Titel: Das Problem der sexuellen Beziehungen und der individualistische Gesichtspunkt
AutorIn: Armand, Émile
Datum: 1923
Bemerkungen: Kapitel aus "L'initiation Individualiste Anarchiste". Die Übersetzung aus dem Italienischen und Französischen besorgte Falco Meyer. Verlag Der Mackay-Gesellschaft Hamburg. 1978

Betrachtungen über die Idee der Freiheit

Bevor man den individualistischen anarchistischen Gesichtspunkt zum sexuellen Problem darlegt, muß man sich über den Ausdruck Freiheit verständigen. Es ist allgemein bekannt, daß die Freiheit (als abstrakter Begriff) kein Ziel sein kann, weil es keine absolute Freiheit gibt; wie es praktisch auch keine absolute Wahrheit gibt, sondern nur Teilwahrheiten, so gibt es auch nur Teilfreiheiten, individuelle Freiheiten.

Manchen Gegebenheiten kann man sich nicht entziehen; man kann beispielsweise nicht frei sein, nicht zu atmen oder die körperliche Umsetzung der Nahrungsstoffe nach Belieben zu steuern. Die Freiheit ist nur eine Abstraktion wie die Wahrheit, die Reinheit, die Güte, die Gleichheit. Nun also, eine Abstraktion kann eben kein Ziel sein.

Unter besonderem Gesichtspunkt hört die Freiheit jedoch auf, Abstraktion zu sein und wird eine Methode, ein Mittel. Und das ist die Freiheit zu denken, besser gesagt: die Freiheit, in Wort und Schrift und in der Form, in der sich die eigenen Gedanken dem Geiste präsentieren, diese ohne Hindernisse ausdrücken zu können. Also ist der dem Denken zugehörige Ausdruck, der vollständige Ausdruck des Gedankens, das verfolgte Ziel und nicht die Freiheit. Gerade weil es nur Teilfreiheiten gibt, können wir – den Bereich des Abstrakten verlassend – uns auf festen Boden begeben und unsere "Bedürfnisse und Wünsche" – mehr noch als "unsere Rechte" (was ein abstrakter und willkürlicher Ausdruck ist) – äußern, die von verschiedenen Autoritäten abgelehnt, verstümmelt und deformiert worden sind.

Ob intellektuelles, künstlerisches, ökonomisches oder sexuelles Leben: die Individualisten reklamieren für jede dieser Lebensformen die Freiheit, sich völlig so zu zeigen, wie es Individuen tun, welche die gleiche Freiheit aller Einzelnen, jenseits der gesetzmäßigen Konzessionen und der religiösen und bürgerlichen Vorurteile, respektieren. Sie reklamieren für jedes dieser Leben unermeßliche Ströme, in denen sich die menschliche Aktivität entfalten und unbehindert fließen kann, ohne daß die Gehege des Moralismus oder die Sperren des Traditionalismus sie einengen oder aufhalten. Schließlich sind die Freiheiten mit ihren heftigen Irrtümern, ihren nervösen Zuckungen und ihrer impulsiven Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen viel besser als die Autoritäten, diese unbewegten Fassaden, starren Eisengitter, hinter denen man verkümmert und im Sterben liegt. Zwischen dem Leben im Freien und dem Leben im Keller wählen wir das Leben im Freien.

Was ist Liebe?

Die Liebe ist ein Aspekt des Lebens, und zwar der am schwersten zu definierende; so sehr verschieden sind die Standpunkte, von denen aus man sie betrachten kann. Manchmal bedeutet Liebe die Befriedigung eines sexuellen Bedürfnisses, ein Gefühl, das eine flüchtige Empfindung sozusagen für die Reflexion ist; manchmal ist es aber auch ein Gefühl, das seine Herkunft von einem spirituellen Bedürfnis nach tiefer, intimer, affektiver Kameradschaftlichkeit ableitet, von einem Bedürfnis nach tiefer und andauernder Freundschaft.

Manchmal ist es so, ein anderes Mal jedoch ein Denkakt des Willens, wovon man vermutet, die Konsequenzen und Entwicklungen erwogen zu haben. Die Liebe ist auch eine persönliche Lebenserfahrung, oder eine impulsive Erfahrung, eine Laune und nichts mehr; oder aber auch eine Erfahrung, die lange Jahre dauern kann, für ein ganzes Leben.

Wenn die Liebe sich auch nicht mehr als gewisse andere Aspekte der menschlichen Aktivität der Analyse entzieht, so macht ihre Analyse dennoch Schwierigkeiten. Die Liebe stellt sich "jenseits von gut und böse". Manche malen sie als "Sohn der Boheme", andere eignen ihr "Gründe, die die Vernunft ignoriert" zu; viele haben sie als "stärker als der Tod" bewertet. Das ist wesentlich individuellen Ursprungs. Es ist Gefühl und auch Leidenschaft. Sie wird also zur Triebfeder eines intensiven, affektiven Lebens – Gefühl oder Leidenschaft – , beeinflußt den Charakter, weckt den Geist, verführt zum "Heroismus", sie führt auch sehr zu Entmutigung, Traurigkeit, düsterem Kummer. Schließlich können philosophische Erörterung und Wille sie in gewissen Fällen kanalisieren, ihre Expansion eindämmen, dabei nehmen sie der Liebe jedoch ihren Gefühls- und Leidenschaftscharakter nicht.

Die Dinge sind in der Weise vorherbestimmt, daß das Menschengeschlecht sich aus Wesen verschiedenen Geschlechts zusammensetzt, deren Vereinigung unentbehrlich ist für die Fortpflanzung der Menschheit.

Bis zu dem Tage, an dem man die Möglichkeit ausgedacht haben wird, Wesen – ohne Geschlecht, ist zu hoffen – in den Laboratorien der Biologie zu fabrizieren, wird diese Unentbehrlichkeit weiterbestehen; da dieser Tag noch in weiter Ferne liegt, ist es besser, die eventuellen Konsequenzen nicht in Rechnung zu stellen.

Aber nicht nur die Kontinuität der menschlichen Spezies ist an die Vereinigung der beiden Geschlechter gebunden, die sie zusammensetzen; die Natur hat es auch so eingerichtet, daß die beiden Geschlechter sich gegenseitig anziehen und daß der sexuelle Akt die Quelle, das Objekt einer wollüstigen Glückseligkeit ist, welche ein verderbter Asketismus und ein pharisäischer Moraltheismus zwar sehr zu entehren oder der Schändlichkeit zu beschuldigen haben versuchen können, wobei es diesen aber nie gelang, sie als ungesund ansehen zu lassen; so sehr ist sie integrierter Bestandteil einer Manifestation der menschlichen Natur.

Selbst die Tatsache, daß man die Zeugung freiwillig vollziehen und ihre Ausübung ausschließlich der Frau freistellen kann, beeinträchtigt keineswegs die sexuelle Attraktion.

Die Geschlechter ziehen sich gegenseitig an, suchen sich natürlich, normal: dies ist der ursprüngliche, uranfängliche Sachverhalt, die fundamentale Basis der Beziehungen zwischen den beiden Hälften, den beiden Geschlechtern der Menschheit.

Andererseits wäre es Wahnsinn, die Liebe auf eine Gleichung reduzieren oder sie auf eine einzige Ausdrucksform beschränken zu wollen. Die das versuchten, mußten sich davon überzeugen, daß sie vom Wege abgeraten waren. Die Liebeserfahrung kennt keine Grenzen. Sie ist von Individuum zu Individuum verschieden.

Klarheit des individualistischen Gesichtspunktes

Außerhalb der Finsternisse, die aus dem Mangel an Freimut gebildet sind, in welchen sich die verbergen, die sexuelle Probleme diskutieren; außerhalb der Vorwürfe, die sich manche Wesen beiderlei Geschlechts gegenseitig machen, sticht der individualistische anarchistische Standpunkt leuchtend und blendend ab.

Hier ist er, der Gesichtspunkt:

Es ist Angelegenheit jedes Individuums – Mann oder Frau – , sein Sexualleben selbst zu bestimmen, je nachdem, wie es seine Natur anregt, je nach den Schlußfolgerungen, zu denen die eigenen Liebeserfahrungen geführt haben, je nach der eigenen Wertschätzung des Lebens.

Die freie Liebe, die Freiheit im Bereiche des Sexuallebens, war immer eine der wesentlichen Forderungen der Individualisten und die "Freie Liebe" bedeutet für sie – indem sie sich mokieren über die äußere Moral, über gesellschaftliche Konventionen, Klassenvorurteile, Vorurteile der Rasse und der Erziehung – , sich suchen, sich kennenlernen, sich geben, sich zurücknehmen, sich natürlich und spontan wiederzufinden durch die Zeit, durch die man sich determiniert fühlt, wohlwissend um die pathologischen Konsequenzen und um die Mittel, die dagegen Schutz bieten, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen wem auch immer – Individuum oder Kollektiv – über die eigenen Liebeserfahrungen.

Durch die Verbreitung der Erkenntnisse über sexuelle Freiheit, freie Liebe haben die Individualisten denen einen großen Dienst erwiesen, welche die freie Diskussion über sexuelle Probleme wollen, ohne dabei jedoch zu behaupten, die freie Liebe erfunden zu haben; seit undenklicher Zeit wird der Koitus außermoralisch und außergesetzlich praktiziert: die Ehemänner haben Geliebte und die Ehefrauen haben Liebhaber.

Die Individualisten beabsichtigen gewiß nicht, die Liebe im einen oder im anderen Sinne zu kodifizieren. Sie behandeln das sexuelle Problem als das eines bestimmten Kapitels der Naturgeschichte. Nachdem gezeigt wurde, daß die Liebe analysierbar ist wie jede andere menschliche Fähigkeit, fordern sie für jeden die volle und absolute Möglichkeit, die Liebestendenz zu wählen, die am besten der eigenen Natur folgen, die eigene Entwicklung begünstigen und den eigenen Bestrebungen entsprechen kann.

So können die Mitglieder eines Paares monogam vereint bleiben für die Dauer ihres natürlichen Lebens, während die eines anderen Paares einerseits die Einmaligkeit praktizieren, andererseits demgegenüber auch die Vielfalt vorziehen können.

Es kann vorkommen, daß nach einer gewissen Zeit die Einzigkeit in der Liebe der Vielfalt vorziehbar erscheint und umgekehrt. Die Existenz gleichzeitiger Liebeserfahrungen kann man viel besser verstehen von Erfahrung zu Erfahrung in vielen Stufen moralischer, affektiver oder wollüstiger Sensationen, die sich manchmal derart verändern, daß sie eine Schlußfolgerung erlauben, die der aus vorausgegangenen oder sich parallel vollziehenden Erfahrungen niemals vergleichbar war. Dies sind individuelle Probleme, nichts anderes. So ist die individualistische Konzeption.

Eine andere Seite der individualistischen Konzeption ist, daß nach analytischem oder Gesichtspunkt der Vernunft man keine dieser Tendenzen für superior oder inferior (höher oder niederer) halten kann im Hinblick auf die anderen. Was zählt, ist die Aufrichtigkeit des Gemüts und der Absichten derer, die "lieben", wenn sie sich veranlaßt sehen, ihre besondere Konzeption des Liebeslebens darzulegen oder zu praktizieren.

Die Individualisten sehen, daß es irrational ist, insbesondere die sexuellen Charaktereigenschaften oder die sentimentalen, die den Mann zur Frau treiben und umgekehrt, für "inferiore" zu halten. Die Existenz dieser Eigenschaften, die Suche und das Finden des Wesens oder der Wesen, die solche Eigenschaften haben, scheinen ein Indiz für das Wohlbefinden zu sein, das den Neurasthenikern und den Hypochondern fehlt. Die Sehnsucht der Eigenschaft anderer Ordnung – intellektueller und moralischer – ist oft eine Brücke, um zum selben Resultat zu gelangen: die Umarmung. Es geht nicht darum, sich nicht um die Eigenschaften moralischer oder intellektueller Ordnung zwischen den Wesen zu kümmern, durch die das eine zum anderen hingezogen wird, sondern lediglich darum, merken zu lassen, daß die Sehnsucht nach und die Untersuchung der Eigenschaften dieser Art später erscheinen, zweitrangig.

Die Konzeption der Freiheit der Liebe will, daß die Anziehungskraft, der Appetit, das sexuelle Verlangen, die Liebe schließlich nicht nur die Lockungen oder äußerlichen Anziehungen des geliebten Wesens zur Ursache hat, die Tatsache, daß an ihm "das Fleisch einen anzieht". Der Grund kann auch im selben Maße seine Sensibilität, seine Intellektualität, seine Sentimentalität, sein Charakter, seine affektive Natur, die Abenteuer oder schmerzlichen Wechselfälle seiner Existenz, die Aktivität – Wesensgrund seiner Erfahrung – , seine Bezeugungen an Zärtlichkeit für jemand, seine Beharrlichkeit in der Sehnsucht selbst sein.

Menschliche Wesen können voneinander angezogen werden zum einen durch die Sinne, zum anderen durch ein affektives Temperament, von einer zärtlichen, einschmeichelnden Natur; oft auch von einer bestimmten, sehr starken intellektuellen Entwicklung. Die Individualisten sehen nun also alle diese Arten der Anziehung als gleichwertig an; für sie ist keine superior oder inferior gegenüber der anderen und sie sind der Ansicht, daß die Existenz jeder von ihnen durch eine Einigung eine mehr oder weniger dauerhafte Verbindung hervorrufen kann.

Gewiß läßt sich der Individualist nicht beherrschen, noch will er selber den Herrn spielen in Liebesangelegenheiten. Dabei, wie in den anderen Dingen des täglichen Lebens, wird die Besorgnis, sich nicht innerlich zu verkleinern in der Beziehung zu sich selbst, sein "Kriterium" sein. Als Individualist wird er nur die Liebe akzeptieren, die frei praktiziert wird; alles andere würde für ihn ein Zuchthaus sein.

Die Waage der Gleichheit

Das Problem des Pluralismus in Freundschaft und Liebe wird oft in individualistischen Zeitschriften angeschnitten. Wir bestehen auf diesen Worten: in der Freundschaft und in der Liebe; und wir haben dabei nicht die ungenierte Art vergessen, in der gewisse gute Apostel, die wir kennen, Liebeskameradschaft mit Koituskameradschaft übersetzt haben.

Daß niemand sich einbilde, wir seien in den Pfuhl bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder proletarisierter Moral gefallen: Heute wie gestern sagen wir, daß der Individualist das Recht hat, mit seinem Körper zu tun, was er für das Beste hält, und daß die Weise, wie er sich seiner bedient, nur ihn etwas angeht. Wir sagen, daß weder die Kirche noch der Staat, noch die religiöse oder weltliche Moral das Recht haben, sich für sein affektives und sexuelles Verhalten oder für seine gefühlsmäßig-wollüstigen Erfahrungen zu interessieren. Aber dieser unser Nonkonformismus hindert uns nicht, uns für alles zu interessieren, ernsthaft, sehr ernsthaft zu interessieren, was die gefühlsmäßigen sexuellen Beziehungen angeht.

Daß dies die Besessenen und aus dem Gleichgewicht Geratenen beider Geschlechter lächeln und grinsen läßt, hat nichts zu sagen, und sie wissen das. Auf dem Gebiet der Freundschaft und der Liebesgefühle – und dies ohne Philosophisterei und Haarspalterei – trennen wir aber nicht die Freiheit von der Verantwortlichkeit.

Unsere These ist bekannt: welcher Natur die sexuellen Beziehungen auch seien, so können sie nur das Resultat freundschaftlicher Beziehungen von einer gewissen Dauer sein, von auswählender, kontrollierter und andauernder Eigenschaft, von einem Liebesgefühl , das erprobt ist und bleibend, wenn unter all dem kein Dritter wird leiden müssen.

