Titel: Der Arbeiterkult
AutorIn: Berneri, Camillo
Datum: 1934
Quelle: Entnommen am 15.09.2015 von www.anarchismus.at
Bemerkungen: Übersetzung einer 1934 in Frankreich von italienischen Exilierten publizierten Broschüre „L’operaiolatria“, die 1987 vom Archivio Famiglia Berneri in Pistoia neuaufgelegt wurde. Erschienen in: DIE AKTION 170/174, Juli 1997.

Bei der Lektüre des Buches von Carlo Rosselli[1], Socialisme libéral (Paris 1934) machte ich mir folgende Randnotizen (ich übersetze): „Die pessimistische Beurteilung des Menschen, da die Masse nichts anderes ist als eine Summe konkreter Individuen. Sobald man die Masse für unfähig hält, den Wert eines Kampfes um die Freiheit, wenn auch nur in groben und primitiven Umrissen, zu erfassen, behauptet man damit zugleich, daß der Mensch jeder Regung, die nicht streng utilitärer Natur ist, verschlossen bleibt. Jedwedem Traum einer sozialen Erlösung wird dadurch mit einem Schlag seine Grundlage entzogen. Der Glaube an demokratische Instinkte, der auf der Annahme einer Wesensübereinstimmung der Menschen untereinander und auf einem vernunftgemäßen Optimismus bezüglich der menschlichen Natur beruht, wird so ohne weiteres erstickt.“ Ich habe niemals, ohne dagegen Einspruch zu erheben, die Nietzsche abgekupferte Haltung einiger Individualisten toleriert, deren Bestimmung es schließlich gewesen ist, als Sekretäre der Arbeitskammer oder auf einem noch schlimmeren Posten zu enden, genausowenig habe ich einem „fortschrittlichen und bewußten“ Proletariat die Schuhe geputzt, nicht einmal auf einer Propagandaveranstaltung. Der einschmeichlerischen Rede bolschewistischer Bonzen konnte ich noch nie etwas abgewinnen.

In einem Artikel der Azione antifascista vom Juni 1933 lese ich – und ich führe hier unter tausend möglichen Beispielen nur ein einziges an -, dass Gramsci von proletarischem Geist beseelt ist. Wo habe ich diesen Ausdruck schon einmal gehört? Ich muß in meinem Gedächtnis kramen. Ja, genau. Das war in Le Pecq, wo mich einmal im Habit und im Schweiße eines Maurergehilfen ein „Verantwortlicher“ der Kommunisten überrascht hat. „Jetzt kannst du mal am eigenen Leib den proletarischen Geist verspüren, Berneri!“ redete mich dieser an. Zwischen einem Sieb Sand und zwei Eimern fettem Mörtel dachte ich über den proletarischen Geist nach. Und wie so oft bei der Klärung eines Problems stiegen mir die im Gedächtnis meines Herzens vergrabenen Erinnerungen auf. Die ersten Begegnungen mit dem Proletariat: dort suchte ich nach dem Rohmaterial für eine Definition. Den proletarischen Geist fand ich hier aber nicht vor. Ich fand statt dessen meine früheren Genossen wieder: die Jungsozialisten von Reggio Emilia und Umgebung. Darunter waren großherzige, offene und willensstarke Geister. Danach lernte ich die Anarchisten kennen. Torquato Gobbi war mir ein Lehrer, an den dunstverhangenen Abenden entlang der via Emilia unter den Gängen, die von meinen Bemühungen widerhallten, seiner besonnenen Dialektik standzuhalten. Er war Buchbinder und ich war Pennäler, noch ein Muttersöhnchen und folglich, was diese große und wahre Universität anbelangt, die das Leben ist, noch völlig unbeleckt. Und wieviele Arbeiter sind mir nicht nachher noch im Alltag begegnet? Fand ich auch in manch einem den Funken, der dann in meinem Denken zündete oder ich mochte an ihm eine Wahlverwandtschaft entdecken – manch anderen öffnete ich mich sogar in brüderlicher Vertrautheit – so ließen mich doch auch viele kalt. Wieviele ärgerten mich nicht mit ihrem hohlen Dünkel, wieviele widerten mich nicht mit ihrem Zynismus an! Das Proletariat waren für mich „die Leute“: das Kleinbürgertum, in dem ich aufgewachsen bin und die Masse der Studenten, unter denen ich lebte, kurz, die Menge. Meine Freunde sowie meine Genossen unter den Arbeitern, die intelligentesten und spontansten unter ihnen, sprachen mir nie von einem „proletarischen Geist“. Gerade von ihnen erfuhr ich, wie langwierig der Fortschritt in der sozialistischen Propaganda und Organisierung vonstatten ging. Als ich dann selbst in die Propaganda und in die Organisation eintrat, sah ich das Proletariat, das ich in seiner Gesamtheit für eine ungeheure Kraft hielt, die sich ihrer selbst nicht bewußt ist – und dafür halte ich es auch heute noch -; eine Kraft, die unklugerweise nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist, die sich nur sehr schwer für ideale Motive und mittelbare Ziele schlägt und die voller endloser Vorurteile, grober Unwissenheit und kindlicher Illusionen steckt. Als Aufgabe kommt es m.E. den élites eindeutig zu, daß sie den Massen ein Beispiel sind an Wagemut, Opfergeist und Ausdauer; daß sie die Massen an ihren eigenen Wert erinnern, an die politische Unterdrückung, an die wirtschaftliche Ausbeutung, aber auch an die moralische und intellektuelle Minderwertigkeit der Mehrheiten.

