Bloss ein Wunschtraum?

      Die Revolte

      Der soziale Konflikt

      Eine andere Auffassung von Stärke

      Selbstverwaltung

      Aufstand

Es gibt offensichtlich zahlreiche Menschen, die mit den bestehenden Verhältnissen überhaupt kein Problem zu haben scheinen. Sei es, weil sie sich auf der profitierenden Seite davon befinden, oder schlicht, weil sie sich mit jener unterwürfigen und sich allem anpassenden Mentalität durchs Leben schlagen, die von der heutigen Wirtschaft überall eingeflöst wird. Wie auch immer, dies sind nicht die Menschen, an die ich mich hier wenden will. Ich möchte mich, mit diesem Artikel, an jene Menschen richten, denen ich trotz allem immer wieder begegne, und in deren Herzen noch ein Verlangen nach Freiheit pulsiert.

Wie ich in Diskussionen und Gesprächen immer wieder feststelle, scheinen die Ideen von Freiheit, die wir als Anarchisten verfechten, im Grunde von nicht wenigen Menschen geteilt zu werden – zumindest theoretisch, als Ideen, als Wunschtraum… Schliesslich sind die Probleme, von denen wir sprechen, Probleme, die viele aus ihrem eigenen Alltag kennen. Die Ablehnung, die wir für so viele Aspekte der heutigen Gesellschaft empfinden, ist eine Ablehnung, die im Innern vieler brütet. Denn, wer mag es schon, seinen Willen und seine Würde irgendeiner Autorität zu unterwerfen? Wer mag es schon, von Chefs, Beamten und Polizisten herumbefehligt zu werden? Aufgrund jedes „falschen“ Schrittes nach Gesetzen von anderen bestraft und eingesperrt werden zu können? Sich mit dem Staat und seiner Bürokratie herumschlagen zu müssen, die sich überall in unser Leben einmischen? Wer mag es schon, sich verkaufen zu müssen, um überleben zu können? Seine Fähigkeiten von irgendeinem Bonzen ausbeuten lassen zu müssen, der sich an unserer Anstrengung bereichert? Schliesslich: Wer mag es schon, in einer Welt zu leben, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht? Wer würde nicht lieber in einer Welt der Solidarität und der Freiheit leben?

Und doch, die Argumente, womit sich die Menschen diesen Umständen fügen, scheinen grenzenlos in ihrer Vielfältigkeit. Nun, auf Argumente, die behaupten, diese Umstände nicht als Unterdrückung oder Unfreiheit zu empfinden, werde ich hier nicht eingehen. Wer dies nicht so empfindet, hat selbstverständlich auch wenig Grund, dagegen zu kämpfen (aber auch nicht das Recht, andere davon abzuhalten, die dies so empfinden). Auch Argumente, die behaupten, dass diese Dinge, wenn auch unangenehm, nun mal notwendig sind, da das Autoritätsprinzip in der unveränderlichen Natur des Menschen liegt, werde ich hier beiseite lassen. Eine Behauptung, die, wenn auch nicht hier, durchaus an anderer Stelle eine kritische Vertiefung verdient.

Ich werde in diesem Artikel von der Feststellung ausgehen, die ich, wie viele andere, von dieser Realität machen: dass dies ganz gewiss nicht die Freiheit ist, dass die Freiheit etwas völlig anderes sein muss. Und ich richte mich somit an jene, die diese Feststellung teilen.

Ich gehe ausserdem von der Überzeugung aus, dass die Freiheit, die demnach jenseits des Bestehenden liegen muss, dennoch erreichbar, realisierbar, erkämpfbar ist. Eine Überzeugung, die, während erstere Feststellung durchaus relativ breit geteilt zu werden scheint, heute leider allzu selten geworden ist.

Es ist diese Möglichkeit eines ganz anderen Wegs, eines Kampfes in Richtung Freiheit, die ich hier untersuchen will.

Bloss ein Wunschtraum?

Die oben beschriebenen Verhältnisse, die Existenz von Autoritäten aller Art, die unsere Unterwerfung fordern, von Ausbeutern aller Art, die sich an unserer Arbeit bereichern, sind nicht nur eine persönliche Realität, sondern seit Urzeiten die Grundlage der gesellschaftlichen Welt, in der wir leben. Auch wenn diese Verhältnisse heute oft rationaler, subtiler, feinmaschiger und demokratischer als früher erscheinen, sind sie nichtsdestotrotz, oder eher, umso mehr, ihr tief verwurzeltes Fundament. Daher bin ich der Ansicht, dass wir, wenn wir diese Verhältnisse nicht einfach akzeptieren wollen, eine ebenso fundamente Umwälzung ins Auge fassen müssen: eine tiefgreifende soziale Revolution, die alle Institutionen zum Verschwinden bringt, die dem freien Leben, wovon wir träumen, im Wege stehen. Wenn ich also von der Überzeugung spreche, dass die Freiheit erkämpfbar ist, spreche ich von einem immensen Werk der Umwälzung von Beziehungen, der Zerstörung von Strukturen und der Neuerschaffung eines Lebens auf anderen Grundlagen. Ein Werk, das gewiss nicht von einem Tag auf den anderen realisiert werden kann, das es aber, wenn es nicht im Bereich der blossen Wunschträume gelassen werden will, vom heutigen Tag an zu beginnen gilt.