Wir fügen hinzu, daß es in diesen wie in allen anderen Bereichen die Dauer der Erfahrung ist, die hier am meisten interessiert, denn davon können wir ableiten, was sich an Interessantem bietet, an Bereicherung und an Konstruktivem. Ausgehend vom individualistischen Gesichtspunkt, um den es hier geht, sagen wir, daß in der Freundschaft, in der Affektivität und in der Liebe etwas Beständiges und Solides erhalten bleibt – etwas, das ernstzunehmen lohnt – unter der Laune, der Phantasie, dem Oberflächlichen, dem Vorübergehenden. Daß manche hiermit nicht einverstanden sind, ist natürlich und nur diese betrifft dies; in dieser Richtung unterscheidet und trennt sich ihr Weg von unserem.

Individualisten können sehr wohl die Beziehungen der Freundschaft, affektive und sentimentale – und folglich auch sexuelle – als Objekt von Pakten und Kontrakten ansehen, deren Klauseln die die Beziehungen und die Entwicklung dieser Beziehungen bedingenden Eventualitäten vorsehen; die auch die Verpflichtungen und Konsequenzen des betreffenden Paktes definieren, von Anfang bis Ende, welche den Vertragspartnern Garantie bieten gegen die Schäden, Betrügereien und Unrechtmäßigkeiten, die aus einseitigem Vertragsbruch resultieren oder aufgedrängt sind.

Das Ziel ist immer dies: unter uns das Risiko des Leidens auf ein immer kleineres Minimum zu reduzieren. Auf dem Gebiet der Freundschaft, der Affektivität und der Liebe stellen wir unseren Individualisten als Menschen mit Herz und Verstand, der weder Schmerz ertragen noch zufügen will, dem mechanischen Menschen – Roboter – gegenüber, der unbewußt zerstört und Trümmer und Schmerzen aufhäuft.

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Eine Anzahl Genossen, und unter ihnen mit die Besten, sind aufgrund mehr oder weniger geprüfter Erfahrung davon überzeugt, daß – sei es in der Freundschaft wie in der Affektivität und in der Liebe – die Einzigkeit der Pluralität vorzuziehen sei. Natürlich respektieren wir ihren Standpunkt und lassen es keineswegs zu, daß man sich diskutable Thesen zunutze macht, um zu versuchen, die Harmonie der Paare, die sich im Zeichen gegenseitigen Einvernehmens entwickeln, durcheinanderzubringen. Wir verstehen sehr gut, daß die Interessierten ihr freundschaftliches, affektives und Liebesglück gegen eine eventuelle nicht vorhergesehene Einmischung verteidigen, wenn nur der Pakt des gegenseitigen Einverständnisses geschlossen wurde. In diesem Fall kann man unseres Erachtens eine mögliche gefühlsmäßige oder sexuelle Entwicklung vorhersehen.

Wir werden es auch als unwürdig ansehen, jemanden zu uns zu zählen, der bewußt seinem Gefährten oder dem eigenen Freunde Versprechungen macht, von denen er schon im voraus weiß, daß er sie nicht halten kann. Für uns ist eine Verpflichtung eine Verpflichtung und ein Meineid ein Meineid, was auch immer die menschliche Aktivität im Spaß sein kann. Wer sich als bewußter Erzeuger des Leidens, als Vertreter des Vertragsbruches, als Urheber von Qualen erweist, gehört nicht zu uns. Dies mögen jene sich immer gegenwärtig halten, die unsere Bemühungen verfolgen.

Dennoch – Frucht der Überlegungen – sind wir der Ansicht, daß in der Freundschaft, im Affekt wie in der Liebe (wir sagen bewußt: in der Liebe) die Pluralität der Einzigkeit vorzuziehen sei, nicht nur, weil sie eine viel größere Kapazität der Affekte bedeutet, sondern auch, weil sie für eine der Erweiterung des freundschaftlichen, affektiven und Liebeshorizontes gebührende Bereicherung sorgt.

Man hat gesagt, man hätte den "L'Homme d'un seul livre", den Mann eines einzigen Buches (womit offenbar Stirner gemeint ist), zu fürchten. Nachdem wir nicht geistiger oder charakterlicher Armut begegneten bei dem Gefährten oder der Gefährtin, die einen Freund besuchen, was haben sie, die Frau oder der Mann, aus einem einzigen Wesen, aus dem eigenen Leben, gemacht? Gehen sie nicht das Risiko einer Existenz mit eingeschränkter Perspektive ein?

Wir jedenfalls wünschen uns Pluralismus. Aber welchen Pluralismus? Man kennt die klassische These, die ich so verdeutlichen kann: X hat drei Freunde – oder Freundinnen – , die wir mit den Initialien A, B, C bezeichnen wollen, ohne uns mit ihren anderen Freundschaften zu befassen. Nach einer genügend langen Periode von Vorbesuchen, um die Wahleigenschaften kennenzulernen, die eine Assoziation rechtfertigen, wurde ein Assoziationskontrakt geschlossen. X kohabitiert beispielsweise mit A, die sich als perfekte Hausfrau offenbart; B bekennt sich zur Poesie und zur Musik; die Natur- oder positiven Wissenschafiten interessieren C. Die Zärtlichkeit, das Verständnis, die Sensibilität, die Anhänglichkeit usw. sind in perfektem Gleichgewicht mit den Beziehungen, die A, B und C zu X unterhalten. Bleibt nur noch zu erwähnen, daß alles, was X anziehen kann oder die Anderen, von ganz anderer Ordnung sein und ad infinitum variieren kann. Es ist darauf hinzuweisen, daß sich das gleiche Problem stellt bei Freundschaften, bei denen das sexuelle Problem ausgeklammert wurde.

Wie X sich im Hinblick auf A,B und C verhalten wird, wenn er sich als Individualist unserer Prägung erklärt und versteht, das hängt davon ab, ob die Bildung ihrer Assoziation auch keinem Dritten Entbehrung, Verlust, Schaden, Demütigung und Schmerz verursacht hat. Wird er ein Präferenzmuster aus A machen und B und C auf eine inferiore Ebene stellen? Wie wird er als Individualist, der bewußt die Individualität seiner Freunde, welcher auch immer, respektiert, A oder B oder auch C eine inferiore Stelle im Radius seiner Zuneigungen anzubieten wagen können? Ich frage mich, wie er dazu kommen könnte, ohne falsche Angaben über seine intimsten Überzeugungen zu machen. Ich frage mich das wirklich! Wie könnte er A, B oder C vorziehen, oder umgekehrt, ohne sich selbst zu verleugnen, ohne einen Anschlag auf ihre Würde zu begehen, mit geringem Nutzen für die eigene?

Wenn X unfähig ist, jedes der Elemente A, B, C als seinen "einzigartigen" Freund oder Freundin anzusehen, so ist das ein Zeichen dafür, daß er offensichtlich nichts von dem verstanden hat, was wir hier Pluralität der Freundschaften, der Zuneigungen und der Lieben nennen. Wenn er nicht fähig ist, die Waage der Gleichheit zwischen den diversen Objekten seiner Freundschaft, seiner Affektivität und seiner Liebe halten zu können, ist er nur dem Namen nach Individualist, denn ein Individualist unserer Prägung mutet einem anderen Individualisten nicht eine freundschaftliche, affektive oder gefühlsmäßige Situation zu, die jenen in den Zustand der Inferiorität oder der Benachteiligung bringen würde – er könnte das nicht zumuten, ohne sich selbst zu verleugnen. Wenn nur das der Sklave erreicht, der seine Ketten sprengt , dann glaube ich nicht, daß sich für ihn die Mühe lohnt, sich zu befreien, wenn dabei die ganze Sklavenmentalität erhalten bleibt.

Es sei noch hinzugefügt: selbst wenn A , B und C durch Gefühlsbetrachtungen und durch sexuelle Anziehung eine Situation der Inferiorität akzeptieren würden, so würde dies nichts an der Sache ändern. In diesem Fall wäre X nichtsdestoweniger der Ausbeuter und Ausnutzer der Gefühlsseligkeit oder der Sinnlichkeit des anderen, des Freundes oder Gefährten, und das würde ihn noch widerwärtiger machen. Indem er die Sensibilität anderer mißbraucht, ist er nicht mehr Individualist als der Archist, der die Gutherzigkeit derer bespekuliert, die er beherrscht und ausbeutet, um sich in der Situation des Privilegs zu halten.

Man wird mir sagen, daß derjenige, der (sei es auf dem Gebiet der Freundschaft, der Affektivität und der Liebe) eine Situation akzeptiert, die ihn erniedrigt und demütigt, nicht viel mehr wert ist als der, welcher sie ihm zumutet. Und darauf will ich hinaus. Sie sind der eine wie der andere Sklaven, die, obwohl sie die Ketten der Sklaverei gesprengt haben, im Zustand der Sklaverei bleiben und unter denen der Herr nach Belieben und Willkür seine Vergünstigungen verteilt. Quod erat demonstrandum (Was zu beweisen war), wie man auf den roten Seiten des "Petit Larousse illustré" liest.

Der Gutwillige fügt hinzu: wer in der Materie des Pluralismus sich unfähig fühlt, die "Waage der Gleichheit" zu halten, möge sich enthalten. Es wird viel gewonnen sein für ihn und für andere.

Das soziale Milieu und die sexuellen Beziehungen

Ob sinnlich, sentimental oder affektiv, sind die sexuellen Beziehungen tatsächlich von einer ziemlich großen Doppelzüngigkeit durchdrungen. Man macht sich vor, nur eine Art Liebe zu kennen: die legale Liebe, d.h. die Union für ein ganzes Leben der beiden Wesen, die sich oft vor der "Ehe" durchaus nicht kannten, die ihren wahren Charakter verbergen, und die sich trotz Scheidung , d.h. dort,wo es diese überhaupt gibt, in der Mehrheit der Fälle kaum ohne schwere ökonomische und soziale Unannehmlichkeiten werden trennen können.

Selbst die freie Union unterscheidet sich recht wenig von der Ehe, je mehr sie unter die vielen Sitten und Gewohnheiten aufgenommen wird. Mit Rücksicht auf die Konventionen müssen zahlreiche von Natur aus unbeständige Individuen beständig erscheinen. So sind viele Kohabitationen echte Folter und Quelle gezüchteter Heuchelei. So kommt es zu einer raffinierten Gemeinheit seitens der Verbundenen, die sich alle Mühe geben, sich über ihr wahres Temperament hinwegzutäuschen, so daß Intrigen entstehen, die bis zuletzt aufrechterhalten werden und einen permanenten Zustand der Lüge verlangen. Die Folge ist ein Herunterkommen des Charakters, allgemeine Verminderung der Persönlichkeit.

Gibt es etwas weniger Normales als die praktischen Konsequenzen, die Konzeptionen wie die der Keuschheit und der sexuellen Reinheit in das Leben der Frauen gebracht haben? Die von Allen akzeptierte Infamie, die zwei Sexualmoralen duldet, eine für die Frau und eine für den Mann? Gibt es ein Gebiet, auf dem die Frau mehr als je in Ignoranz gelassen wird, schwerer unterjocht gehalten wird?

Jede legal und zwangsweise organisierte Gesellschaft kann einer Liebe außerhalb der Regeln nur feindlich sein. Um in der Liebe die normale und natürliche Ausdrucksart der sexuellen Anziehung zu sehen, muß die Voraussetzung der individuellen Autonomie vor jeder anderen Voraussetzung Vorrang haben. Der "Sklavenliebe", der einzigen Form der Liebe, den die autoritären Gesellschaften kennen, stellt der individualistische Anarchist also die "freie Liebe" gegenüber.

Der "sexuellen Abhängigkeit", d.h. der herrschenden Konzeption, die will, daß die Frau meistens nichts Anderes als "Fleischeslust" sei, stellt der Individualist die "sexuelle Freiheit" gegenüber, mit anderen Worten: die Fähigkeit für die Individuen des einen wie des anderen Geschlechts, nach eigenem Belieben über ihr Sexualleben zu verfügen, es nach ihren Wünschen und den Eingebungen des eigenen Temperaments – sinnlich oder gefühlsmäßig – zu bestimmen.

Theorie der sexuellen Freiheit

Was beabsichtigen die Individualisten, wenn sie die sexuelle Freiheit fordern? Ist es vielleicht die "Freiheit der Schändung", oder die der Ausschweifung oder der Zügellosigkeit, die sie beanspruchen? Streben sie etwa nach der Vernichtung des Gefühls in Liebesdingen, nach dem Verschwinden der Umarmung der Zärtlichkeit oder der Affektivität? Glorifizieren sie etwa die unbewußte Promiskuität oder die bestialische Sexualbefriedigung zeitweilig und immer? – Keinesfalls. Indem sie die sexuelle Freiheit fordern, wollen die Individualisten einfach die Möglichkeit für jedes Individuum, nach seinem Wohlgefallen und unter allen Umständen über sein Sexualleben zu verfügen, je nach den Charakteristika des Temperaments, des Gefühls, des Verstandes, die ihm eigen sind.

Man gebe acht: sein Sexualleben begreift nicht das Sexualleben Anderer sein!

Die Individualisten beanspruchen durchaus nicht eine Freiheit des Sexuallebens, der nicht eine Sexualerziehung vorausging. Sie sind im Gegenteil dafür, daß in der Periode, die der Pubertät vorangeht, das menschliche Wesen nach und nach nicht ignorieren darf, worum sich das Sexualleben dreht – mit anderen Worten: die unumgängliche Anziehung der Geschlechter – , ob diess Sexualleben nun vom sentimentalen, emotionalen oder vom physiologischen Standpunkt aus betrachtet wird.

So ist "Freiheit des Sexuallebens" nicht Synonym für "Ausschweifung" oder "Zügellosigkeit", d.h. für Verlust der sexuellen Sensibilität. Die sexuelle Freiheit ist ausschließlich individueller Art. Sie setzt eine Erziehung des Willens voraus, die es jedem erlaubt, selbst den Punkt zu bestimmen, wo er aufhört, Herr der eigenen Leidenschaften oder Neigungen zu sein, eine Erziehung, die vielleicht viel instinktiver ist, als es zunächst scheint.

Wie alle Freiheiten fordert die des Sexuallebens eine Anstrengung, nicht etwa der Abstinenz – die Enthaltung in Sachen Lebenserfahrung ist ein Zeichen moralischer Unzulänglichkeit, wie die Ausschweifung ein Zeichen moralischer Zügellosigkeit ist – , sondern des Verstandes, der Urteilsfähigkeit, der Klassifikation. Mit anderen Worten: es geht nicht so sehr um die Quantität oder Zahl der Erfahrungen, als vielmehr um die Qualität des Experimentators. Schließlich wird, im Konzept der Individualität, die Freiheit des Sexuallebens nicht von einer darauf vorbereitenden Sexualerziehung und von der Kraft zu individueller Bestimmtheit getrennt.

Nuancen und Aspekte des Sexuallebens. Die "Viele"-Liebe

Zusammengefaßt erstreben die Individualisten die innere Möglichkeit jedes menschlichen Wesens, ein anderes so zu lieben, wie es sein besonderer Determinismus treibt und anregt.

Für sie also versteht sich die Freiheit der Liebe ohne irgendeine Rücksicht auf von Regierenden erlassene moralische Gesetze, auf von der menschlichen Gesellschaft ausgedrückte und akzeptierte Moralgesetze. Für sie versteht sich die Freiheit der Liebe als "jenseits von gut und böse des Konventionellen". Sie ist jenseits des Zivilstaates, der sozialen Situation, der öffentlichen Meinung, der Blutsverwandtschaft konzipiert. Sie nimmt keinerlei Rücksicht auf Vorurteile, die unter der Scham, der Jungfräulichkeit, der Tugend, dem Laster, dem Rufe, dem Ansehen, der Wertschätzung, der Einheitsliebe usw. umlaufen. Sie stellt nicht die Tatsache in Rechnung, daß das gewünschte oder geliebte Wesen kohabitiert oder schon Liebesbeziehungen hat, was es auch immer sei, um es mit dem Volke zu sagen, "Vater" oder "Familienmutter" etc.

Man praktiziert die Freiheit der Liebe ohne Garantie weiterer "Treue", aber man ist einer frei praktizierten "Treue" auch nicht feindlich gesinnt.