Ich erachte es wirklich als ein Zeugnis für schlechten Geschmack und halte es obendrein für schädlich, Bourgeoisie und Proletariat in der demagogischen Grobschlächtigkeit von Hintertreppenkarikaturen aus dem Repertoire des Avanti! oder irgendwelcher „Veranstaltungsredner“ darzustellen zu wollen. Es ist leider immer noch eine fürchterlich plumpe sozialistische Rhetorik in Gebrauch, und die Kommunisten haben mehr als jede andere Avantgardepartei ihren Anteil daran, daß sie auch weiterhin Bestand haben wird. Noch nicht zufrieden mit dem „proletarischen Geist“, haben sie noch zusätzlich die „proletarische Kultur“ ins Spiel gebracht. Als Lunatscharski starb, ging in gewissen kommunistischen Zeitungen die Rede, er hätte die „proletarische Kultur“ verkörpert. Wie ein gebildeter und ziemlich eitler Schriftsteller bürgerlicher Herkunft (und Bildung ist bekanntlich der Kapitalismus der Kultur) wie Lunatscharski die proletarische Kultur repräsentieren kann, ist ein Geheimnis, das dem der „marxistischen Gynäkologie“ gleichkommt, jenem Begriff, an dem sogar Stalin Anstoß genommen hat. Le Réveil aus Genf, sich gegen den Mißbrauch verwahrend, der mit dem Ausdruck „proletarische Kultur“ betrieben wird, machte folgende Beobachtung: „Der Proletarier ist, per definitionem und sehr oft auch in Wahrheit, ein unwissender Mensch, dessen Kultur notgedrungen sehr beschränkt ist. Die Vergangenheit hat uns auf allen Gebieten unschätzbare Werte vermacht, die nicht dieser oder jener Klasse zugeschrieben werden können. Der Prolet fordert zunächst eine größere Beteiligung an der Kultur als einem Teil jener Reichtümer, die er nicht länger entbehren will. Die bürgerlichen Gelehrten, Schriftsteller und Künstler haben uns Werke von emanzipatorischem Gehalt überliefert; die angeblich proletarischen Intellektuellen tischen uns dagegen zumeist unverdauliche Gerichte auf“.

Eine proletarische Kultur besteht durchaus, doch sie beschränkt sich auf Fachkenntnisse und auf oberflächliches, aus den Bruchstücken unsystematischer Lektüre zusammengeschustertes lexikalisches Wissen. Ein typisches Merkmal proletarischer Kultur ist ihr Rückstand gegenüber dem Fortschritt der Wissenschaft und der Kunst. Unter den „Autodidakten“ lassen sich sehr wohl fanatische Anhänger von Haeckels Monismus, Büchners Materialismus und sogar des klassischen Spiritualismus (Berkeley, Leibniz d. Ü.) finden, doch kaum ein wirklich gebildeter Mensch. Jede nur denkbare Theorie beginnt sogleich populär zu werden und in der proletarischen Kultur Anklang zu finden, sobald sie nur verschwenderisch genug ausgestattet ist. Wie die volkstümliche Romanze voller Fürsten, Marchesi und Salonempfänge zu sein hat, so ist auch ein Buch dann am gefragtesten und es wird gerade dann von den Autodidakten verschlungen, je verworrener und unausgegorener es ist. Viele von ihnen haben niemals die Eroberung des Brotes oder den Dialog Unter Bauern gelesen, dafür aber Die Welt als Wille und Vorstellung und Die Kritik der reinen Vernunft. Ein gebildeter Mensch, der sich beispielsweise mit Naturwissenschaften befaßt und über keinerlei Kenntnisse der Höheren Mathematik verfügt, wird sich davor hüten, Einstein zu beurteilen. Ein Autodidakt ist dagegen beim Fällen von Urteilen sehr wagemutig. Er wird von Tizio sagen, daß der nur ein „geringer Philosoph“, von Cairo, daß der ein „großer Gelehrter“ gewesen und von Sempronio, daß der die Umkehrung der Praxis genausowenig begriffen habe wie die Noumena und die Hypostase. Gewöhnlich bedient sich nämlich der Autodidakt mit Vorliebe einer komplizierten Redeweise.

