Titel: Wie ich Anarchist wurde
AutorIn: Henry, Émile
Themen: Ausbeutung, Freiheit
Quelle: Aus: Contra. Anarchistische Zeitschrift. No.1, 2. Jahrgang, Wien, im April 1931
Bemerkungen: Aus dem Französischen. Übersetzt von Joseph Kucera.

Ich bin erst seit kurzer Zeit Anarchist. Etwa um die Mitte 1894 kam ich in die revolutionäre Bewegung. Vorher hatte ich vegetiert, ganz eingenommen von der herrschenden Moral. Ich war gewohnt, die Prinzipien von Vaterland, Familie, Autorität und Eigentum zu respektieren, ja selbst zu lieben.

Aber die Erzieher der gegenwärtigen Generation vergassen speziell eine Sache, des ist das Leben mit seinen Kämpfen und seinen Ekeln, mit seinen Ungerechtigkeiten, mit seinen Missetaten, welche den Unwissenden die Augen öffnen und die Wirklichkeit erleben lassen. Man erzählte mir, dass dieses Leben leicht wäre und weit offen stünde für die Intelligenten und Energischen. Doch die Beobachtung zeigte mir, dass allein die Zynischen und Brutalen ihren guten Platz beim Bankett des Lebens finden.

Man sagte mir, die sozialen Institutionen wären auf Gerechtigkeit und Gleichheit begründet und konstatierte nichts, als Gemeinheit und Lüge um mich herum. Jeder Tag brachte mir eine neue Desillusion. Ueberall, wo ich ging, war ich Zeuge derselben Leiden bei dem einen Teil der Menschheit und derselben Freuden bei dem anderen.

Ich versäumte nicht, zu begreifen, dass die grossen Worte: Ehre, Aufopferung, Pflicht, die man mich zu verehren geheissen, nichts waren als Masken, um die gemeinsten Scheusslichkeiten zu verdecken.

Der Fabriksbesitzer, der durch den Raub an den Löhnen der Arbeiter sein Glück macht ist ein Ehrenmann, unterdessen dem Arbeiter das Nötigste fehlt.

Der Abgeordnete, der Minister, dessen Hand immer für Bestechungen offen ist, wird von der Oeffentlichkeit geehrt.

Der Offizier, der das neue Gewehrmodell an siebenjährigen Kindern ausprobiert, hat nur seine Pflicht getan und der Präsident des Parlamentes beglückwünscht ihn.

All dies, was ich sah revoltierte mich und ich übte Kritik an der sozialen Organisation. Diese Kritik wurde schon so oft gemacht, dass ich es nicht nötig habe, sie hier zu wiederholen. Es genügt zu sagen, dass ich der Feind einer Gesellschaft wurde, die ich als verbrecherisch betrachtete.

Einen Augenblick eingenommen vom Sozialismus, hatte ich mich bald von dieser Partei entfernt. Ich hatte zuviel Liebe für die Freiheit, zuviel Respekt vor der individuellen Initiative, zuviel Abneigung gegen die Einreihung als Nummer in die Armee des vierten Standes. Zum andern sah ich, wie der Sozialismus im Grunde an der gegenwärtigen Ordnung nichts ändern wollte. Er hält das Prinzip der Autorität aufrecht und ist nichts als ein alter Rest des Glaubens an eine äussere Macht. Ich hatte begriffen, dass die Hypothese Gott durch die moderne Wissenschaft beseitigt ist und durch Studien ward ich Materialist und Atheist.

Religiöse und autoritäre Moral sind auf Dummheit begründet. Wo ist also die neue Moral, die in Harmonie mit den Naturgesetzen die alte Welt erneuern wird und eine glücklichere Menschheit gebären wird?

In diesem Augenblick trat ich mit einigen anarchistischen Gefährten in Verbindung, die besten Menschen, die ich gekannt habe. Der Charakter dieser Menschen war es in erster Linie, der mich hinriss. Ich schätzte ihre grosse Aufrichtigkeit, die absolute Offenherzigkeit, eine tiefe Verachtung aller Vorurteile und ich wollte die Idee kennen, die sie so von den anderen Menschen verschieden machte.

So fand durch Beobachtungen und persönlicher Betrachtungen die anarchistische Idee in meinem Geiste eine vorbereitete Aufnahme. Sie hatte nichts als zu präzisieren, was mir noch unklar und verschwommen schien.

Ich wurde meinerseits Anarchist.