Die Individualisten halten es für besonders lächerlich, daß einem einzigen Geschlecht die Fähigkeit vorbehalten sein soll, die Liebeserfahrung vorzuschlagen. Nach ihnen steht es ebenso dem Gefährten wie der Gefährtin zu, den eigenen Wunsch zu lieben zu erkennen zu geben. Ihre Auffassung der Freiheit der Liebe stellt sich außerhalb jedes Vorbehalts oder jeder Zurückhaltung im Hinblick darauf, sei es für das eine wie für das andere Geschlecht. Sie sehen jeden Gefährten oder jede Gefährtin als potentiellen Liebenden, als potentielle Liebende an. Keiner von ihnen wird daran etwas zu lachen finden, wenn er um eine Liebeserfahrung gebeten wird, wer es auch sei, der den Vorschlag macht. Und dies unter jedem beliebigen Umstand oder beliebiger Bedingung. Kein "Dritter" könnte dem Vorschlag zur Liebeserfahrung ein Hindernis entgegenstellen, und erst recht nicht der Realisierung. Im Gegenteil, jeder von ihnen erleichtert im Rahmen seiner Möglichkeiten die Praxis der Freiheit der Liebe.

Die Individualisten fassen die Liebe als eine individuelle Lebenserfahrung und ihre Praxis als einen Aspekt der "camaraderie" auf, die die einen mit den anderen vereint. Liebeserfahrung ist für sie synonym mit Erfahrung der Liebes-"camaraderie".

Sie praktizieren diese Erfahrung aus purem Egoismus, um einen Genuß davon zu haben, ein physisches oder gefühlsmäßiges Behagen, um ihr Glück zu vermehren, weil sie sie als eine der realsten ihrer Lebensfreuden ansehen, eine der am ehesten erreichbaren Realisierungen des Lebensgenusses.

Die individualistische Auffassung der Freiheit der Liebe schließt die innere Freiheit ein, sich dem zu geben, bei dem es einem am meisten gefällt, und die absolute Freiheit, abzulehnen, wo es einem nicht gefällt.

Grundsätzlich, abgesehen von der Frage des einzigen Liebestemperaments, wird keine oder kein gesunde(r) und normale(r) Gefährtin oder Gefährte es von vornherein ablehnen, die Liebeserfahrung zu versuchen, vor allem, wenn dies vorgeschlagen wird von einem oder einer Gefährten oder Gefährtin, für den oder die man eine gewisse Sympathie hat oder fühlt, daß man genügende affektive, gefühlsmäßige, intellektuelle Eigenschaften hat und aus der Erfahrung große Freude beziehen würde.

Mit Ausnahme eines speziellen Temperaments (monogam oder monoandrico) wünschen und schlagen gewisse Individualisten vor, daß die Erfahrung der Liebes-"camaraderie" auch dann akzeptiert werden sollte, wenn man überzeugt ist, daß ihre Ablehnung eine große Qual hevorrufen würde, wenn sie eine ziemlich große Folter in der Existenz dessen, gegen den sie sich richtet, bedeuten würde, wenn nur kein absoluter physischer Widerwille da ist.

Diese Gefährten behaupten, in einer solchen Aufgabe ihren höchsten egoistischen Genuß zu finden, den man jedesmal schmeckt, wenn man einwilligt, daß jedes Probieren des Glücks in unserem Sinne ist.

Man kann nicht negieren, daß oft viel Übertreibung in dem Preis ist, den die Frau für die "Gewährung ihrer Gunst" fordert, wie die bürgerlichen Zeitungen schreiben. Es ist vernünftig, die Liebesbeziehungen unter dem rein physiologischen und biologischen Blickwinkel zu sehen. Uns genügt es jedoch, sich an dieses Konzept zu halten: daß die Individualisten nicht beabsichtigen, sich auf dem Gebiet der Liebe gegenseitig Leiden zuzufügen, nicht mehr als auf anderen Gebieten und in Erfahrungen des Lebens "en camaraderie".

Die freie Liebe umfaßt, die sexuelle Freiheit impliziert also eine Menge Verschiedenheiten, die sich den diversen Liebes- oder affektiven Temperamenten anpassen: beständige, unbeständige, zarte, leidenschaftliche, wollüstige etc. und überzieht eine endlose Zahl variierender Formen, von der reinen, einfachen Monogamie bis zur simultanen Pluralität: vorübergehende und andauernde Unionen, multiple, polygame und polyandrische Unionen, die Kohabitation ignorierende Ein- und Mehr-Unionen; hervorragende Eigenschaften von eher gefühlvoller oder eher intellektueller Art, gegründetete Affektivitäten, um die herum Charakterfesseln mehr als Anderes, sinnliche, wollüstige, launenhafte lasten. Sie achten nicht auf den Grad der Verwandtschaft und fügen ausdrücklich hinzu, daß eine sexuelle Bindung auch sehr nahe Verwandte vereinigen kann; auf Eines kommt es an, nämlich, daß jeder seinen Vorteil daraus zieht und daß, da der Genuß und die Zärtlichkeit die Aspekte der Lebensfreude sind, Alle vollkommen ihr sinnliches oder gefühlsmäßiges Leben genießen, indem sie Andere um sich herum glücklich machen... Der Individualist wünscht nichts anderes.

Es gibt Leute, die nicht verstehen können, wie ein Mann im reifen Alter sich in ein junges Mädchen verlieben kann, oder umgekehrt, wie sich ein junges Mädchen in einen Mann verlieben kann, der schon im Herbst seines Lebens steht. Dies ist ein Vorurteil.

Es gibt Jahre, da ist der Herbst so schön, daß die Bäume wieder aufblühen. So gibt es Menschen, die bis zur vorletzten Morgenröte ihrer Existenz ein Liebestemperament besitzen, das an Frische und Spontaneität in nichts hinter dem ihrer frühesten Jugend zurücksteht.

Ein Wesen, das seinen Herbst erreicht hat, kann solche Gaben haben, die es verführerisch machen; zum Beispiel ein Wesen, das wegen seiner abenteuerlichen oder jedenfalls ungewöhnlichen Vergangenheit für anziehend gehalten wird.

Die, die viel experimentiert und probiert haben auf dem Gebiet der sexuellen Sensibilität, sind wahrscheinlich am ehesten qualifiziert, die Jungen einzuführen, weil sie da gewöhnlich mit einer Zartheit und Sanftheit operieren, die dem Eifer des Jugendalters unbekannt ist.

Andererseits gibt es Perioden des individuellen Lebens, in denen die sexuellen Bedürfnisse brennender sind als in manchen anderen; es gibt Stadien der individuellen Existenz, in denen die Zärtlichkeit oder die Umarmung mehr zählen als die reine sexuelle Befriedigung. Es ist die Beachtung aller dieser Nuancen, was die angewandte freie Liebe, die Praxis der sexuellen Freiheit ausmacht. Wie alle Phasen des individualistischen Lebens ist die freie Liebe, die sexuelle Freiheit eine Erfahrung, aus der jeder die Schlußfolgerungen zieht, die am besten zu seiner eigenen Emanzipation passen.

Das individualistische Verständnis der Freiheit der Liebe schließt also die Pluralliebe ein, das heißt die Fähigkeit oder die Kraft oder die Möglichkeit, gleichzeitig mehrere Gefährten zu lieben. Unter Individualisten denkt man wie Han Ryner, "daß es so viele einzelne Schönheiten gibt, wie es Individuen gibt". Sie wollen auf keine dieser Schönheiten verzichten, sofern sie sich fähig fühlen, sie zu schätzen und zu würdigen. Die Liebe ist für sie eine Frage der Kraft und nicht der Quantität. Sie lieben Alle, die lieben können und sofern sie können, ohne eine andere Grenze als ihre Kapazität.

Natürlich begegnen sie Individuen unter sich, deren Determinismus der Erfahrung einer Pluralität der Liebe widerspenstig ist. Diese aber entscheiden sich nicht für die "Armut der einzigen Liebe" ohne sich zuvor klargemacht zu haben, ob ein solcher Determinismus (Beschränkung) ihnen angeboren, instinktiv ist, oder ob er vielmehr die Frucht des Milieueinflusses, fremder Suggestionen, der Furcht vor der Meinung der Anderen ist. Aber auch abgesehen von solchen Feststellungen geben diese Gefährten zu, versteht sich, daß die, mit denen sie kohabitieren oder mit denen sie Beziehungen affektiven Charakters haben, in ganzer Freiheit die Pluralität in der Liebe praktizieren.

Die Sexualerziehung

Wir meinen, daß die Avantgarde-Geister, die Emanzipatoren, sich darum kümmern sollten, die Sexualerziehung mehr zu präzisieren, als sie dies aktuell tun, und sich keine Gelegenheit entgehen lassen sollten, ihre Wichtigkeit zu propagieren und zu unterstreichen. Der Mensch muß nicht nur wissen, welche Vergnügen das Sexualleben birgt – empfindungsmäßig, aufregend, physisch – , sondern auch, welche Verantwortung es einschließt. Eine ernsthafte Sexualerziehung dürfte nicht das Problem der freiwilligen Zeugung ignorieren, oder die These, welche das Prinzip ausdrückt, daß "es der Frau zukommt, den Zeitpunkt der Empfängnis zu wählen". – Oder diese andere extreme Meinung: daß "in einer Gesellschaft, die ihre weiblichen Mitglieder nicht in den Stand versetzt hat, einer ungewollten Mutterschaft auszuweichen, diese vollkommen berechtigt wären, ihre Kinder der Gemeinschaft zu überlassen". Oder schließlich die Ergreifung von Vorsichtsmaßregeln, um die großen Gefahren der Geschlechtskrankheiten zu vermeiden. Die Propaganda der Freiheit der Liebe muß unbedingt jeden dazu bringen, diese Seite der menschlichen Existenz ernsthaft zu durchdenken, die man allgemein als Geheimnis verschleiert, oder worüber man nur mit Leichtfertigkeit diskutiert.

Die Individualisten trennen die "Freiheit des Sexuallebens" nicht von der "Sexualerziehung". Und sie sind der Ansicht, daß derjenige, der weiß, die unterrichten muß, die nicht wissen. Dies ist von elementarer Loyalität. Kein Versuch des Liebeslebens findet bei ihnen statt, ohne daß diejenigen, die den Versuch machen, die Mittel zur Verhütung jeder Geschlechtskrankheit kennen oder die Mittel kennen lernen, um jeder verdächtigen oder zweifelhaften Sexualbeziehung abzuhelfen.

Im Unterschied zu den Vorurteilen religiöser oder ziviler Art ziehen die Individualisten das Problem der Sexualbeziehungen auf die Ebene der intellektuellen oder anderer Probleme, welche die menschliche Aktivität erregen. Sie schließen den sinnlichen Genuß nicht von der Lebenserfahrung aus: sie stellen ihn auf dieselbe Ebene wie den intellektuellen (künstlerischen, literarischen etc.), moralischen, ökonomischen Genuß.

Wenn die Individualisten die Freiheit des Sexuallebens fordern – unter allen Umständen: in der Union wie außerhalb der Union – , so äußern sie sich weder für die Einzigkeit oder die Pluralität in der Liebe, noch dagegen. Dogmatisieren im einen oder im anderen Sinne wäre gleichermaßen antiindividualistisch.

Was die lndividualisten fordern, ist, daß man aufhört , die Liebeserfahrung als mehr oder weniger legitim, superior oder inferior zu qualifizieren, je nach dem, ob sie monogam oder pluralistisch ist. Außerdem fordern sie, daß man alle Wesen davon unterrichtet und daß der Vater oder die Mutter oder die Gefährten ihre überlegene Situation nicht benützen, um das denen zu verbergen, die Vertrauen zu ihnen haben. Jeder soll, nachdem er unterrichtet worden ist, die Fähigkeit besitzen, das eigene Sexualleben gemäß der eigenen Einsicht oder Absicht zu bestimmen, die Erfahrungen davon zu variieren oder sich an eine einzige zu halten: mit einem Wort, darüber nach eigenem Talent zu verfügen.

Ist einerseits das Individuum unterrichtet, freigemacht von den konventionellen Auffassungen oder Vorurteilen, die hier vorherrschen, und steht es andererseits unter dem Schutze der Zwänge, so liegt es an ihm zu entscheiden, in welchem Sinne es sein Liebesleben orientieren will. Die Individualisten haben, indem sie die These der freien Liebe aufstellten, nichts anderes beabsichtigen wollen.

Indem sie in die Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens die affektiven Phänomene einbrachten, beabsichtigen die Individualisten durchaus nicht, die Bedeutung des Faktors "Liebe" in der Evolution der menschlichen Existenz zu verkleinern. Sie sind nur der Ansicht, daß viele Desillusionen und Leiden erspart werden könnten, wenn manche Angelegenheiten des Lebens, statt als definitiv angesehen zu werden, hingegen als temporär, modifizierbar, revidierbar, d.h. wesentlich variabel erscheinen würden. Wenn dies vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus zugegeben wird, vom intellektuellen, von jedem anderen Gesichtspunkt schließlich, so ist nicht zu verstehen, wie dies anders sein sollte vom gefühlsmäßigen, affektiven oder sexuellen Gesichtspunkt aus. Es genügt allerdings nicht, diese Idee heuchlerisch zu adoptieren und heimlich zu praktizieren. Die Individualisten fordern für die Erforschung und Praxis der "sexuellen Freiheit" dieselbe Publizität wie für die der anderen Freiheiten, und sie sind überzeugt davon, daß ihre Entwicklung und Evolution nicht nur zu einer Mehrung des individualistischen Wohls und des kollektiven Wohls führt, sondern auch zu einem Verschwinden des autoritären Regimes.

Die Kohabitation (Die Wohngemeinschaft)

Diejenigen, die von Natur aus oder durch Überlegung zur beharrlichen Liebe gekommen sind, suchen die Kohabitation, d.h. die Erfahrung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen. Ob dauerhaft oder vorübergehend, ist die Kohabitation die Konsequenz jedes Aspektes der Liebe, die nicht nur rein sinnlich ist. Sie ist auch eine Erfahrung, der sich diejenigen unterziehen könnten, die eine einsame Existenz nicht ertragen können.

Die Kohabitation ist die Union, die intime Assoziation zweier oder mehrerer Existenzen, deren Teilnehmer sich bemühen, aus ihren Fähigkeiten im Hinblick auf ihr individuelles Glück die größtmögliche Ergiebigkeit zu ziehen. Sie ist das Einbringen der gegenseitigen Freuden wie auch der Leiden. Die Kohabitation ist nur zum Preis von Konzessionen möglich; sie setzt einen beiderseitigen Willen zur Verständigung und des gegenseitigen intellektuellen Durchdringens voraus, schließt eine moralische Anstrengung ein. Die Konformität der Charaktere und der Auffassungen ist nicht immer unentbehrlich für die Dauerhaftigkeit des Verbandes. Die Tatsachen beweisen, daß in vielen Fällen die Erfahrungen der Kohabitation äußerst gut gelingen, wenn die Teilnehmer mehr sich ergänzen und ausgleichen, als daß sie sich identifizieren. Die Schätzung und Übung der Gefühlsqualität hat einen sehr großen Anteil am Gelingen der Erfahrung der Kohabitation.

Wie alle anderen Formen der Assoziation ist auch diese vom individualistischen Gesichtspunkt aus nur ein Mittel, das manche Temperamente anwenden, welche das einsame Leben anwidert, oder die nur unter solcher Bedingung sich in vollem Maße geben können (und die sind zahlreicher, als man sich das zunächst vorstellt); oder dies kann auch gerechtfertigt sein durch die fehlerhafte Ebene, auf der sich die Gesellschaft entwickelt.

Die Individualisten sind sehr gegen eine Konsequenz der Kohabitation, die allzu häufig sich ergibt. Diese: daß die Mitglieder eines Paares, aufgrund der Tatsache, legal vereinigt zu sein oder illegal zu kohabitieren, sich "in der Gewalt" des Betreffenden, mit dem sie verbunden sind, glauben und deswegen die Beziehung zu anderen Geliebten abbrechen müssen oder nicht herstellen dürfen. Auf welch eine Art des Individualismus könnten sich denn diejenigen mit Recht berufen, die unter Ausnutzung des Affektes oder der Leidenschaft, welche sie momentan bei dem erregen können, der mit ihnen kohabitiert, diesen für sich behalten wollen oder es versäumen, ihm bewußt zu machen, daß Kohabitation nicht sexuelle Abhängigkeit bedeutet, oder daß die sexuelle Treue eines der Mitglieder des Paares nicht die Treue des anderen einschließt.