Eine Zeitschrift zu gründen, geschweige denn ein wöchentlich erscheinendes Blatt, davor schreckt der Halbgebildete keineswegs zurück. Er wird darin über die Sklaverei in Ägypten schreiben, über Solarmaschinen, den „Atheismus“ des Giordano Bruno, die „Beweise“ für die Nichtexistenz Gottes oder Hegels Dialektik, aber er wird darin kein Sterbenswort über seine Fabrik, sein Leben als Arbeiter oder über seine Berufserfahrungen verlauten lassen.

Sobald er sich eine wahre Bildung verschafft hat, sofern er also über Begabung und Willen verfügt, hört der Autodidakt für gewöhnlich auf, einer zu sein. Aber dann ist seine Kultur auch nicht mehr die eines Arbeiters. Ein gebildeter Arbeiter, wie Rudolf Rocker, ist einem Schwarzen vergleichbar, der als Kind nach Europa gebracht worden und in einer gebildeten Familie oder in einem Internat aufgewachsen ist. In so einem Fall zählen weder Herkunft noch Hautfarbe. In Rocker würde niemand den ehemaligen Sattler vermuten, während ein Grave, als Vulgarisierer Kropotkins, immer an den einstigen Schuster denken läßt. Die sogenannte „Arbeiterkultur“ ist, um es kurz zu machen, eine parasitäre Symbiose zur echten Kultur, die noch bürgerlich oder kleinbürgerlich geprägt ist. Eher geht aus dem Proletariat ein Titta Ruffo oder ein Mussolini hervor als ein Gelehrter oder ein Philosoph. Und das nicht, weil Begabung das Monopol einer Klasse ist, sondern weil neunundneunzig Prozent der Proletarier ab der Grundschule an durch ein Leben in Arbeit und Abstumpfung systematisch der Zugang zur Kultur verweigert wird. Am meisten berechtigt im Forderungskanon der Sozialisten sind daher Unterricht und Bildung für alle. Und die kommunistische Gesellschaft wird künftig für urwüchsige élites sorgen, doch heute ist es nur grotesk etwa von einer „proletarischen Kultur“ des Philologen Gramsci zu sprechen oder vom „proletarischen Geist“ des Bourgeois Terracini. Die sozialistische Lehre ist eine Schöpfung bürgerlicher Intellektueller. Wie De Man in Au de là du marxisme festgestellt hat, ist sie „weniger eine proletarische Doktrin als eine Doktrin für das Proletariat“. Die hauptsächlichen Agitatoren und Theoretiker des Anarchismus kamen wie Godwin, Bakunin, Kropotkin, Cafiero, Mella, Faure, Covelli, Malatesta, Fabbri, Galleani, Gori und Voltairine de Cleyre aus dem aristokratischen und bürgerlichen Milieu, um ins Volk zu gehen. Von allen anarchistischen Schriftstellern ist Proudhon, der proletarischer Herkunft ist, am meisten von kleinbürgerlichen Denkweisen und Ressentiments beeinflußt gewesen. Und gerade der Schuhmacher Grave ist dem bürgerlichsten demokratischen Chauvinismus verfallen. Während wiederum aus der Arbeiterschaft stammende Organisatoren wie Rossoni und Meledandri dem Syndikalismus unbestritten die im Verhältnis größere Anzahl Anhänger verschafft haben.

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Die russischen Volkstümler und die Lehre von Sorel sind zwei Ausprägungen eines romantisch verklärten Arbeiterkults, der in der bolschewistischen Demagogie seine formelle Fortsetzung gefunden hat. Im Vergleich zu den meisten Schriftstellern hat Gorki noch die längste Zeit sehr intensiv im Proletariat gelebt, und er schreibt: „Immer dann, wenn sie (die Propagandisten) vom Volk sprachen, merkte ich sofort, daß sie es mit ganz anderen Augen betrachteten als ich dies tat. Das überraschte mich und ließ mich an mir selbst zweifeln. Das Volk verkörperte für diese Leute Weisheit, Schöngeistigkeit und Warmherzigkeit. Es war für sie ein einzigartiges, geradezu göttliches Wesen, das im Besitz von nahezu allem stand, das wahr, gut und schön ist. Das war wahrlich nicht das Volk wie ich es kannte.“

