerottet werden. Natürlich ist sie sehr schlicht und praktisch gekleidet, meist schwarz. Der junge Mann, bei ihrer ersten Begegnung zunächst eingeschüchtert von seiner emanzipierten Freundin, lernt nach und nach, sie zu verstehen, und eines schönen Tages merkt er, dass er sie liebt. Beide sind jung und sie ist liebenswürdig und schön, und auch wenn sie sich stets streng kleidet, lassen sie ein tadelloser weißer Kragen und die Manschetten weicher erscheinen. Man erwartet, dass er ihr seine Liebe gesteht, aber er ist keiner von denen, die auf solche romantischen Absurditäten hereinfallen würden. Gedichte und der Enthusiasmus der Liebe bedecken die Röte ihrer Gesichter vor der reinen Schönheit der Dame. Er unterdrückt die Stimme der Natur, die in ihm ruft, und verhält sich stets korrekt. Auch sie ist allzeit untadelig, stets rational, macht immer alles richtig. Ich fürchte, wenn sie zusammengekommen wären, hätte der Mann den Tod durch Erfrieren riskiert. Ich muss gestehen, dass ich dieser neuen Schönheit nichts Schönes abgewinnen kann, wenn sie so kalt ist wie die Steinwände und die Böden, von denen die Frau träumt. Da sind mir doch die Liebeslieder der romantischen Zeiten lieber, da bevorzuge ich den Don Juan und die Madame Venus, das Durchbrennen mit Leiter und Strick im Mondenschein, verfolgt vom Fluch des Vaters, dem Klagen der Mutter und den moralischen Urteilen der NachbarInnen, der Korrektheit und Anständigkeit, die sich mit dem Zollstock messen lassen. Wenn die Liebe das grenzenlose Geben und Nehmen nicht kennt, dann ist es keine Liebe, sondern eine geschäftliche Transaktion, die stets Plus und Minus gegeneinander abwägt.

Die größte Schwäche der Emanzipation von heute liegt in ihrer künstlichen Steifheit und ihrer bornierten Ehrbarkeit, die in der Seele der Frau eine Leere schaffen, die sie nicht aus dem Quell des Lebens trinken lässt. Ich habe einmal gesagt, dass eine engere Beziehung zwischen der altmodischen Mutter und Hausfrau, die stets um das Glück ihrer Kleinen besorgt war und das Wohlergehen derer, die sie liebte, und der wahrhaft emanzipierten Frau zu existieren scheint als zwischen letzterer und ihrer angeblich emanzipierten Schwester. Die Jünger der Emanzipation erklärten mich schlicht und ergreifend zur Ketzerin, die an den Pfahl gehöre. In ihrem blinden Eifer konnten sie nicht erkennen, dass mein Vergleich zwischen Alt und Neu nur zeigen sollte, dass viele unserer Großmütter Blut in ihren Adern hatten, dass sie viel mehr Humor und Weisheit besaßen und ganz sicher viel natürlicher, herzlicher und unkomplizierter waren als die Mehrheit unserer emanzipierten Frauen im Berufsleben, die die Colleges, Studienräume und etliche Dienststellen füllen. Das soll nicht heißen, dass ich gern in die Vergangenheit zurückkehren und die Frau in ihren alten Lebensbereich, die Küche und die Kinderstube, zurückschicken möchte.

Die Lösung liegt in einem energischen Streben nach einer helleren und klareren Zukunft. Wir müssen ungehindert aus alten Traditionen und Gewohnheiten herauswachsen. Die Bewegung für die Emanzipation der Frau hat gerade mal den ersten Schritt in diese Richtung getan. Es bleibt zu hoffen, dass sie die Kraft findet, einen zweiten zu tun. Das Wahlrecht, oder gleiche BürgerInnenrechte, mögen gute Forderungen sein, aber die wahre Emanzipation beginnt weder an den Wahlurnen noch in den Gerichten. Sie beginnt in der Seele der Frau. Aus der Geschichte lernen wir, dass jede unterdrückte Klasse die wahre Befreiung von ihren Herren aus eigener Anstrengung erreichen musste. Die Frau muss diese Lektion lernen, sie muss erkennen, dass ihre Freiheit so weit reichen wird, wie ihre Fähigkeit reicht, diese Freiheit zu erlangen. Deshalb ist es viel wichtiger, dass sie beginnt, ihr Inneres neu zu erschaffen, dass sie sich vom Gewicht der Vorurteile, Traditionen und Gebräuche befreit. Die Forderung nach gleichen Rechten in allen Lebensbereichen ist gerechtfertigt und gerecht; aber letztendlich ist das wichtigste Recht das, lieben und geliebt werden zu dürfen. Wenn die teilweise Emanzipation tatsächlich zu einer vollständigen und wahrhaften Emanzipation der Frau werden soll, muss sie der lächerlichen Vorstellung abschwören, dass geliebt werden, Liebste und Mutter zu sein, gleichbedeutend ist mit einem Leben als Sklavin und Unterworfene. Die absurde Idee vom Dualismus der Geschlechter oder dass Mann und Frau zwei antagonistische Welten repräsentieren, muss überwunden werden.

Kleinlichkeit trennt; Größe eint. Lasst uns groß und großzügig sein. Lasst uns die lebenswichtigen Dinge nicht aufgrund einiger Trivialitäten vergessen. Ein wahres Verständnis von der Beziehung zwischen den Geschlechtern wird keine Siegreichen und keine Besiegten kennen; es wird in einer großartigen Sache bestehen: von sich selbst unbegrenzt zu geben, um sich selbst reicher, erfüllter und besser zu fühlen. Das allein kann die Leere ausfüllen und das Unheil der Emanzipation der Frau in Freude verwandeln, in grenzenlose Freude.


[1] Emma Goldmann irrt hier: Laura Marholm (eigentlich: Laura Mohr) war deutschsprachige Dänin. Ihr Buch erschien im Orignial auf Deutsch. Laura Marholm: Das Buch der Frauen. Zeitpsychologische Porträts, Leipzig 1894