Es ist klar, daß die Idee der sexuellen Treue nichts Individualistisches an sich hat, wenn sie im Namen kollektiver Moral präsentiert wird – wie übrigens die Idee der Kohabitation bei manchen – und es ist deswegen erforderlich, daß sie das Resultat des Temperaments derer ist, die diese Erfahrung leben und nicht das einer Unterdrückung – um nicht zu sagen einer Ausbeutung – einer gefühlsmäßigen oder sexuellen Unterdrückung (ganz zu schweigen vom ökonomischen Argument, das zwingend sein könnte). Denn was man auch immer sagt oder tut, auf keinem Gebiet können "Unterdrückung" oder "Ausbeutung" in die anarchistische Auffassung des Individualismus passen.

Unter Individualisten tendiert man im allgemeinen dazu – mit Ausnahme der angedeuteten Temperamente – , jeder für sich zu bleiben, oder aber auch bei einer Kohabitation von begrenzter Dauer, eine Praxis, welche die Pluralität in der Liebe erleichtert.

Die Eifersucht

Die Gefühle sind Krankheiten ausgesetzt, wie es bei allen übermäßig angestrengten, übertriebenen oder verletzten Fähigkeiten der Fall ist. Die Verdauungsstörung ist die Krankheit einer bis zur Übertreibung beanspruchten Ernährungsfunktion. Die Ermüdung ist die durch Übung produzierte Überanstrengung. Die Lungenschwindsucht ist die Krankheit der verletzten Lunge. Das Opfer ist die Erweiterung der Ergebenheit. Der Haß ist oft eine Krankheit der Liebe. Die Eifersucht ist etwas Anderes.

Die Eifersucht birgt viele Aspekte. Es gibt die Eigentumseifersucht. Sie ist die Krankheit der legalen Liebe, vom Gesetzbuch sanktioniert oder nicht. Einer der Verbundenen sieht den Anderen als "sein Eigentum" an, als seine "Sache", als eine "Gewohnheit", die er nicht entbehren kann. Die Betreffenden nehmen nicht in ihr Verständnis auf, daß der eine sich zurückziehen, noch daß er sich davon absetzen kann. Diese Form der Eifersucht kann sich komplizieren unter dem Einfluß von Verletzungen der eigenen Liebe oder kann sich verschlimmern unter der Herrschaft ökonomischer Überlegungen.

Es gibt die "sinnliche Eifersucht", bei der sich der eine der beiden Teilnehmer des Liebesexperiments herabgesetzt findet durch das Aufhören der Liebesbeziehungen, die das Band bildeten, das ihn mit dem vereinigte, den er immer noch liebt. Kompliziert durch die Sehnsucht, wird das Leiden vermehrt durch das Wissen, daß ein Dritter die Befriedigungen versucht, die der Kranke sich angewöhnt hatte, als einzig für ihn reserviert zu betrachten.

Es gibt die "gefühlsmäßige Eifersucht", die von einem Gefühl herrührt, das sich als ein Abnehmen der Intimität, als eine Minimierung der Freundschaft, als eine Abschwächung des Glücks charakterisieren läßt; ob nun eine Verdunkelung der Affekte vorliegt, welche die geliebte Person für ihn hegt, oder nicht – der Patient versucht sich darüber hinwegzutäuschen, daß die Liebe, deren Objekt er war, abnimmt, schwächer wird, zu erlöschen droht. Seine Moral wie seine Physis leiden darunter, sein allgemeinen Wohlbefinden verändert sich.

Die sinnliche oder gefühlsmäßige Eifersucht kann auch als die Reaktion des Selbsterhaltungsinstinktes des Liebeslebens gegen das, was seine Existenz bedroht, angesehen werden.

Die "Eigentümereifersucht", die vom individualistischen Gesichtspunkt aus uninteressant ist, ist gebunden an das Verschwinden der Idee, daß ein Wesen einem Anderen gehören kann wie ein bewegliches Gut, wie ein Objekt sozusagen. Die "sinnliche Eifersucht" gesundet im allgemeinen in dem Moment, wo der Patient einem anderen Individuum begegnet, bei dem er Emotionen und Sensationen wiederfindet, die ungefähr denen ähneln, die er bei dem hatte, das ihn verlassen hat. Einige Tatsachen bezeugen, daß die "gefühlsmäßige Eifersucht" langsam zu heilen, daß sie manchmal aber unheilbar ist. Man hat Wesen gesehen, die durch eine Liebesenttäuschung einen derartigen Stoß erlitten, daß ihr ganzes Leben dadurch verändert blieb; man ist Menschen begegnet, die ihr ganzes Gefühlsleben auf einem Affekt aufgebaut hatten und die, wenn sie den verloren oder seiner beraubt wurden, sich so desorientiert fühlten, daß sie sich sogar das Leben nahmen.

Die Individualisten negieren die Eifersucht nicht mehr als das Fieber. Aber wenn es stimmt, daß die sexuellen Erfahrungen voneinander differieren, wieso könnte dann die Eifersucht – mehr krankhafte Form als Krankheit der Liebe – existieren? Kann ein Individuum, Subjekt oder Objekt einer Liebeserfahrung sich vernünftigerweise beklagen oder betrüben über den Mangel an Qualität, an Reizen, an den notwendigen Attributen, die seinesgleichen zum Subjekt oder Objekt einer anderen Erfahrung machen?

Eine Sache ist die gefühlsmäßige Erfahrung, eine andere die sexuelle Erfahrung, und noch eine andere die Wahl eines Erzeugers. Es kann sein, daß das Individuum, welches von einer Frau als Erzeuger gewählt wird, nicht dasjenige ist, für das sie das größte Empfinden fühlt, und daß sie bei diesem manche physischen. Qualitäten sucht, die ihr bei dem anderen gleichgültig sind. Könnte der eine vernünftigerweise auf den anderen eifersüchtig sein? - Kann man sagen, daß bei der Frau im wesentlichen die Eifersucht die Prüfung der Liebe ist? Ist das nicht viel mehr das Resultat vieler Jahrhunderte, in denen die Prediger und die Gesetzgeber nichts anderes taten, als ihr zu wiederholen, daß sie, der Besitz oder die Sache des Mannes, dafür seine Einzige sein sollte und daß es ihrem Herrn verboten war, gleichzeitig zwei Sachen von ihrer selben Art zu besitzen?

In seiner Reiseerzählung "Vier Jahre in Französisch-Guayana" (über unsere Indianer) schildert Henri Coudreau einen Indianer, Touiri, der polygam ist. "Touiri ist ein junger Mann, zirka 35, mittelgroß, muskulös, ernstes, strenges Gesicht, seiner Fröhlichkeit zum Trotz... Seine jüngste Frau etwa 15, die älteste 40. Die beiden Frauen, das junge Mädchen und die Matrone, wetteifern um ihren gemeinsamen Gatten in aufmerksamer Sorge, mit rührenden Höflichkeiten, mit köstlichen Zärtlichkeiten. Sie lieben ihn sehr. Und sie sind nicht eifersüchtig aufeinander. Weshalb sollten sie auch?"

Wenn es stimmt, daß die Liebe, einmal erloschen, nicht wieder entbrennt, könnte man, da es andererseits keine Dauerhaftigkeit gibt, auch die Grausamkeit nicht abstreiten, das Wesen, das aufrichtig liebt, in die Isolation und in den Schmerz zu treiben, das Wesen, das man dazu bewogen hat darauf zu zählen, daß sein Gefühl erwidert wird. Sozusagen immer, wenn es sich um bewußte menschliche Vereinigungen handelt, die in den eigenen affektiven Erfahrungen die Überlegung und den Willen mitsprechen lassen, läßt eine redliche, ernsthafte Auseinandersetzung die Ursachen der Krankheit verschwinden. Der Patient versteht: er ist geheilt, d.h. seine Eifersucht läßt nach, er verzichtet darauf, sich aufzudrängen.

Wenn also die Liebe wirklich verschwunden ist, erreicht man die Genesung wohl eher mit Vernunft als mit Frömmigkeit. Die Frömmigkeit – nicht zu verwechseln mit Gutwilligkeit – ist eines der unsicheren und zweideutigen Heilmittel, die, bevor sie sie heilen lassen, die Krankheit eher zur dauernden machen.

Man trifft in der Gesellschaft oft Unglückliche, die wieder zur Gewalt oder zur Einschüchterung zurückkehren, um die Liebe derer zu bewahren, die zu lieben sie behaupten. Es ist erlaubt, sich zu fragen, was von einem Affekt bleiben kann, der sich unter der Bedrohung mit Vitriol oder einem Revolver ändern soll; man versteht nicht, was der gewinnen kann, der die geliebte Person tötet. Ohne Vorsätzlichkeit ist die Unterdrückung des geliebten Wesens nur ein törichter Akt; wenn vorsätzlich, nur eine Rache. Nun ist aber gerade in Gefühlsangelegenheiten die Rache immer eine feige und verwerfliche Handlung.

Die überzeugten "Eifersüchtigen", die behaupten, daß die Eifersucht ein Teil der Liebe sei, erinnern die Individualisten daran, daß die Liebe in ihrem edleren Sinne auch darin bestehen kann, "vor allem das Glück dessen, den man liebt, zu wollen", "die eigene Freude in der bestmöglichen Realisierung der Persönlichkeit des geliebten Objekts zu finden". Dieser Gedanke endet oft mit der Heilung derer von der "gefühlsmäßigen Eifersucht", die mit Vernunft diesen Gedanken akzeptieren. Theoretisch stellt sich jedoch vom individualistischen Gesichtspunkt aus diese Frage überhaupt nicht. Jeder Gefährte, Mann oder Frau, im Status der Kohabitation oder nicht, der nach eigenem Gefallen über sein eigenes Sexualleben verfügt, äußert keinerlei Eifersucht auf Andere. Weit entfernt davon, ist er glücklich, seine Gefährtin oder seinen Gefährten gleichzeitig ihn, einen Anderen oder Andere lieben zu sehen. Er erwartet von seinem Liebespartner keine Rechenschaft über dessen Handlungen auf diesem Gebiet, es sei denn aus dessen eigenem Antrieb.

Das Aufhören und Abbrechen der Liebeserfahrung

Die Erfahrung der Liebes-Kameradschaft nimmt ihren Anfang in dem Moment, in dem sich zwei Wesen gefallen, grundsätzlich zumindest, wenn es nicht im einzelnen beschreibbar ist. Sie findet im allgemeinen statt, ohne sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Sie kann sich auch nach reiflicher Überlegung verwirklichen. Alles ist jedoch eine Frage des Temperaments. Sie kann stattfinden, wenn der eine allgemein liebt, während der Andere sich im besonderen nach etwas sehnt.

Wenn nun einer der Teilnehmer zuerst erklärt hat, daß er die Erfahrung für anders als eine Laune ansieht, zieht sich der Versuch lange genug hin, um Klarheit zu ermöglichen, ob man einverstanden ist oder nicht. Die Individualisten besitzen zuviel Sachverstand, um aus einer zufälligen Begegnung einen Schluß zu ziehen. Man weiß sehr gut, daß, wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, eine oder zwei Stunden der Liebe nicht alles erwecken, was die Wesen, die sie erleben, in Sachen Liebesrealisierungen zu bezeugen fähig sind.

Theoretisch kann die Liebeserfahrung eine Stunde, einen Tag, zehn Jahre dauern. Sie kann den Zeitraum eines Augenblicks dauern oder sich auf ein ganzes Leben verlängern. Praktisch hört sie dann auf, wenn diejenigen, die sie erfahren haben, einverstanden sind, daß sie für sie zu Ende geht, oder wenn der oder die, die den Wunsch äußern, damit aufzuhören, die aufrichtige Zustimmung des oder der Ko-Experimentatoren erlangt haben. Einem Gefährten den Abbruch der Liebesbeziehung aufdrängen, heißt einen Autoritätsakt vollbringen, ob man will oder nicht; ebenso wie das Aufdrängen einer Trennung das Vollbringen eines Autoritätsaktes ist, so ist es auch das Aufdrängen des Aufhörens einer Kohabitation, etc. Das Akzeptiertwerden eines Liebesabbruchs erfordert feinen Takt, ein äußerstes Fingerspitzengefühl, immer neue Vorsichtsmaßregeln. Schlechte Vorschläge, böswillige Unterstellungen, harte Vorwürfe sind Waffen, zu denen Individualisten nicht greifen werden. Ihre Hauptvoraussetzung wird eine Vermeidung der Verletzung derjenigen sein, von denen sie sich abwenden wollen; die Praxis der Pluralliebe erlaubt andererseits die Verlängerung der Liebeserfahrung und vermeidet jede Härte in der Form. Wie auch immer es sei, unter Gefährten machen die Individualisten der Liebeserfahrung ein Ende ohne Härte, mit Sanftheit; unter Gefährten, die geeignet sind, am folgenden Tage neu zu beginnen, wenn es sich ergibt. Für sie ist keine Erfahrung keiner Art definitiv abgeschlossen.

Die unbeständigen Naturen, die sich ohne weiteres als solche bekennen, erlauben denen, die darunter leiden, sich in ihrem Verhalten auf sie einstellen zu können und geben ihnen Gelegenheit dazu. Auf diese Weise gibt es keine Möglichkeit der Verstellung und des Betruges. Übrigens kann ein Gefährte z.B. A mit der Absicht lieben, die Liebeserfahrung zu verlängern, Kohabitation inbegriffen; B mit demselben Geist, aber die Kohabitation ausschließend; C und D aus reiner Laune oder für eine Periode, die man voraussichtlich nicht verlängern kann.

Es kommt darauf an, die eigenen Absichten zu erkennen zu geben. Wenn für den Individualisten das "Aufdrängen" des Abbruchs in Liebesdingen die Funktion der Bewahrung der Unabhängigkeit der Persönlichkeit haben kann, dann kann ein solcher Abbruch nicht zum Schaden des Gefährten begangen werden, dem man ihn "aufdrängt".

Individualisten gehen schließlich soweit, zu behaupten, daß logischerweise kein Abbruch möglich sein kann, ohne daß der, welcher das Sich-von-einander-abwenden "aufdrängt", sich vergewissert hat, daß der Andere, von dem er sich abwendet, das Äquivalent des Verlustes, der ihm zugefügt wird, gefunden hat; oder falls nicht, kein Abbruch, ohne es ihm verschafft zu haben. Die Äquivalenzmethode ist die einzig wissenschaftliche, sagen sie; sie entspricht der Idee der Kompensation der Energie. Sie versperrt den Weg der Willkür. Ohne sie findet man das kompensatorische Element in den "Repressalien", die man unter Gefährten nicht zulassen kann.

Ohne uns bei diesen besonderen Ansichten aufzuhalten, indem wir uns begnügen, darauf hinzuweisen, können wir sagen, daß wir Gefährten gesehen haben, die mit der Kohabitation erst Schluß gemacht haben, nachdem ihr Gefährte jemandem begegnet war, der geeignet erschien, mit ihm gemeinsam zu leben. Andere, die das zur Pluralliebe neigende Temperament derer kennen, mit denen sie affektive Beziehungen hergestellt haben, bemühen sich, für sie Gefährten mit zu ihnen passenden Neigungen zu finden. Das ist für sie einfach ein Akt der "Kameradschaft", nichts anderes. Hiernach ist klar, daß es letztlich für jeden Gefährten leicht ist, auf den Abbruch oder das Aufhören der Liebeserfahrung zu drängen. Aber nicht alle Temperamente reagieren in gleicher Weise. Es kann passieren, daß manche ohne Einwendungen eine derart entstandene Situation akzeptieren, aber es kann sich auch ergeben, daß der, dem man den Abbruch oder die Abwendung aufdrängen will, sich getrieben fühlt, Betrachtungen von so besonderer Natur, wie sehr es sich um die Herrschaft des Gefühls handelt, geltend zu machen. Er kann die tiefe Überzeugung haben, daß derjenige, der den Abbruch oder die Abwendung "aufdrängt", unter der Herrschaft eines fremden oder rückständigen Einflusses steht. Der Individualist wird seinen Grund bei dem Gefährten verteidigen können und dieser wird seinen Argumenten Gehör schenken; er wird prüfen, ob diese so sind, daß sie seine Entscheidung ändern.