Arturo Labriola, aus dessen Schrift Al di là del capitalismo e del socialismo (Paris 1931) ich obiges Zitat entnommen habe, knüpft daran die folgenden Erinnerungen: „Ich kann dem wohl meine eigenen Erfahrungen hinzufügen, bin ich doch in eine Schicht von Kunsthandwerkern hineingeboren, die in unmittelbarem Kontakt mit den materiell arbeitenden Klassen standen und auch selbst dem Proletariat angehörten. Die Arbeiter, die ich seit meinen ersten Lebensjahren kennengelernt habe, waren alle insgesamt bedauernswerte, naive und leichtgläubige Menschen, die zum Aberglauben neigen, dem materiellen Leben zugeneigt sind, mit ihren Kindern liebevoll und nachlässig zugleich umgehen und die obendrein unfähig sind, in ihrem Arbeitsleben nur einen einzigen Gedanken zu fassen, der vielleicht ihrer eigenen Klassenlage gewidmet sein mag. Diejenigen unter ihnen, die sich vom Aberglauben und den Vorurteilen ihrer Schicht freigemacht haben und zum Sozialismus gelangt sind, sehen in ihm nichts anderes als den materiellen Aspekt einer Bewegung, deren Aufgabe darin besteht, ihr Schicksal zu verbessern. Und sie erwarten diese Verbesserung selbstverständlich von ihren Führern, die ohne eigenes Dazutun, je nach dem Augenblick oder der Gelegenheit, wahllos zu Idolen oder zu Verrätern an der Sache gemacht werden. Fraglos würde der Sozialismus ihre Lage in jeder Hinsicht verbessern, und ich bin versucht zu sagen, daß bei mir der erste Antrieb, dieser Bewegung beizutreten, aus einer Regung des Mitleids angesichts des Elends der Armseligen hervorgegangen ist sowie aus der Erkenntnis des Nutzens, den sie für sich selbst aus der Bewegung zogen“.

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Malatesta sah das Proletariat selbst nicht durch die rosa gefärbten Brillengläser eines Kropotkin, und Luigi Fabbri schrieb in einem sich auf die aufständische Nachkriegsepoche beziehenden Artikel: „Unter den armen, einfachen Leuten, unter den Arbeitern, glauben viele allen Ernstes, daß eines Tages der Zeitpunkt gekommen sein wird, an dem sie selber nicht mehr und an ihrer Stelle nur noch die Herren arbeiten werden“. Wer immer die Geschichte der Arbeiterbewegung zurückverfolgt, wird darin eine durchaus erklärbare, aber immerhin so große moralische Unreife bemerken, daß sie gleich alle schwärmerisch veranlagten, von den Massen Begeisterten aufs deutlichste Lügen straft.

Das Spielchen, die avantgardistischen Zirkel und Arbeitereliten „Proletariat“ zu taufen, taugt gerade für ein Bühnenstück. Die demagogischen Allegorien schmeicheln zwar der Menge, verdecken aber die grundlegendsten Tatsachen für eine wirkliche Emanzipation. Eine „Arbeiterkultur“, eine „proletatrische Gesellschaft“, eine „Diktatur des Proletariats“, das sind wahrlich Ausdrücke, die verschwinden sollten. Es gibt kein „Arbeiterbewußtsein“ als psychischen Wesenszug, der für eine ganze Klasse typisch sein soll. Es gibt keinen radikalen Gegensatz zwischen einem „Arbeiter-“ und einem „Bürgerbewußtsein“. Die Griechen haben nicht, wie Renan behauptet hat, für den Ruhm gekämpft. Und genausowenig schlägt sich das Proletariat, wie Sorel in seinen Réflexions sur la violence nicht müde wird, zu betonen, für die Empfindung des Erhabenen.

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Der ideale Arbeiter des Marxismus oder Sozialismus ist eine mythische Figur. Er entstammt Metaphysik des sozialistischen Romantizismus und ist geschichtlich nicht belegt. In Australien und in den Vereinigten Staaten sind es gerade die Arbeiterunions, die eine restriktive Einwanderungspolitik verlangen. Zur Emanzipation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten hat das amerikanische Proletariat kaum etwas beigetragen (S. Mary R. Béard, A short history of the american labour movement, New York, 1928), und die farbigen Arbeiter haben auch heute noch zu den meisten amerikanischen Gewerkschaften keinen Zutritt... Die Boykottbewegungen (gegen die faschistischen Diktaturen, gegen die Schrecken der Kolonialherrschaft) sind rar und haben keinen Erfolg. Und noch seltener sind Streiks aus Klassensolidarität oder zur Verfolgung politischer Ziele.

Durch solch utilitaristisches Wesen, durch solche Beschränktheit und allgemeine Tatenlosigkeit zeichnet sich besonders das Industrieproletariat aus.

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Sooft ich das Industrieproletariat als die revolutionäre und kommunistische Elite preisen höre oder davon lese, ruft mir das persönliche Erfahrungen und psychologische Beobachtungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, in Erinnerung. Ich bin zu dem Schluß gekommen, in den Verfechtern dieses Mythos oder dieser Schwärmerei „Provinzler“ zu sehen, die eben erst in einem großen Industriezentrum verstädtert worden sind. In den meisten anderen Fällen handelt es sich wohl mehr um eine Art professionelle Begeisterung. Sooft ich Ordine Nuovo las, vor allem anfangs, als die Zeitschrift regelmäßig erschien, konnte ich mich der Beeinflussung durch die darin ständig wiederholte Verherrlichung der großen Industrie als Bildnerin der Klassenhomogenität, der kommunistischen Reife der Fabrikarbeiter usf. nur durch Erwägungen psychologischer Art entziehen.

Ich stellte mir etwa Gramsci vor, den es gerade aus seinem heimatlichen Sardinien nach Turin verschlagen hat und der vom betriebsamen Räderwerk dieser Metropole völlig eingenommen ist. Die großen Kundgebungen, die Konzentration an Facharbeitern, das fieberhafte Ausmaß des Gewerkschaftslebens mußten ihn – so sagte ich mir – in Bann geschlagen haben. Das russische bolschewistische Schrifttum scheint mir ein Gradmesser für denselben psychischen Prozeß zu sein. In einem Land wie Rußland, in dem die ländlichen Massen enorm rückständig waren, mußten Moskau, Petersburg und die anderen Industriezentren wie Oasen der kommunistischen Revolution anmuten. Die Bolschewisten mußten so, vom marxistischen Industrialismus verleitet, zwangsläufig von der Fabrik fasziniert sein, geradeso wie die russischen Revolutionäre zu Bakunins Zeit, von der westlichen Kultur hingerissen, in Schwärmerei verfielen. Das Auftreten der Industriemystik in den Reihen von Ordine Nuovo kam mir deshalb wie eine Reaktion vor, die sich durchaus mit dem Phänomen des Futurismus vergleichen läßt. Ein weiterer Aspekt, der mir einiges zu erklären schien, ergibt sich aus der natürlichen Neigung, mit der alle Techniker in der Industrie ausgestattet sind – und die ihre Entsprechung in allen Bereichen der Spezialisierung findet -, nämlich im Bestehen einer „Industrie“ das Alpha und das Omega des menschlichen Fortschritts zu sehen. Daß gerade die Ingenieure unter den leitenden Elementen der Kommunistischen Partei so zahlreich vertreten waren, schien mir gerade in dieser Hinsicht sehr bezeichnend zu sein.

Typisch dafür ist etwa der Fall eines A. Chiodini, der in der Februarnummer der Problemi della rivoluzione italiana von 1933, die ländliche und süditalienische Ausrichtung des Programms von „Giustizia e Libertà“ kritisierend, verkündet: „Das Industrieproletariat ist in der Gesellschaft die einzig objektiv revolutionäre Kraft. Denn nur das Proletariat ist dazu imstande und verfügt auch über die Möglichkeiten, sich von jeder geschlossenen Berufsgruppenmentalität zu befreien und sich in Würde zu einer Klasse zu erheben, also zu einer kollektiven Kraft, die sich bewußt ist, daß sie eine historische Aufgabe zu erfüllen hat. Die italienische Revolution kann, wie alle anderen auch, allein das Werk homogener Kräfte sein, die fähig sind, sich für großzügige Ideale einzusetzen. Heute ist die einzige homogene Kraft, die sich für das Ideal konkreter Freiheit schlagen kann und die in diesem Kampf zu einer langwierigen Aktion von unbestimmter Dauer gerüstet ist, die Kraft der Arbeiterschaft. Sie kann heute, nach so vielen Proben und Tragödien, ihre Anwartschaft als führende revolutionäre Klasse geltend machen“.

Daß nun das Industrieproletariat nach kommunistischem Verständnis eine der hauptsächlichsten revolutionären Kräfte ist, ist so offensichtlich, daß hier nicht weiter darüber diskutiert werden braucht. Entsprechend klar ist aber auch, daß die Homogenität dieses Proletariats mehr in der Natur der Sache selbst als in einem entsprechenden Geist begründet ist. Das heißt, sie verdankt sich mehr dem Umstand der Zusammenballung einzelner, die in ihrer überwiegenden Zahl lohnabhängig sind und deren Unterschiede wohl aktuell wie in absehbarer Zeit nicht ins Gewicht fallen. Dazu kommt, daß diese einzelnen zusammen in Beziehung zu einem seiner Natur nach unteilbaren Besitzverhältnis stehen (das daher notwendigerweise das Kapital einer unabdingbar assoziierten Arbeit werden muß). Ihre Homogenität verdankt sich daher weniger einem Klassenbewußtsein, also dem Bewußtsein einer kollektiven Kraft, die dazu ausersehen wäre, eine in ihren Ausmaßen überwältigende historische Aufgabe zu erfüllen.