Der Individualist wird sich anstrengen können, zu überzeugen; wenn er sich von seinem Determinismus dazu getrieben sieht ‚wird er es noch einmal versuchen; er wird immer, was auch geschieht, täglich das propagieren, was Andere zu den Ideen führen soll, die ihm am Herzen liegen. Und über diese Beharrlichkeit wird sich keiner der "Seinigen" wundern.

Aber in keinem Falle werden derjenige , der den Abbruch und die Abwendung aufdrängt, und der, der sich dem entgegenstellt, legale Sanktionen oder physische Gewalt anwenden. Die Verwendung des einen wie des anderen Mittels werden ihn eo ipso aus dem Milieu der individualistischen Anarchisten ausschließen.

Der Individualist, der den Abbruch "aufgedrängt" hat, wird sich dessen nicht rühmen; im Gegenteil, er wird sich bemühen und wird es nützlich finden, zwischen sich und dem, gegen den er einen "Autoritätsakt" begangen hat, eine gewisse Distanz zu schaffen.

Die sexuelle Inversion

Zu dem, was die Spezialisten in der Materie als "sexuelle Inversion" definieren, ist die individualistische Haltung durchaus wissenschaftlich, frei von Vorurteilen, ohne Partei zu ergreifen. Die Individualisten meinen, daß es sich bei der sexuellen Inversion normalerweise um angeborene Neigungen und Bedürfnisse handelt. Jedenfalls bestreiten und negieren sie, daß es einer Autorität und dem Gesetz zusteht, zu intervenieren. Die Fälle sexueller Inversion, die echte Krankheiten sind, gehen die Wissenschaft an und können nicht Gegenstand von Disziplinarmaßnahmen sein. Die Individualisten schenken solchen Fällen keine besondere Aufmerksamkeit.

Die freie Liebe und die Bürgerlichen

Es gibt in ziemlich großer Zahl "Bürgerliche", die "die freie Liebe" praktizieren, besser gesagt: ihre Karikatur. Bei ihnen wird diese Praxis vom "Flirt" begleitet, von der Koketterie, von Manövern, die bewußt dazu bestimmt sind, die Schärfe des sexuellen Bedürfnisses zu maskieren. Sie belügen sich, täuschen sich, spielen mit List und Berechnung, hegen geheime Absichten. Man führt Geldinteresse und Käuflichkeit ins Feld. Man hält "freie Liebe" für ein Synonym von "Prostitution". Man bezahlt mit Geld den, der an die eigenen Erklärungen der Freundschaft und der Sympathie geglaubt hat. Man hat eine kindische Furcht vor der guten oder schlechten Meinung, die das "Hingeben" des eigenen Körpers erzeugen kann. Man filtert die Leidenschaft, man schenkt das Gefühl mit dem Tropfenzähler ein, man destilliert die Sensibilität. Man macht glauben, was nicht ist. Man verspricht freiwillig, ohne die Absicht zu haben, den Versprechungen treu zu bleiben. Man täuscht durch Schlechtigkeit, nachdem man gute Gründe für eine gute Erwartung gegeben hat. Man kommt weniger grausam zu dem Wort, das gegeben wurde, nachdem man zugelassen hat, daß in anderen eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber der eigenen Person entsteht; man spielt bösartig damit, sich anzubieten und sich vorzuenthalten. Man gelangt schließlich an den Punkt, wo man sich freut über den Schmerz dessen, der dadurch besonders gequält ist und sich unterdrückt fühlt, daß man seine Liebe ablehnt. Mit einem Wort: man kann sich nicht enthalten; leiden zu lassen.

Die sexuelle Erregung

Der Wunsch nach dem Sexualakt ist ein Indiz und eine Manifestation der Gesundheit des menschlichen Wesens. Er ist im Grunde natürlich. Man spürt ihn in der Pubertät. Er ist stark, so daß sich kein Geschmack für künstliche Reize einstellt wie bei Likören, deren erster Trank in der Kehle brennt, oder Tabak, dessen Verbrauch in Form von Zigaretten z.B. die ersten Male Erbrechen hervorruft. Man kann vernünftigerweise nicht negieren, daß es für zwei Wesen verschiedenen Geschlechts natürlich ist, sich von einander angezogen zu fühlen; oder daß aus ihrer Vertraulichkeit der gegenseitige Wunsch nach Zärtlichkeit und Besitz entsteht. So scheint es natürlich, wenn der eine Anstrengungen macht, um zu versuchen, dem Anderen zu gefallen, um zu versuchen, ihn zu erobern, indem er sich bemüht, im Gespräch oder schriftlich, oder mit anderen Mitteln, ihm zu gefallen, in seinem Geiste Vorstellungen affektiven, sinnlichen, wollüstigen Charakters zu erwecken, zu erregen, ihn in Gleichklang der Leidenschaften zu bringen. Es ist das, was ich die "sexuelle Erregung" nenne, der ich keine andere Einschränkungsgrenze setze als die Pubertät oder den Zwang, in welcher Form sich dieser auch immer präsentieren oder manifestieren mag.

Ausgenommen bei definitiv rein pathologischen und radikal unheilbaren Fällen, hält der größte Teil der Individualisten die Keuschheit oder die "sexuelle Einsamkeit" für einen widernatürlichen Zustand, für eine schädliche Verkümmerung der physischen und intellektuellen Gesundheit, für eine Behinderung der zur Persönlichkeit gehörigen Entfaltung, eine Haltung der Ignoranz, gegen die man reagieren und mit aller Kraft kämpfen muß.

Obszönität, Scham und sexuelle Emanzipation

Nicht selten begegnet man unter Leuten mit fortschrittlichen Ideen Lesern von Avantgarde- Zeitungen oder Mitgliedern extremer Gruppen, die beleidigt sind, wenn man zu ihnen über alles, was mit Sexualität zu tun hat, spricht, ohne irgendwelche Vorsicht der Sprache oder des Stils zu wahren. Für diese sind die Geschlechtsorgane "Schamgegenden" geblieben. Nach ihrer Meinung braucht man sich nicht zu sehr über den Geschlechtsakt zu verbreiten und über das Gefallen, das der Anreiz dazu ist. Sie vergessen augenscheinlich, daß ohne die Lockung der Begierde man dieser niedrigen Welt nicht angehören würde. "Versteckt doch euren Busen, damit ich ihn nicht sehen kann!" Arme Teufel!

"Wie ich sie bedaure, die armen Wesen, die den Liebesakt als etwas Schamhaftes ansehen. Ich sehe sie schamhaft erröten, auf der Welt zu sein und sich mit Abscheu von ihrem Vater und ihrer Mutter abwenden. – Wie bei den Ursachen der sexuellen "Perversionen" büßen sie vielfach für Komplexe, Verklemmungen. Die Behinderungen der Sexualbefriedigung sind zahlreich. Aber die volle Freiheit vermindert diese 'Anomalien' weniger, als es zunächst scheinen mag. Andererseits sehe ich nichts Schuldhaftes in der Verfolgung dieser sexuellen Bedürfnisse, wenn die Teilnehmer den Zustand der Vernunft erreicht haben und wenn keiner von ihnen Gewalt anwendet. – Weder die Kunst, noch die Wissenschaft, noch das wahre Leben sind außerhalb der Freiheit. Absolute Freiheit für das Buch wie für das Schauspiel. Niemand zwingt mich, zu lesen oder zuzuschauen. Mit welchem Recht befiehlt mir jemand, zuzuschauen oder zu lesen? Ich verlange nicht von meinem Nachbarn, daß er denselben Geschmack hat: ich vermeide, was mich langweilt, ohne die zu stören, die sich amüsieren. Denn ich kenne eine empfehlenswerte Scham: die Diskretion ist die Kunst, jemanden nicht zu tyrannisieren..." (Han Ryner in Nr.15 von "l'en dehors").

Die Sinnlichkeit gehört notwendig zur Existenz der Menschen. Warum ihren Einfluß ignorieren? Warum nicht im Gegenteil ihr den Stellenwert geben, der ihr zusteht?

Die echte sexuelle Emanzipation besteht darin, auf diesem Punkt zu beharren: daß die sexuellen Wünsche durchaus natürlich sind und jeden Anschein von Anormalität verlieren werden, wenn man offen und frei über sie sprechen und schreiben wird, ohne Heuchelei über Erfahrungen, Befriedigungen, über Raffinessen, denen sie stattgeben können.

Die Obszönität besteht in der Heimtücke, in den "verschlossenen Türen", mit denen man die verschiedenartigen Manifestationen des Sexuallebens umgibt. Es ist unbegreiflich, daß es etwas Schlechtes, Ungesundes sein soll, dem Schauspiel der Paarung zweier Wesen oder der Zärtlichkeiten, die diese sich erweisen, zuzuschauen. Das ist nicht ungesunder als das Betrachten eines Bildes, das einen Arbeiter darstellt, der ein Feld besät, oder Weinleser, die mit ihrer Angelegenheit beschäftigt sind. Ungesund ist das Vorurteil, daß diese Schauspiele sich heimlich, hinter dem Rücken, abspielen lassen will, und daß man sie heimlich, verstohlen stattfinden läßt.

Was ist Scham sonst noch, was Obszönität? – Das Wörterbuch definiert Obszönität: als das Gegenteil von "Scham" – und "Scham": als das Gefühl der "Furcht oder Schüchternheit", welches die das Geschlecht betreffenden Dinge hervorrufen. Diese Definition beweist, daß die Obszönität durchaus konventionell ist und daß ein Buch, ein Schauspiel, eine Drucksache, eine Konversation jeglichen Charakter der Obszönität verlieren, wenn der, der es liest, sieht, beobachtet oder hört, dabei kein "Gefühl der Furcht oder Schüchternheit" bezeugt, zeigt, hat.

Diese Deduktion erlaubt es, sich darüber klar zu, werden, daß die Obszönität nicht in dem Objekt liegt, das man sieht, in der Schrift, die man liest, in den Kleidern, die man trägt, in den Worten, die man hört; sondern die Obszönität, wenn es sie gibt, liegt in dem, der beobachtet, untersucht, fühlt. Es liegt keine größere Obszönität in dem Band, der den Liebesakt beschreibt , oder sich ausläßt über die Raffinessen, deren er fähig ist; in der Bekleidung, die gewisse Körperteile bedeckt oder entblößt; in den Vorstellungen, die den Körper eines Mannes oder einer Frau in manchen Stellungen repräsentieren, es ist keine größere Obszönität in all dem, als im Schauspiel eines Pfaus, der sein Rad schlägt, einer Lilie oder einer Mohnblume, die in der Mitte eines Blumenkorbes sich aufrichten, als in der Lektüre eines Handbuches über die Seidenzucht oder eines Algebralehrbuchs, als im Anhören eines Operettenstücks.

Ich ignoriere nicht, daß auch die Begegnung mit einer Frau, von der ich Grund habe anzunehmen, daß sie sinnlichen Temperaments und von schöner Gestalt ist, in mir den Wunsch erwecken kann, sie zu umarmen, daß ihre Nähe diesen Wunsch stärker entfachen kann; aber dieser Wunsch wird entstehen und wachsen, ohne daß ich – für mein Teil – das geringste "Gefühl der Furcht oder Schüchternheit" habe. Überall erregen der Ausdruck und der Anblick den Wunsch. Es ist nicht "obszöner", zu wünschen, eine Frau zu besitzen, deren Kleid erlaubt, ein schönes Bein zu erblicken, als zu wünschen, Konfitüren zu schmecken, nachdem man den Blick auf mit Früchten beladene Johannisbeersträucher geworfen hat, oder einen Geflügelhof einzurichten, nachdem man von einer Henne geträumt hat, die Eier ausbrütet. Das sind Assoziationen von durchaus natürlichen Ideen.

Der Ausschnitt einer Bluse, der Aufschlag eines Kleides, das Maschenhemd einer Tänzerin, die Nacktheit eines menschlichen Körpers haben an und für sich nichts Obszönes oder zu Unterdrückendes. Nicht nur ich habe, wenn ich die Gedanken nähre, die in mir erweckt werden und sich entwickeln, kein Gefühl des Widerwillens, der Furcht oder der Schüchternheit, sondern ich habe auch keine Spur dieses Gefühls bei gesunden Personen von normaler Intelligenz gefunden, die ich dazu befragt habe. Ich bin Leuten begegnet, denen die Abwesenheit von "Scham", im Anblick oder im Ausdruck, mißfallen kann; ich habe bei ihnen nichts gefunden, was mir beweisen könnte, daß ein Anblick oder ein Ausdruck "obszön an sich" sei.

Die Obszönität ist ein Gefühl, welches nur das Individuum betrifft, das sich für verletzt oder beleidigt hält. Objektiv existiert sie nicht außerhalb von ihm, d.h. daß sie überhaupt nicht existiert, wie übrigens das Schamgefühl auch nicht existiert. Die Brust von Dorine ist nicht unzüchtig; Tartuffe behauptet, darin Unzucht zu sehen. Nun, Tartuffe ist ein Heuchler. Bei der gegebenen jesuitischen Mentalität der zeitgenössischen sozialen Umgebung kann man wetten, daß 999 von Tausend derer, die mit größter Vehemenz die "unzüchtige" Literatur, Schauspiele, Akte verleumden und denunzieren, im übrigen nicht versuchen, irgendein "Gefühl der Furcht oder Schüchternheit" der Denker zu heilen, die sie beeinflussen können. Sie sind nicht mehr und nicht weniger Heuchler als ihr Vorbild Tartuffe.

Der sexuelle Reiz ist nicht ungesunder als der klassische, mathematische, literarische, artistische Reiz. Es gibt Bücher, die ausführlich die Kombinationen und Raffinessen behandeln, zu denen die Praxis der exakten. Wissenschaften oder der schönen Künste Gelegenheit bieten kann. Warum gibt es keine Kurse des Liebesvergnügens in Sprache und Schrift, in denen alle Kombinationen gelehrt werden, zu denen die Praxis der Liebesbeziehungen Gelegenheit bieten kann? Das liegt daran, daß solche Kurse nicht ad libitum zirkulieren können, daran, daß die Beschreibung der erotischen Begierden für obszön gehalten wird. Aus keinem anderen Grund.

Die Hetzer gegen die freie Diskussion auf sexuellem Gebiet

Aber glücklicherweise kommt es nur selten vor, daß man unter fortschrittlichen Leuten Gegner der freien Diskussion über Fragen des Sexuallebens findet. So daß man nach den tieferen Gründen der Feindseligkeit fragen muß, welche in Bezug auf diese Fragen viele unruhige, intrigante Individuen in jeder Umgebung zeigen, die Pornographie oder Schamlosigkeit mit der Befriedigung des Urbedürfnisses verwechseln, mit der Untersuchung dieser Befriedigung oder ihres Anreizes.

Man kennt sie. Man weiß, daß sie überall Nachäffer und Schüler in Hülle und Fülle haben. Und Mitläufer und Nachfolger. Es sind die Hetzer aller möglichen Verbände mit mehr oder weniger sonderbaren Ansprüchen. Im Namen der Moral ziehen sie los gegen die Zügellosigkeit der Straße. Unter diesem Vorwand diffamieren sie das "Nackte" und man hat schon gesehen, wie sie herrliche, glänzende Statuen mit Feigenblättern beschmieren. Sie verfolgen ohne jedes Fingerspitzengefühl sowohl den Künstler von Rang als auch den gewöhnlichen Gewerbetreibenden. Sie sinken schließlich herab zu Denunziation und Spionage. Man sieht sie nicht kontradiktorisch mit ihren unmoralischen oder amoralischen Feinden oder Widersachern diskutieren, nicht sich bemühen, jene zu überzeugen, sie mit Vernunftmitteln für ihren Standpunkt zu gewinnen, für ihre individuelle Auffassung der Sitten. Ihre Propaganda stützt sich auf die Anzeige, das Einschalten der Agenten der Unterdrückung, den Mechanismus der Strafgesetze. Sie berufen sich immer wieder auf die Methoden der Unterdrückung, auf das autoritäre System.