Der Partikularismus unter den Arbeitern der Industrie tritt zu offen zutage, als daß man sich wie so mancher Marxist oder so mancher in Marxschen Kategorien Befangene zu oberflächlichen und verallgemeinernden Überschwenglichkeiten hinreißen ließe. In den Vereinigten Staaten hat der korporative Egoismus zu einer richtiggehend xenophoben Politik geführt, und als hartnäckigste Verfechter eines von der Regierung abverlangten Einwanderungsstops für Arbeiter haben sich die ausgeprägten industriellen Vereinigungen erwiesen. Das gleiche gilt für Neuseeland. Doch beschränken wir uns auf Italien. Dort sind die Industriearbeiter schon immer für den industriellen Protektionismus eingetreten. Das Buch von G. Salvemini Tendenze vecchie e necessità nuove del movimento operaio italiano (Bologna 1922) ist dafür voller Beispiele. Ich wähle davon einige m.E. besonders einschlägige aus.

1914 wurden die damals 4.500 Köpfe zählenden Arbeiter in der Zuckerindustrie, einer sehr kleinen Branche, von den Reformsozialisten protegiert, indem sie von der Regierung eine Einfuhrbesteuerung des Zuckers forderten, ohne sich in der Folge groß um den durch die Verteuerung des Rohstoffs verursachten Schaden für die Industrie zu scheren. Gerade diese Forderung geriet aber zum Nachteil aller italienischen Verbraucher, die dadurch gezwungen waren, nicht allein für den Zucker einen Höchstpreis zu bezahlen, sondern obendrein auch für alles Zuckerwerk und Marmeladen. Nicht genug, es wurde dadurch auch der interne Konsum dieser Waren eingeschränkt und, deren Ausfuhr erschwert und damit die Arbeit in diesen Industrien zum Rückgang gebracht. Die Arbeiter in den Zuckerraffinerien hätten demnach also, auch im Interesse der Allgemeinheit, entweder eine Protektion beider Industrien oder aber freie Handelsbedingungen für den Zucker einfordern müssen und wären dann vielleicht vom Aufschwung in der Konfektüren – und Marmeladenherstellung absorbiert worden. Doch wie kann man verlangen, daß die Arbeiter der Zuckerfabriken mit ihrem „hohen, im Vergleich zu den anderen Branchen unerhörten Lohneinkommen“ (Avanti!, 10.März 1910) ihre privilegierte Position einfach so aufgeben sollten?

Ein weiteres Beispiel. Vor dem Krieg waren in Italien 37 Braunkohlegruben in Betrieb, die 1913 siebenhundertausend Tonnen an Brennstoff lieferten. Da während des Krieges für ausländische Kohle sehr hohe Preise verlangt wurden, lag es nahe, auch wenig ertragreiche Braunkohlevorkommen auszubeuten. Die Anzahl der Gruben stieg zwar auf 137, doch die Ausbeute überstieg keine 4oo tausend Tonnen, von denen sogar ein Teil auf einen gesteigerten Ertrag aus den alten Minen zurückzuführen war. Als der Krieg zuende war, fiel der Preis der Auslandskohle, die Braunkohlenachfrage ließ nach, so daß die 37 Gruben wieder den Bedarf zur Genüge decken konnten.

Die zusätzlich eingestellten Kumpel, zum überwiegenden Teil Bauern aus den umliegenden Dörfern, sahen sich von Entlassungen und Lohnkürzungen bedroht. Die Unruhe war groß. Keine Entlassungen! stand auf der Tagesordnung. Und ein sozialistischer Abgeordneter, Präsident eines genossenschaftlichen Grubenkonsortiums, appellierte an die Regierung, die Braunkohleproduktion auf dem Stand der Kriegszeit zu halten, ja sogar den Jahresertrag auf 4millionen Tonnen zu steigern. Er forderte, daß die Verwaltung der Eisenbahn eine bestimmte Anzahl Lokomotiven für den Braunkohleverbrauch umrüsten lasse und daß die Heizer zur Kompensation ihres durch die Braunkohle bedingten erhöhten Arbeitsaufwands in allen Dienststellen der öffentlichen Verwaltung besser bezahlt werden sollten. Per Gesetz sollte die Braunkohle in allen Haushalten, wo sie problemlos die Steinkohle ersetzen könnte, geheizt werden, und alle Betriebe, die Kraftwerke auf Braunkohlebasis entwickelten, sollten vom Staat finanziert und von der Besteuerung ihrer im Krieg erzielten Mehrprofite befreit werden. Der sozialistische Abgeordnete verlangte somit, daß Millionen nur dafür ausgegeben würden, einigen hundert Bergleuten Arbeit zu verschaffen, von denen die meisten doch bloß zu ihrer Feldarbeit zurückzukehren brauchten. Diese Bergleute hätten also mit ihren schweren Pickeln hart dafür geschuftet, die Millionen des italienischen Pantalone[2] zu verschleudern!

Man muß hervorheben, daß die Bergarbeiterunruhen im Kohlebecken von Valdarno von Organisatoren der Unione Sindacale Italiana angeleitet worden sind. Der oben erwähnte Fall ist deswegen doppelt interessant. Er ist eine gründliche Betrachtung wert, weil er eine von den in den Gewerkschaftsverbänden tätigen Anarchisten bislang vernachlässigte Seite (den Protektionismus) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und weil er uns eine Ahnung davon gibt, mit welcher Art von Problemen wir in einer revolutionären Situation konfrontiert sein werden (nämlich mit der Neigung einzelner Berufsgruppen, aus der Sicht der nationalen Wirtschaft nicht rentable Betriebe am Leben erhalten zu wollen). Was war, angesichts der Kumpanei zwischen Sozialisten und Unternehmern, die Haltung der Anarchisten in den Reihen der Confederazione Generale del Lavoro und der Unione Sindacale Italiana? Was war die Haltung der in der F.I.O.M. organisierten Anarchisten, als die Führer dieser Gewerkschaft die Interessen der 30.000 Beschäftigten in den Eisenhütten, die im Schatten der Schutzzölle und staatlicher Subventionen existieren, den Interessen der 270 tausend in der weiterverarbeitenden Eisenindustrie (Metall- und Werkzeugindustrie) beschäftigten Arbeiter vorgezogen hat, die ihrerseits aus einem preiswert zur Verfügung stehenden Rohstoff nur Vorteile ziehen würden? Mir scheint, daß die an den Arbeiterorganisationen mitwirkenden Anarchisten keine klare Vorstellung über ihre erzieherische Aufgabe haben. Eine klassenerzieherische Maßnahme hätte darin bestanden, daran zu erinnern, daß die Millionen, die zur Unterstützung parasitärer Betriebe aufgewandt werden, zum größten Teil wiederum der Mehrheit der in Italien Werktätigen entwendet wird. Die Anarchisten haben sich von den Sozialisten von ihrem Weg abbringen lassen, die aus demagogischen Gründen der berechtigten und schönen Intransigenz aus den Zeiten entsagt haben, da das Schielen nach Wählerstimmen, das Bonzentum und die Kumpanei mit der Bourgeoisie noch nicht obsiegt hatten. Den ligurischen Industriellen, die damals dreitausend Arbeiter entlassen hatten und die damit drohten, binnen eines Monats weitere zwanzigtausend zu entlassen, wenn die Regierung nicht davon abließe, die Prämien für die Handelsmarine zu senken, antwortete der Avanti!, der seinerzeit von dem Reformisten Leonida Bissolati geleitet wurde: „Die Arbeiter wissen, daß die Millionen, die zur Subventionierung der Schiffsindustrie aufgewandt wurden, überwiegend der Mehrheit aller werktätigen Italiener abgenötigt worden sind, und sie weigern sich deshalb, ein Verlangen auszusprechen, das einen Zustand verlängern würde, in dem das Brot der Arbeiter in einem Teil Italiens mit dem Hunger der Werktätigen im übrigen Land bezahlt wird“ (Avanti!, 24.Januar 1901).

Wie weit die Kumpanei zwischen Arbeiterbewegung und Unternehmertum in den Industriezentren bereits gediehen ist, beweist der Umstand, dass sogenannte revolutionäre Elemente sogar Unruhen angezettelt haben, um von der Regierung Aufträge für die Kriegsindustrie zu erhalten. Salvemini schrieb darüber in der Unità vom 11. Juli 1913: „Die Arbeitskammer von La Spezia, die von Syndikalisten, Republikanern und revolutionären Sozialisten verwaltet wird, hat einen Generalstreik angekündigt.

 

  • Um gegen die Ermordung irgendeines Arbeiters zu protestieren? – Nein!

  • Um gegen ein ungerechtes Urteil der Klassenjustiz zu protestieren? – Nein!

  • Aus Solidarität mit irgendeiner Gruppe streikender Arbeiter? – Nein!