Wer sind diese Individuen und woher kommen sie? Die Zusammensetzung ihrer Verbände, ihrer Aktionskomitees zeigt es uns unaufhörlich.

In vorderster Front zählt zu ihren Militanten eine große Zahl Pfarrer und Pastoren. Der Rest rekrutiert sich aus Personen mit betont religiösen Gefühlen. Und die wenigen freien Denker oder echten Liberalen, die in diesen Assoziationen in Erscheinung treten (abgesehen vielleicht von einigen Individuen, die sich dort aus persönlichem oder politischem Interesse befinden), gehören zu Familien, die noch vor kurzem für ihren religiösen Eifer bekannt waren oder für ihre Berufung auf eine Moral, die sich an die Religion anlehnt.

Eine angesehene Meinung

Es ist unverzichtbar, den Argumentationen dieser von Vorurteilen religiöser oder metaphysischer Art beherrschten Individuen ernste Erklärungen, wie die des Dr. Nystrom, entgegenzuhalten, eines Spezialisten auf diesem Gebiet, dessen Erklärungen durch die Erfahrungen jedes auch nur ein wenig denkenden Individuums bestätigt werden.

Wenn bei zwei Individuen die Liebe ausbricht und sie sich vereinigen, dann sind sie nicht von dem Wunsch getrieben, Kinder zu haben, sondern von der gegenseitigen Sympathie oder Leidenschaft, von einer Anziehung, die ihre normale Realisierung im Koitus findet. Etwas anderes ist der Wunsch der Vereinten, Kinder zu haben: er entsteht im allgemeinen erst später und hängt von der Überlegung ab, er ist folglich weder ein Bedürfnis noch ein Instinkt. – "Der Zweck des Koitus ist keineswegs nur der, Kinder zu zeugen; wenn dem so wäre, dann würden die Eltern – ungeachtet dessen, daß die Ehe monogam ist und davon ausgehend, daß die Frau jedes Jahr ein Kind bekommt – sich gezwungen sehen, nach dem zweiten oder dritten Neugeborenen auf jede sexuelle Beziehung zu verzichten, wenn man sie nicht in Bedingungen halten würde, wo sie mehr als zwei oder drei Kinder erziehen müssen. Dies würde für den größten Teil der Menschen offensichtlich eine Unmöglichkeit bedeuten; allenfalls einige asketische, frigide oder kranke Individuen könnten sich damit abfinden. Die Natur fordert ihr Recht und zeigt klar, daß die sexuellen Beziehungen außer der Zeugung noch andere Zwecke haben".

"Vor allem kann man sagen, daß der Koitus Selbstzweck ist. Er ist ein natürliches Bedürfnis, eine mehr oder weniger gebieterische sexuelle Forderung, die befriedigt werden will, und die abhängig ist von der Erregung der Sexualorgane infolge einer mehr oder weniger langen Abstinenz, von einem Spermaüberschuß in den sexuellen Drüsen, der eine allgemeine sexuelle Spannung und einen Zustand der Vibration des ganzen Nervensystems erzeugt...". (Dr. Anton Nystrom: Das Sexualleben und seine Gesetze. Kap. I).

Auf alle moraltheistischen Ausarbeitungen antworten wir im wesentlichen: die Sexualfunktion ist ebenso normal wie die Ernährungs- und die Atmungsfunktion. Es ist gesund, wenn Wesen verschiedenen Geschlechts sich anziehen, wenn sie durch die Begierde dazu getrieben werden. Der Sexualreiz ist so natürlich wie der intellektuelle oder der Ernährungsreiz. Man kann das Wesen, das für die "sexuelle Reizung" taub ist, als mit einem Organismus auf dem Wege der Degeneration ausgestattet ansehen, solange es sich noch in normalen Grenzen hält. Das Negieren ist ein besorgniserregendes Zeichen physischer Krankhaftigkeit oder moralischer Störung. Beweis für das letzte Argument ist, daß 90%, wenn nicht mehr, der Verächter der sexuellen Lust und ihrer Untersuchung Wesen in der Gewalt religiöser Ideen sind.

Und es wird nicht leicht fallen, uns von unserem Gebiet zu vertreiben.

"Ich verabscheue die Koketterie in der Liebe"

Ich verabscheue die Koketterie in der Liebe. Und die Frau, die, obwohl sie selbst begehrt, sich begehren läßt, erntet nicht meine Sympathie. Ein verlängerter Widerstand macht mich eiskalt und ich entferne mich, wenn kluge Manöver ins Spiel gebracht werden, die dazu bestimmt sind, die Schärfe des sexuellen Verlangens zu maskieren.

Weder Harmlosigkeit noch Bewußtheit sind ausreichende Entschuldigungen für mich. Wenn ich auch den Respekt, die Hochachtung, als äußerlich gebrauchte Werte nicht gemocht habe, so passen sie doch zu der Frau, die sich gibt. Die sich gibt, nicht die sich vorenthält oder sich vermarktet. Die sich einfach hingibt. Ohne Schminke, ohne List, ohne Hintergedanken. Ohne an Garantie ewiger Treue zu denken. Ohne nach der Zukunft zu fragen. Ohne sich damit zu befassen, ob sie den augenblicklichen Liebhaber jemals wiedersehen wird. Die sich ganz der Leidenschaft hingibt. Vollkommen, ohne Reserve, ohne Vorbehalt. Die ihren Körper zum Geschenk macht. Und nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Zärtlichkeiten, ihre Leidenschaft, ihre Sinnlichkeit, Sensibilität, ihre Gefühle. Ohne ein Zur-Schau-Tragen, das der Intimität der Liebe entgegengesetzt ist. Aber auch ohne kindische Furcht vor der guten oder schlechten Meinung, die sein Geschenk erzeugen kann. Sich hingebend, weil sie allgemein liebt oder weil sie etwas Besonderes begehrt. Dem, der ihr gefällt und dem sie gefällt. Mal der eine mit dem Anderen, mal der eine ohne den Anderen. Für eine Stunde, einen Tag, ein Jahr. Ohne die geringste Beschäftigung mit dem zivilen Stand oder mit der sozialen Bedingung. Das sind die Charaktereigenschaften der Liebenden, der wahren Geliebten.

Die Kokette filtert die Leidenschaft, schenkt das Gefühl mit dem Tropfenzähler ein, destilliert die Sensibilität. Sie gibt sich nicht hin, sie verkauft sich nicht, sie vermarktet sich nicht, sie exhibitioniert sich, ohne sich hinzugeben. Sie ist eine kalte Geliebte. Sie ist eine Maske, eine Fälschung der wahren Geliebten, Liebenden. Sie ist das Gegengift der Liebe.

Der Individualist und die Liebesbeziehungen (Ergänzender Gesichtspunkt)

Der Individualist unserer Prägung beachtet an erster Stelle, daß die Liebesbeziehungen, welche Wesen untereinander anknüpfen können, weder den Staat noch die Kirche noch irgendeine Person etwas angehen, vorausgesetzt, daß ihre Beziehungen diese Person nicht schädigen oder dazu tendieren, auf sie einzuwirken. Wenn die Gesellschaft soviel Unverständnis – um nicht zu sagen Barbarei – gegenüber den Liebesbeziehungen zeigt, verdankt man das den auf die weltliche Moral – die des Staates – oder auf die religiöse Moral – die der Kirche irgendeines Ritus – gegründeten Institutionen. An zweiter Stelle wird der Individualist beachten, daß, was wir freie Liebe oder sexuelle Freiheit nennen, nur realisierbar ist in der Funktion einer integrierenden und vollständigen Sexualerziehung, welche nicht verstümmelt oder tendenziös ist, wie die bürgerlichen Erzieher sie auffassen. Es bleibt abzuwarten, unter welchen Bedingungen und für wen diese von jedem Druckmittel befreite Sexual-Erziehung sich verbreitet.

Nachdem diese Prinzipien aufgestellt sind, betont der Individualist unserer Prägung, daß ihn an den Freunden, die er besucht, am meisten deren Wunsch interessiert, hervorragende, unabhängige Persönlichkeiten zu werden, die sich ihres Ego bewußt sind; mit einem Gehirn, das von allen metaphysischen Phantasmen befreit ist, von Wesenheiten und Abstraktionen aller Art, die den Verstand des verunsicherten Wesens quälen: eine Persönlichkeit, die ebenso der Knechtschaft der konventionellen Lügen und populären Traditionen widersteht, wie der Versklavung durch irrationale Leidenschaften oder Instinkte.

"Ich bin" – schreibt Stirner in "Der Einzige und sein Eigentum" – und "die Bildung hat Mir Gewalt über... die Triebe meiner Natur gegeben... die Kraft, daß Ich Mich durch keine meiner Begierden, Lüste, Aufwallungen u.s.w. zwingen zu lassen brauche": Ich bin ihr – Herr". Und etwas weiter besteht dieser Egoist unter Egoisten darauf: "Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der Bildung Mir erworben haben; nichts davon will Ich wegwerfen und aufgeben: Ich habe nicht umsonst gelebt. Die Erfahrung, daß Ich Gewalt über meine Natur habe und nicht der Sklave meiner Begierden zu sein brauche, soll Mir nicht verloren gehen".

Der Individualist unserer Prägung kämpft angesichts der Tatsache, daß er sich Anarchist nennt, mit aller Kraft für die Befreiung der anarchistischen Weltanschauung von Unordnung, die ihr das die Staatlichkeit repräsentierende bürgerliche Vokabular anhängt. Der anarchistische Individualist predigt weder Unordnung noch Zügellosigkeit. Ihm geht es um die Funktion der Verantwortung und er behauptet, daß das freie Individuum, d.h. der HERR SEINER SELBST, kein Verlangen nach der Protektion des Staates, nach den Geboten der Kirche oder nach der Vormundschaft eines Regierungsapparates hat, um einen Vertrag mit seinen Gefährten zu schließen und dessen Klauseln zu beachten, oder auch, um sich zu assoziieren und dem Pakt der beschlossenen Assoziation treu zu bleiben. Nach dem Verschwinden der Funktion des Staates bleibt der Vertrag (basierend auf der Gegenseitigkeit: (nichts für nichts) die einzige Norm für die Beziehungen zwischen den Individuen.

Es ist schwer zu verstehen, warum die Liebesbeziehungen nicht den Präliminarien des Bündnisses, des Paktes oder des Vertrages konform sein sollten.

In einem 1926 veröffentlichten Büchlein hatte ich schon erklärt: "Bezüglich des Vertrages (und mich interessiert wenig, ob diese Darlegung die Moralisten und alle ... bürgerlichen Immoralisten zum Heulen bringt...) denke ich, daß dieser sowohl im Hinblick auf den ökonomischen, wie auch auf den intellektuellen, den Unterhaltungs- oder den erotischen Faktor beschlossen werden kann.

Ein unmittelbarer Schüller Benjamin Tuckers, Clarence Lee Schwartz, hat in seinem "What is Mutualism?" auf Seite 169 geschrieben: Im mutualistischen System wird sich die Gesellschaft in keiner Weise in die privaten Angelegenheiten der Männer und Frauen einmischen. Die Individuen werden die totale Freiheit haben, die Verträge abzuschließen, die sie für die besten halten, und zu den verschiedensten Zwecken: soziale, kommerzielle, industrielle oder sexuelle. Solange diese Akte nicht aggressiven Charakters sind, wird die Gesellschaft nicht das Recht haben, sich damit zu befassen und der Mutualismus wird keinerlei Einmischung dulden".

Für den Individualisten unserer Prägung soll der Pakt oder der Vertrag auf dem Gebiet der Liebesbeziehungen das festsetzen, – ob es sich nun um Unizität (Einzigkeit) oder Pluralität (Vielheit, Mehrheit) handelt – , was die Vertragspartner von einander erwarten. Er darf nicht außer Acht lassen, was zur Aufhebung des Vertrages führen kann und er muß die Vertragspartner gegen Risiken, Enttäuschungen und Eventualitäten jeder Art, die hier, in der jeweiligen sozialen Umwelt, auftreten können, absichern. Der Individualist unserer Prägung läßt nicht zu, daß man, um die Vorteile des die Liebesbeziehungen regelnden Paktes oder Vertrages zu genießen, sich anders gibt, als man wirklich ist und fühlt, d.h. daß man sich nicht pluralistisch gibt, wenn man weiß, daß man unizistisch ist; nicht unizistisch, wenn man weiß, daß man pluralistisch ist, etc.; diese Art von Heuchelei, wie man sie gemeinhin im bürgerlichen Milieu antrifft, ruft nur Abscheu hervor.

Der Individualist unserer Prägung vergißt nicht, daß seine Auffassung der Kameradschaftlichkeit ("L'en dehors", August-September 1939) – und dieser gemäß sind aufgrund erlebter Erfahrungen die mit redlicher Kameradschaftlichkeit verknüpften Liebesbeziehungen solche von andauernder, tiefempfundener Freundschaft – positiv ist und nicht negativ, konstruktiv und nicht destruktiv.

Daraus ergibt sich, daß die Liebesbeziehungen von gutem Willen, Gefallen und Harmonie durchdrungen sein sollen und gleichzeitig von Beharrlichkeit, Hilfe und Verständnis. Die Liebesbeziehungen sollen nicht Beunruhigung, Kummer, Qualen oder Enttäuschungen bringen; sie sollen den, der in gutem Glauben den Pakt oder Vertrag geschlossen hat, von dem oben die Rede ist, nicht herabsetzen, schädigen und in einen Zustand der Inferiorität versetzen. Und es ist uns unbegreiflich, wieso die Treue zum gegebenen Wort, zum Versprechen oder zu den freiwillig akzeptierten Bedingungen sich nicht genau so leicht in den Liebesbeziehungen durchsetzen soll, wie sie sich auf anderen Gebieten durchsetzt. Daß die Bürgerlichen dies negieren, hat nichts zu sagen! Wenn der Bürgerliche derjenige ist, der "niedrig denkt", so denkt der Individualist unserer Prägung stattdessen, daß die Liebeserfahrung sich nur in der Reinheit der Höhe behauptet und nicht in der Fäulnis der untersten Schichten, sozusagen im Betrug, in der Ausschweifung, in der Unbewußtheit, Verantwortungslosigkeit und in dem Verlaß auf die Lockungen der tierischen Instinkte.

Nach eingehendem Studium ist der Individualist unserer Prägung zu dem Schluß gelangt, daß die dauerhafte Vereinigung nur möglich ist – sei es nun Unizität oder Pluralität – unter Individuen, die davon ausgehen, im Gefährten oder in der Gefährtin eine Persönlichkeit zu finden, und die die Beziehungen sexuellen Charakters als zweitrangig, als von sekundärer Wichtigkeit, betrachten. Eine Persönlichkeit, das ist eine Haltung, sich jederzeit als echter Gefährte oder Gefährtin zu erweisen; bereit, Zuneigung, Gefühl und Trost zu bezeigen; sie neigt nicht dazu, den Mut zu verlieren oder zurückzuweichen in schweren Zeiten der Prüfung oder der Trennung; sie ist froh darüber, die Freuden wie die Schmerzen zu teilen. Eine Persönlichkeit ist sozusagen jemand, der Qualitäten besitzt, die ihn zu einem besonderen Wesen machen, einer Einheit, die das Bewußtsein der eigenen Willensmöglichkeiten hat; blind für das Scheinbare, die List und für die Heuchelei, taub für die Schmeichelei und das Künstliche, unempfänglich für den privaten und den Parteienklatsch. Eine Persönlichkeit ist ein EINZIGER.

Der präliminarische Vertrag oder Pakt, der die Realisierung der Liebesbeziehungen zum Zweck hat, wird voraussehen müssen, unter welchen Bedingungen sich ein eventueller Bruch vollziehen kann und festsetzen, zu welchen Entschädigungen moralischer oder affektiver Art dieser das Recht geben wird.