  • Um etwas gegen die illegale Maßnahme politischer oder administrativer Autoritäten zu unternehmen? – Nein!

  • Warum dann? – Um gegen die Regierung zu protestieren, die damit droht, der Werft von La Spezia die Ausstattung des Panzerkreuzers „Andrea Doria“ zu entziehen (...).

Merkwürdigerweise stand eine Kooperative an der Spitze dieser revolutionären Protestbewegung, nämlich die Genossenschaft der Metallarbeiter (Giornale d’Italia, 24.April). Obendrein ist es merkwürdig, daß die Agitation von Spezia zur selben Zeit vonstatten ging, da der Aufsichtsrat des Hauses Ansaldo in seinem Jahresbericht darüber klagt, nicht genug Aufträge zu haben. Gleichzeitig richten die Arbeiter der Orlandowerft in Livorno Demonstrationen aus, auf denen verlangt wird, daß der Staat der Orlandowerft Arbeit zuschanzt (Avanti!, 14.Mai 1913). Und die Abgeordneten aus Neapel pilgern zu Giolitti, um „neue Bestellungen“ an die napolitanischen Fabriken „für Lafetten, Kanonen, Zünder und Geschosse“ zu verlangen, „damit es zu keinen neuen Entlassungen bei den Metallarbeitern kommt“ (Corriere della Sera, 24.Mai). Und die klerikal-moderat-nationalistischen Zeitungen greifen die Kampagne auf und schieben sie an, damit die Regierung in den Werften vier neue, große Panzerkreuzer bauen läßt.“

Während der Roten Woche verhielten sich die Industriezentren ruhig, und während der interventionistischen Umtriebe blieben die Industriezentren bei den Antikriegskundgebungen hinter den Aktivitäten auf dem Land zurück. In der bewegten Zeit der Nachkriegsjahre reagierten die Industriezentren am langsamsten. Gegen den Faschismus erhob sich kein Industriezentrum so wie dies Parma, Florenz oder Ancona taten, und die Masse der Arbeiter hat auch kein derartig kollektives Beispiel an Beharrlichkeit und Opfermut gegeben, das es mit der Episode von Molinella aufnehmen würde.

Die Landarbeiterstreiks bei Modena und Parma bleiben in der Geschichtsschreibung des Klassenkriegs in Italien die einzig epischen Blätter. Und die meisten großartigen Gestalten selbstloser Arbeiterorganisatoren haben wir Apulien zu verdanken. Doch das alles ist unbekannt. Man schreibt und spricht über die Fabrikbesetzungen, doch die viel größeren und bedeutenderen Landbesetzungen sind weitgehend vergessen. Man verherrlicht das Industrieproletariat, doch weiß jeder von uns, der in einer überwiegend ländlichen Gegend gelebt und gekämpft hat, daß das Land immer schon die politische Agitation der Avantgarde in den Städten gespeist und, insbesondere auf gewerkschaftlichem Terrain, eine selbstlose Kampfbereitschaft unter Beweis gestellt hat.

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Es ist leicht vorherzusehen: es wird sich ein Bonze finden, der schreibt, daß ich keinen „proletarischen Geist“ habe, und es wird Leser geben, die nur soviel verstehen wollen, daß ich versucht habe, das Proletariat herabzusetzen. An meiner Stelle wird ihnen ein Echo antworten: der lebhafte Applaus, mit dem in den Werften und Kriegswerkstätten die Ankündigung für den Bau eines Unterseeboots oder eines neuen Kanonengusses begrüßt wird. An meiner Stelle wird die kommunistische Taktik antworten, die dazu rät, innerhalb der Verbände für ökonomische Forderungen einzutreten. Vor allem wird an meiner Stelle die Resignation des italienischen Proletariats antworten. Darauf zu warten, daß das Volk aufwacht, von der Massenaktion zu reden und den antifaschistischen Kampf auf das Heranziehen und die Erhaltung von Partei – und Gewerkschaftskadern zu beschränken, statt alle Mittel und Willensanstrengung auf die revolutionäre Aktion zu konzentrieren, die als einzige dazu imstande ist, die Atmosphäre moralischer Feigheit aufzulösen, in der das italienische Proletariat zur Gänze versumpft, das ist feig und billig, das ist Idiotie und Verrat.

 

[1] Carlo Rosselli, Gründer von Giustizia e libertà, einer antifaschistischen Exilorganisation, einer der ersten Freiwilligen im Spanienkrieg, zusammen mit seinem Bruder Nello am 11.Juni 1937 in Bagnolles-sur-Orne durch französische Killer im Sold der Faschisten ermordet.

[2] Pantalone, Figur der Commedia dell’arte.