Für den Individualisten unserer Prägung darf der Bruch nicht das Ergebnis einer Laune oder einer Phantasie sein. Ein aufgezwungener und aufs Geratewohl gewollter Bruch, der unnötiges Leiden schafft, ist – auf welchem Gebiet auch immer – kein Akt guter Kameradschaftlichkeit mehr, insbesondere dann, wenn es darum geht, sich seiner im Gefühlsbereich zu bedienen. Wenn also ein Gefährte fest davon überzeugt ist, daß sein oder einer seiner Vertragspartner unter dem Antrieb eines verderblichen Einflusses handelt, ist es für uns natürlich, daß er sich der Aufhebung des freiwillig abgeschlossenen Paktes oder Vertrages widersetzt; daß er auf einer tieferen Prüfung der angeführten Gründe dessen, der die Aufhebung fordert, und auch der Folgen, besteht.

Praktisch ist der Individualist unserer Prägung der Auffassung, daß man nur in gegenseitigem Einvernehmen zu einer Aufhebung gelangen darf, und das ist der Fall, wenn alle Interessenten sich einig sind im Dafürhalten, daß dies der einzige Weg ist, um die gestörte Harmonie wiederherzustellen.

Wenn also im Laufe der präliminarischen Abmachungen über die Liebesbeziehungen die Erwähnung eines möglichen Bruches gemacht wird – der unter den Verbürgerlichten oft auch eintritt – wird der Individualist unserer Prägung sich des Hinweises nicht enthalten können, daß es offensichtlich einen archistischen Akt bedeutet, wenn man jemandem einen Bruch aufzwingt, der ihn nicht will und der niemals einer Aufzwingung zustimmen würde. So erweist sich, wenn man Verbitterung, feindselige Gefühle, Abscheu und auch Schlimmeres vermeiden will, die gegenseitige Einwilligung als das wirksamste Verfahren. Aufgrund des Paktes oder Vertrages werden das körperliche Eigentum (Leibeigenschaft) und die tyrannische Eifersucht keine Berechtigung mehr haben, denn der einzelne Interessierte wird wissen, wie er sich mit den Absichten der anderen Koassoziierten abstimmt: wieviel sie von ihm zu erwarten haben und wieviel er von ihnen erwarten kann.

Der Individualist unserer Prägung fühlt, daß er absolut nichts mit denen gemein hat, die ihre Gefährtinnen oder ihre Gefährten als Lustfutter betrachten, ähnlich dem Kanonenfutter, zu dem die Regierungen die von ihnen Verwalteten und ihre Untertanen reduzieren.

Gefährten und Gefährtinnen als Lust-, Zerstreuungs- oder Flirtobjekt anzusehen, ohne über die nahe- oder fernerliegenden Konsequenzen nachzudenken, die sich daraus ergeben, ohne sich um die Rückwirkungen zu kümmern, die das auf die Gemütsverfassung, derer hat, die man so behandelt, das kann der Individualist unserer Prägung nur verabscheuen. Gleichermaßen wendet er sich gegen das Eroberungsobjekt, zu dem sich Gefährten und Gefährtinnen erniedrigen wollen. Der Individualist unserer Prägung ist nicht nur Pazifist, er ist auch friedfertig. Für ihn gibt es keinen Grund, daß die Liebes- oder sexuellen Beziehungen Vorspiele des Krieges, von Eroberungen, von Siegen oder Niederlagen sein müssen, sondern sie sollen freie und redliche Verbindungen zwischen Gefährten und Freunden sein.

Der Individualist unserer Prägung ignoriert nicht, daß die Praxis der Pluralität auf dem Gebiet der Liebesbeziehungen von manchen nur akzeptiert wird, weil sie garnicht umhin können, und unter diesen von einigen, die fürchten, wenn sie sich dem widersetzen, den Gefährten oder die Gefährtin zu verlieren, den oder die sie lieben; andere fürchten die Verschlechterung ihrer ökonomischen Situation, die sich daraus ergeben würde, wenn sie solche Bedingungen nicht akzeptieren. Es gibt jedoch wieder andere, welche die sexuelle Seite der Beziehungen relativ wenig oder überhaupt nicht interessiert und die deshalb akzeptieren, daß der eigene Gefährte oder die Gefährtin sexuelle Beziehungen außerhalb unterhält. Nun hat all dies nichts zu tun mit dem Praktizieren der Liebes- oder Gefühlspluralität, die von all denen akzeptiert wird, die sie für ein verfeinertes und intensiveres Lebenssystem halten, einen erweiterten Sinn des Bewußtseins und des psychologischen Gleichgewichts, einen Glücksfaktor. Dies nicht aufgrund der sexuellen Beziehungen – die als Zubehör und Ergänzung eines erweiterten Verkehrs angesehen werden – sondern wegen der Abwesenheit von Verstellung, Heuchelei und Schau und Mache, wie es häufig bei den Bürgerlichen üblich ist, die ihrem Gatten oder ihrer Gattin die außerehelichen Abenteuer am liebsten verbergen.

Zum wiederholten Male haben wir die Meinung geäußert, daß die Pluralität der Liebe wie die Pluralität der Gefühle oder die der Freundschaft eine Quelle der individuellen Entwicklung ist, reichlicher zum Beispiel als die in der Ehe, denn die Pluralität bereichert die Persönlichkeit, die mehrere Beziehungen statt nur einer wahrnimmt – eine Persönlichkeit, die von vielen Seiten vervollständigt wird, statt nur von einer Seite, und die das gegenseitige Sichaufzehren in der Ehe nicht zu fürchten hat. Man könnte auch sagen, daß in der Fähigkeit, nebeneinander mehrere Wesen zu lieben – sie aus wohlverstandener Liebe zu lieben – der Reichtum der pluralistischen Liebe gegenüber der unizitären Liebe besteht, die unfähig ist, Liebesgefühle für mehrere Wesen zu empfinden. Aber man begehe keinen Interpretationsfehler: Der Individualist unserer Prägung verwechselt nicht die Liebes- oder Gefühlspluralität mit der Ausschweifung, der unentgeltlichen Prostitution oder dem Mangel an Gefühlssicherheit; und nichts liegt ihm auf diesem Gebiet ferner als ein Bordellbenehmen.

"Was ist die körperliche Liebe, wenn nicht die Krönung einer Ethik oder eines Gefühls? Eine Harfe ohne Saiten, ein Segelschiff ohne Masten, ein Adler ohne Flügel!".

Der Individualist unserer Prägung findet, daß die Liebesbeziehungen diejenigen, die sie unterhalten, dahin bringen müssen, nicht nur Verbündete im Guten wie im Bösen zu sein, in den Hochs und Tiefs der ökonomischen Situation, sondern Vertraute in allen Bereichen, auf die sich ihre Aktivität erstreckt, ihre Sensibilität, ihre Verstandestätigkeit. Die Diskussion der Ideen, zu denen man sich bekennt, der aufgestellten Thesen, die Ausarbeitung und Verbreitung dieser Ideen und Thesen und ihre eventuelle Realisierung, all das muß für ihn ein Resultat der Intimität sein. Das Vertrauen der Teilnehmer muß so sein, daß es die Sache des Verstandes und die des Herzens umfaßt: die Sorgen, Sehnsüchte, Freuden und Enttäuschungen.

Weiter: egal, ob es sich um Hetero- oder um Homo-"Eroten" handelt, so behauptet der Individualist unserer Prägung, weil die Pluralität der Gefühle gewinnbringend und bereichernd in Erfüllung geht, ist es notwendig, daß jedes Element jeden seiner Vertragspartner des Paktes oder Vertrages über die Liebespluralität als seine einzige Gefährtin oder Freundin, oder seinen einzigen Gefährten oder Freund, ansieht, im Gegensatz zum bürgerlichen Milieu, wo man mal die legitime Gattin, mal die Geliebte bevorzugt, ohne sich um den Kummer oder die Eifersucht – oder auch Haß – zu kümmern, was aus diesem Benehmen resultieren kann.

Andererseits wird die Pluralität der Liebesbeziehungen, die wir anstreben, nicht erreichbar sein ohne Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Partnern und ohne ein Zartgefühl und ohne eine Moral, wobei wir nicht länger verweilen zu müssen glauben.

Außerdem erkennt der Individualist unserer Prägung an, daß unsere Thesen nicht für jeden Menschen, nicht für das Herdentier, den zoologischen Zweifüßler, akzeptabel oder zugänglich sind, sondern nur für den Gefährten, den Freund, für das Ausnahmewesen, dessen Hauptsorge es ist, sich zu überwinden, sich zu befreien von dem Rest an animalischen Aggressionsbanden, der ihn noch daran hindert, sich sieghaft als ein EINZIGER zu behaupten. Ein EINZIGER, befreit von Vorurteilen wie von Gegenvorurteilen, von Konformismen wie von Gegenkonformismen.

Sicher gibt es Unizisten, Monogame, die von ihrem Temperament her, aus moralischen Gründen oder aus irgendeinem anderen Motiv so sind, daß man sich gern auf sie beruft, sie gern als Vorbild anführt. Was für sie richtig ist, ist richtig, würde Stirner sagen. Sie vereinigen sich mit Wesen, mit denen sie nach ihrem Gefühl eine Wahlverwandtschaft haben, und sie kommen in unsere Kreise wie irgendein Anderer, als solidarische, gute Gefährten. Gewiß ist ein monogamer, aufrichtiger, überzeugter Unizist mehr wert als ein zögernder, lügenhafter, inkonsequenter Pluralist. Es ist wahr, daß man sich ändern und bemerken kann, daß man sich zeitweilig geirrt hatte, wenn man meinte, daß die Pluralität dem eigenen Temperament entsprach. In keiner Weise jedenfalls wird der Individualist unserer Prägung es zulassen, daß in irgendeinem Fall die Pluralisten zu den Unizisten einen Gegensatz bilden und ihnen gegenüber mit einer nicht existierenden Superiorität prunken. Der Pluralist hat nichts Superiores (Höherwertiges) gegenüber dem Unizisten. Seine Auffassung des Lebens und der Liebesbeziehungen ist eine andere. Das ist Alles!

Es ist klar, daß es auch flatterhafte Wesen gibt, daß die aber weder Pervertierte noch sexuell Besessene sind, sondern daß die Dauerhaftigkeit, die Stabilität und die Kontinuität im Bereich der Liebesbeziehungen nicht zu ihrem Temperament paßt.

Der Individualist unserer Prägung verurteilt und verdammt sie nicht. In der Erwartung ihrer eventuellen Entwicklung läßt er zu, daß sie ihr Leben leben, ohne das der Unizisten. und Pluralisten zu stören, deren Praxis und deren Forderungen im Bereich der Liebe zu Stabilität, Dauerhaftigkeit und Festigkeit tendieren. Wenn jeder sich mit den Freunden vereinigt, mit denen er Wahlverwandtschaften zu haben fühlt, werden alle Beteiligten davon profitieren.

In dieser Zeit der Abstumpfung der Gehirne für die sexuellen und erotischen Probleme (Abstumpfung der Gehirne, die daran interessiert sind, den Verfall und die moralische Verwirrung auszunutzen, welche jede Zeit der Störung des sozialen Gleichgewichts mit sich bringt), haben wir es für angebracht gehalten, unsere Position im Bereich der Liebeserfahrungen zu präzisieren. Man braucht mit dem weiter oben Dargelegten nicht einverstanden zu sein, aber wir meinen, daß der Sinn für Kameradschaftlichkeit und auch die elementarste Loyalität verlangt, daß diejenigen, die unsere Art, das Komplementäre als sich gegenseitig Ergänzendes zu sehen, nicht billigen, dies klar verständlich machen, wenn sich dazu Gelegenheit bietet, sei es in der Öffentlichkeit oder im privaten Bereich.

Eine „Mitarbeiterin des "l'en dehors" und des "L'Unique" sandte den folgenden Brief an den Autor: Wie man seinen Gefährten erwählt

"Ich erinnere mich, daß mir E. Armand, als ich in Frankreich wohnte, ein Büchlein mit dem Titel 'Wie man seine Gefährtin erwählt' zukommen ließ. Es scheint mir naheliegend, sich zu fragen, 'wie man seinen Gefährten erwählt'. Ich nehme mir also einige Überlegungen über dieses Thema vor und besonders eine, die sexuelle Angelegenheit betreffende.

Keiner wird leugnen, daß das sexuelle Problem eine Realität ist. Daß es seine Bedeutung für die Existenz eines jeden von uns hat, ist evident. Aber ich glaube, man darf seine Bedeutung nicht übertreiben und keine fixe Idee daraus machen. Es gibt andere Kanäle, in die man vorteilhaft die individuelle Energie fließen läßt und andere Forschungen, die die Aufmerksamkeit unseres Verstandes erregen. Ich war immer für die Kampagnen, die in der Vergangenheit von 'l'en dehors' gegen die sexuelle Heuchelei geführt wurden, deren Zweck es war, das Gehirn seiner Leser von den in diesem Bereich überwiegenden Vorurteilen zu befreien, aber ich habe nichts zu tun – und habe gleichsam eine Aversion dagegen – mit der 'Liebe als Geschöpf der Boheme', mit der Ausschweifung und der hündischen Sexualität, dem Zorn auf Unbeständigkeit und der Feindschaft wegen eines aus der Laune eines Einzelnen heraus aufgezwungenen Bruchs. Alles Dinge, die gleichermaßen zu diesen Kampagnen gehörten.

Wenn 'l‘en dehors' manchmal kühne Thesen für diesen Bereich aufgestellt hat, so wurde immer betont, daß sie nur unter Wesen mit einer Ausnahmemoral die Möglichkeit haben würden, realisiert zu werden. Ich für mein Teil meine, wenn man unfähig ist, das sexuelle Problem als eine biologische Frage zu untersuchen, d.h. mit kühlem Kopf und ohne sexuelle Verwirrung, wäre es gut, wenn man sich vorher einer geeigneten therapeutischen Kur unterziehen würde. Die Frage der Sexualität ist gleich der des Nudismus: sie schlägt um in Exhibitionismus, wenn sie zu Erethismus (krankhaft gesteigerter Gereiztheit, Überreizung) führt.

Nach dieser Abschweifung wende ich mich wieder dem Thema zu. Vor allem liegt mir daran zu erklären, daß ich keine Unizistin bin, wie man in unseren Kreisen sagt. Deswegen halte ich aber die Unizität nicht für inferior gegenüber dem Pluralismus und ich anerkenne ehrlich den Gefährten oder die Gefährtin, die dahin gelangt sind, in dem ersehnten Wesen die Erfüllung ihrer Wünsche zu finden und die nicht das Bedürfnis zeigen, von anderer Seite eine gewisse Ergänzung zu suchen. Ich finde es recht ungebührlich, wenn irgendein Pluralist sich herausnimmt, Individuen zu necken, zu reizen oder sich über sie lustig zu machen – offen oder verstohlen – , deren Temperament und deren Bestrebungen er bei seiner Einstellung niemals verstehen wird.

Aber was mich betrifft, ich bin Pluralistin, weil ich zum einen meine, daß ich niemals mit dem von meinem Gefährten ersehnten Ideal werde übereinstimmen können, zum anderen bin ich überzeugt, daß ich nie in ihm die Totalität der von mir ersehnten Qualitäten finden werde.

Ich habe mich immer in der Lage gefühlt, mehrere Wesen gleichzeitig zu lieben, unter der Bedingung, daß es Unterschiede unter ihnen gibt und es mir möglich wäre, im einen die Qualitäten zu finden, die im anderen fehlen. Andererseits ist mein Pluralismus sehr begrenzt. Ich bin nicht verderbt und die Donna Giovanna widert mich genau so an wie der verstockte Frauenliebling. Doch so begrenzt mein Pluralismus auch ist, muß mein Gefährte disponiert sein, zu akzeptieren vor Allem, daß er nicht mein einziger Weggefährte ist, und nicht der Einzige, mit dem ich mein Leben zu verbringen trachte. Und es versteht sich, daß Alles, was ich von da an sagen werde, nicht für meinen Gefährten gilt, sondern für meine Weggefährten.

Nachdem dieser Punkt klargestellt ist, werde ich sagen, daß es mein Wunsch ist, in meinem Gefährten einen zuverlässigen Menschen, einen sicheren Freund zu finden, auf den ich zählen kann, wenn ich ihn brauche, und der die Verpflichtungen anerkennen kann, die er mir gegenüber eingegangen ist . Ich wünsche ihn mir so gebildet wie möglich, aber einfach im Benehmen und in der Art. Ich schere mich nicht um das Äußerliche, schon garnicht suche ich eine Modepuppe, sondern einen Charakter. Ich gebe zu, daß er nicht ohne Fehler sein wird, aber es liegt mir daran, daß diese durch die Höhe seiner moralischen Einstellung und seiner affektiven Fähigkeiten kompensiert werden, wie zum Beispiel die Beständigkeit des Gefühls für mich, die Demonstration des Vertrauens, das er in mich setzt, daß er beharrlich zu mir hält in schwierigen Momenten, die ich durchstehen werde. Ich will für ihn nicht irgendeine Laune sein, oder ein Ferienabenteuer, sondern eine Gefährtin. Ich will also, daß er mich als Frau ansieht und nicht als Freudenmädchen für sexuelle Zerstreuung. Was ihn zu mir führen soll, ist eine tiefe Sehnsucht nach Freundschaft und ein Gefühl der Liebe, und nicht einfach eine physische Anziehung.

Ich suche in meinem Gefährten einen Freund und keinen unersättlichen Erotiker. Vor allem einen Freund, der mir seine Zuneigung und sein Gefühl für mich aufrechterhalten wird, auch wenn die sexuelle Anziehung zwischen uns verschwunden sein wird. Und ich halte mich für gutwillig genug, um sicher zu sein, das erwidern zu können.

Ich will, daß er mir meine vollkommene Freiheit läßt und akzeptiert, daß ich ihm über meine Taten keine Rechenschaft ablege, außer wenn ich das für besser halten werde. Und deshalb ist es gut, es nicht an Freimut ihm gegenüber fehlen zu lassen; ich würde mich nicht wohlfühlen mit einem Gefährteri, der mich dauernd nach den Gründen meines Weggehens oder meiner täglichen Handlungen zu fragen beabsichtigt.

Natürlich würde ich alles Mögliche tun, um jeden Verdacht zu vermeiden, der mich in seinen Augen herabsetzt, der Mißtrauen in Bezug auf die Reinheit und Würde meiner persönlichen Verwirklichungen erregt. Ich würde also ohne jede Schwierigkeit – sogar gerne – akzeptieren, daß die mir zugestandene Freiheit mir nicht erlaubt, frivol, leichtsinnig, launisch, Verursacherin vermeidbaren Leides zu sein, indem ich nicht Wort halte, daß ich meine Gefühle nicht an ein Wesen verliere, das augenscheinlich dazu geeignet ist, mein Intimleben durcheinander zubringen oder zu beflecken, daß ich mich nicht in der einen oder anderen Form prostituiere: daß ich mich nicht aufführe wie eine Dirne. Ich würde einen tiefen Zorn empfinden gegen den Mann, der mir erklären würde, daß er mich meine Freiheit für ähnliche Zwecke gebrauchen lasse. Und es ist klar, daß ich in solchem Falle lange Zeit nicht mit ihm in Harmonie sein könnte.

Ich für mein Teil beabsichtige, meinem Gefährten seine vollkommene Freiheit zu lassen und in keiner Weise mich in sein Verhalten und in seine Aktionen einzumischen; aber diese Freiheit soll der, die er mir läßt und deren Grenzen ich oben gezogen habe, gleichen. So würde ich nicht zulassen, daß wegen der Einmischung in ihr Leben. andere Wesen die Freundschaft, die Anhänglichkeit, die Gefühlszuwendung, die sie einander geben konnten, abbrechen müßten oder sollten. Wenn das einträte, empfände ich ihm gegenüber derart feindselige Gefühle, daß keine Beziehung zwischen uns mehr möglich sein würde. Ich würde außerdem wollen, daß er nicht eifersüchtig ist. Es wäre für mich zu schwierig, mit einem oder mehreren eifersüchtigen Gefährten zu leben. Aber ich werde es verstehen, in Bezug darauf die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und meine Verantwortlichkeiten zu übernehmen. Ich habe in der Vergangenheit mit Sympathie die von 'l'en dehors' gegen die Eifersucht geführte Kampagne verfolgt.

Man kann diese Erzeugerin von Qualen, Schädigungen und Unbehagen garnicht genug bekämpfen. Meine pluralistischen Erfahrungen sowohl in der Freundschaft wie in der Liebe haben mir klar gezeigt, daß die daraus entstehenden unheilvollen Wirkungen beträchtlich reduziert werden könnten, wenn es gelänge, die bevorzugten Manifestationen zu unterdrücken. Meiner Meinung nach ist der Hauptgrund der Eifersucht dieser: das in der Seele eurer Freundin oder eures Freundes tiefverwurzelte Gefühl, daß ihr einem Dritten die Sache gewährt, derer ihr ihn beraubt und wobei es ihr oder ihm sehr daran liegt, sie von euch zu bekommen; kaum von Bedeutung ist, worin diese Sache besteht. Die Bevorzugung, die z.B. eine Mutter einem ihrer Kinder erweist, hat gewöhnlich die traurige Tatsache zum Resultat, daß sie die Existenz aller anderen vergiftet, mitunter für das ganze Leben.

Im übrigen, wenn die Differenz und das Komplementäre die spezifischen Faktoren sind, wegen derer man sich zu einer neuen Freundschaft entschließt – wobei diese natürlich die überwiegen, derer wir uns schon erfreuen – , ist es schwer zu verstehen, warum man diese den anderen vorziehen muß, wenn man unterstellt , daß jedes Objekt unserer Freundschaft und unserer Gefühlszuwendung verschieden ist. Ich weiß, daß ich, wie ich mich der Gefühlszuwendung und der Liebe für mehrere Wesen gleichzeitig fähig fühle, mich auch stark genug fühle, Ausgewogenheit zu praktizieren, für jedes von ihnen das zu sein, was sie von mir erwarten.

Es liegt mir daran, keinen eifersüchtigen Gefährten zu haben; aber ich fühle mich stark und selbstsicher genug, in ihm die Eifersucht nicht zu wecken, von dem Moment an, wo er meine Pluralität akzeptiert hat. Und über all das spreche ich aus Erfahrung.

Die universale Liebe und Freundschaft sind schöne Einfälle von literarischen oder mystischen Subjekten: aber was mich betrifft, mir liegt daran, daß mir mein Gefährte seine Freundschaft in ganz irdischer Einheit anbietet und nicht als irgendein Gebilde, das dem Weltall und dem kosmischen Unendlichen angehört. Er muß sie mir anbieten und aus Fleisch und Knochen sein, eine vom Nachbarn oder der Nachbarin unterschiedene Person, verschieden von ihren anderen Freunden. Für mich als eine EINZIGE und nicht als Phantom oder metaphysische Einheit. Und ebenso sehe ich meinen Freund: mit einem Gesicht, einem Körper, der zu ihm gehört, mit einem Gefühl der persönlichen Verantwortung seiner Handlungen und seiner Gesten in Bezug auf mich.

Mein Freund ist "der EINZIGE'', niemand ähnelt ihm und ich könnte ihn mit keinem Anderen verwechseln. Ich habe ihn mir ausgesucht und nicht irgendeinen anderen. Er ist ein besonderes Individuum und ebenso ist es mit den Wesen, die von der Pluralistin ausgesucht worden sind, die ich bin. Sie haben einen Charakter und ein ganz besonderes Temperament, das ihnen eigen ist und nichts mit den anderen gemein hat. Ich bin Ich und stecke nicht in einem Nebel, ununterschieden von einem kosmischen Magma.

Ich liebe es sehr, immer zu wissen, mit wem ich es zu tun habe. Ich fühle mich nicht angezogen von jemandem, der heute Pluralist ist und mich wissen läßt, daß er morgen Unizist werden könnte. Sowohl in der Freundschaft als auch in der Liebe graut es mir vor Wetterfahnen: Chamäleons des Gefühls. In allen Bereichen, wo sich die Aktivität derer, mit denen ich in Beziehung stehe, manifestiert, weiß ich gern, 'auf welchem Fuß man tanzt'. Und da ich praktisch für alles bin, was dauerhaft und beständig ist, ist es natürlich, daß mir die Beziehungen von einer gewissen Art, d.h. mit veränderlichen, flatterhaften, unentschlossenen und ähnlichen Kerlen nicht allzu sehr willkommen sind. Sollen die sich doch anderswohin wenden!

Nicht , daß ich die Entwicklung der Temperamente, der Charaktere und Ideen negiere. Ganz im Gegenteil! Was ich nicht logisch finde, ist, daß es möglich ist, sich von heute auf morgen zu ändern, wohingegen ich meine, daß jede Änderung das Resultat langer Überlegungen sein muß und wiederholter Erfahrungen, über die es vielleicht notwendig ist, Jahre lang nachzudenken. Und das immer und vor allem unter der Bedingung, daß durch die Entwicklung und Verwicklung der veränderlichen Persönlichkeit keine anderen Personen Leiden zu ertragen haben.

Da ist auch die Frage der Bevorzugung, auf die ich zurückkommen möchte. In der pluralistischen Union – in der Wahlfamilie – gestehe ich als Individualistin, die ich bin, daß die Rolle des Satelliten mir überhaupt nicht ansteht. Der Begriff Satellit ist treffend, nicht wahr?

Meine Würde als Individuum, das sich seines Wertes bewußt ist, mein Stolz als EINZIGER widersetzen sich dem. Ich lehne es offen ab, gegenüber den Freunden oder Freundinnen meines Weggefährten oder Freundes auf eine Ebene der Inferiorität gestellt zu werden.

Und sodann, warum hätte ich im Verhältnis zu ihr oder zu ihnen an zweiter oder dritter Stelle zu stehen? Ich käme nicht auf die Idee, den neuen Freund, die neuen Freunde, die ich eventuell mit dem oder denen assoziieren würde (mit seiner oder ihrer Billigung, wohlverstanden), mit dem oder denen ich schon meine Freundschaft geschlossen hätte, in inferiore Positionen zu verbannen. Ich habe den Freimut zu sagen, daß die Rolle der Überzähligen in ihrem Leben mir garnicht bekommen würde. Ich würde mich für erniedrigt, gedemütigt ansehen, wenn ich nicht über ihre tägliche Existenz auf dem Laufenden gehalten würde, auch dann, wenn ich nicht mit ihnen ständigen Verkehr habe; ich würde viel davon halten, über ihre Vorhaben in Kenntnis gesetzt zu werden, konsultiert oder selbst beraten zu werden, damit man zusammen die geplanten Taten zustande bringt, die vereinbart sind, um die Aktivitäten auf neue Wege hin zu orientieren oder um sie auf der bis jetzt durchlaufenen Bahn zu halten. Bin ich oder bin ich nicht die Freundin? Gehöre ich oder gehöre ich nicht zur Familie? Und ist er oder ist er nicht mein Freund? Gehört er oder gehört er nicht zur Familie?

Satellit, Überzahl oder Subalterna sind zu geringe Dinge für mich. Damit ihr es wißt, Apostel der Bevorzugung! Lieber isoliert und allein bleiben.

Und deshalb halte ich es für eine absolute Notwendigkeit (nach einer sehr ernsten Prüfung der Bestrebungen und Nöte der verschiedenen Teilnehmer, und der besonderen Fälle, die sich ergeben könnten), mit minutiöser Sorgfalt die Begriffe der Verständigung festzulegen, die als Assoziationsbasis für die Pluralunion oder die Wahlverwandtschaft dienen sollen. Nachdem einmal dieses Einverständnis festgelegt worden ist, muß jeder Assoziierte guten Willens aushalten und widerstehen können. Andernfalls würde man der Herrschaft, der Willkür, dem Befehl der Laune, der Unterwerfung unter unverdientes Leiden verfallen: kurz, allem, was den ARCHISMUS charakterisiert.

Wenn wir in vergangenen Zeiten von freier Liebe sprachen, meinten wir, Freunde zu finden, die derselben Überzeugung sind und dieselben Ideen haben wie wir, mit denen sich kein berechnendes Interesse gegen diese unsere Realisierung einschleicht, ohne sich um den Bürgermeister oder den Pfarrer, um die familiäre oder gesellschaftliche Billigung zu kümmern. Dies ungeachtet der ökonomischen Situation und der mehr oder weniger unsicheren Zukunft; was vor allem interessierte, war, dahin gelangen zu können, Harmonie herzustellen.

Wir vereinigten uns zufrieden, voller Treue und Vertrauen zu einander, überzeugt, daß die harten Prüfungen und schweren Zeiten gegen unseren Willen nichts ausrichten können, und daß einst, nach den Tagen der Widerwärtigkeiten, wir die große Freude gehabt haben würden, uns als dieselben zu fühlen, die wir am Anfang waren.

Als Pazifisten in der Liebe wie in allein anderen suchen wir in der Harmonie den Frieden. Auf gar keinen Fall wollen wir von Kriegern in der Liebe sprechen. Wir haben ein heiliges Grauen vor Frauen, die sich ihrer Eroberungen rühmen, wie vor Männern, die ein Inventar ihrer Erfolge anlegen. Die einen wie die anderen widern uns an, wie uns die Söldner anwidern, die nicht an die Trümmer denken, die sie dort hinterlassen, wo sie durchkommen, und die diese jeden Tag bei der Invasion in neue Städte vermehren.

Wir ignorieren keineswegs die Vorwände: 'Gefühlen kann man nicht befehlen', 'die Liebe hat nie Gesetze gekannt' etc. , die ihre Herrenmoral, ihr erotischer Imperialismus, ihr Appetit auf sexuelle Beherrschung hervorbringen. Die Ausnutzung von Vorwänden und geläufigen Phrasen ist nicht mehr wert als irgendeine andere Ausnutzung. Wie es auch immer zwischen uns und ihnen sei, es ist ein Abgrund da: der Abgrund, der die Pazifisten und die Eroberer von einander trennt. Nun glaube ich aber fest, daß die Verwirklichung des Friedens im Bereich der Liebe sehr mit der Realisierung des Weltfriedens zusammenhängt. 'L'Unique' stellt die These auf, daß die Freiheit eines jeden sich beschränken muß, wenn diese anderen Leid zuzufügen droht. Ich für mein Teil hätte vorgezogen, daß das mehr eine Frage der Freiheiten (im Plural) als der Freiheit (im Singular) sei. Die 'Freiheit der Liebe' ist nur eine dieser Freiheiten und wie alle anderen ist sie nicht konzipierbar ohne die damit zusammenhängende Verantwortlichkeit. Sagen wir also abschließend, daß, wie alle Freiheiten, ihre Ausübung und der Bereich ihrer Aktivität eingeschränkt werden muß, wenn sie droht, sich in eine Kriegswaffe zu verwandeln: in einen Urheber der Destruktion, in eine Auflöserin der Harmonie."

Vera Livinska

Anmerkung des Verlages:

Das vorstehende ist ein Kapitel aus Armands Hauptwerk "L'Initiation lndividualiste Anarchiste". Da ihm viele grundsätzliche Darlegungen und Begriffserläuterungen vorausgehen, muß der Leser, falls ihm einige der in diesem Kapitel verwendeten Begriffe nicht voll verständlich sein sollten, auf jene Erläuterungen verwiesen werden. Auch die Übersetzung bot einige Schwierigkeiten. Armands Begriff der "camaraderie" hat mit dem deutschen "Kameradschaft" wenig zu tun und die "camarades" konnten mit "Gefährten" nur annähernd richtig übersetzt werden; z.T. klingt der Armand' sche Begriff des "camarade" an den des "Genossen" an, der aber im Deutschen wieder eine spezielle Bedeutung hat.

Die Auswahl gerade dieses Kapitels aus dem Armand-Werk, obwohl es durchaus nicht das wichtigste ist, erfolgte aus zwei Gründen: einmal, weil es die für Armand sehr charakteristische Art und Weise deutlich macht, in der er überhaupt die mit der Herrschaftslosigkeit zusammenhängenden Fragen behandelt. Sodann auch, weil es manche überraschen dürfte, die von "freier Liebe" und "sexueller Freiheit" noch die üblichen primitiven oder unklaren Vorstellungen haben. Armand erweist sich hier als radikaler Befürworter der sexuellen Emanzipation, der die Problematik mit Tiefenschärfe erwogen hat und weiß, wovon er spricht.