Doch, kaum habe ich dies gesagt, werden auch unter jenen, die sich im Grunde in denselben Problemen und in denselben freiheitlichen Ideen wiedererkennen, schnell verschiedenste Einwände laut: „Was kann ich schon ausrichten?“ „Wir sind doch viel zu wenige.“ „Die notwendige Veränderung ist viel zu gross.“ „Auch wenn wir uns wehren, wird sich ja doch nichts ändern.“ „Wenn wir heute die Autoritäten angreifen, werden sie uns nur morgen bestrafen.“ Etc. Etc. Mit diesen und anderen resignierten Argumenten, die ausserdem vom vorherrschenden Denkmuster unterstützt werden, scheinen sich viele immer wieder selbst von jenem Schritt zur Revolte abzuhalten, der doch die notwendige Bedingung ist, um irgendwas zu ändern.

Und so akzeptiert man allzu oft, wenn auch widerwillig, eben doch die Umstände, die uns aufgezwungen werden, wählt man für das „geringere Übel“ und schlägt man sich durchs Leben. So zieht man sich eine Maske über, um sich Morgens im Spiegel nicht in die Augen zu schauen, begräbt man seine alten Träume und versinkt an ihrer statt oft in Depressionen, Frustration, Zynismus und Selbstbetäubung…

Leider ein allzu häufiger Weg, mit der Unzufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse umzugehen (oder eben nicht umzugehen). Ein anderer, bestimmt nicht einfacherer, aber stolzerer, schönerer und perspektivenreicherer Weg scheint mir, eben diesen Schritt zur Revolte zu wagen. Ein Schritt, der gewiss Mut und Willen fordert, aber gleichzeitig Kraft und Selbstvertrauen gibt. Ein Schritt, der eine Eintscheidung aus dem Innern ist, und nicht auf berechnende Weise angegangen werden kann. Die Entscheidung, sich nicht mehr einfach zu bücken und nicht mehr einfach zu akzeptieren, sondern, sein eigenes Leben in die eigenen Hände zu nehmen, selbstständig seine eigenen Ideen zu entwickeln und seinen eigenen Kampf in Richtung Freiheit anzugehen – ausgehend von wo auch immer man sich befindet.

Es geht also darum, den Bereich der blossen Wunschträume zu verlassen, und sie zum Antrieb für ein konkretes Agieren in der Realität werden zu lassen.

Die Revolte

Die Revolte – als ein geistiger sowie physischer, und notwendigerweise oft auch gewaltsamer Akt der Auflehnung gegen die Ideen, Strukturen und Menschen, die unsere Unterdrückung und Ausbeutung ermöglichen und aufrechterhalten – scheint mir, wie gesagt, die unabdingbare Voraussetzung, um die bestehenden Verhältnisse wirklich zu verändern. Dennoch ist sie nicht nur das. Und das scheint mir wichtig, hier gleich von Anfang an zu betonen: noch vor jeglicher Einschätzung der damit zu erreichenden Resultate, ist die Revolte ein Akt der Rückeroberung der eigenen Würde. Eine Bestätigung, noch am Leben zu sein, in einer Welt voller Leblosigkeit und Fügsamkeit. Eine Bekräftigung der eigenen Individualität, in einer Gesellschaft voller Herdenmentalität. Die Revolte ist also nicht bloss „zweckmässig“, sondern – für jene, die sich nicht unterwerfen wollen – eine Lebensnotwendigkeit.

Unter diesem Blickwinkel, den die demokratischen Soziologen nie verstehen werden, die im Dienste des Staates die heutigen sozialen Explosionen analysieren, hat die Revolte keine aufzählbaren Gründe oder Forderungen nötig, um gerechtfertigt zu sein. Und unter diesem Blickwinkel, den auch die Buchhalter der Revolution nie verstehen werden, die im Dienste ihrer Ideologie und ihres Programms über die unkontrollierten Rebellionen urteilen, braucht sie auch keine aufzählbaren Resultate vorzuweisen, um wertvoll zu sein. Die Revolte enthält ihren Wert bereits in ihrem Akt an sich.

Dennoch, selbstverständlich, damit sie zu einer verändernden Kraft auf gesellschaftlicher Ebene werden kann, muss sie sich mit einer Perspektive verbinden. Eine Perspektive, in der wir uns mit den notwendigen Ideen, Analysen und Mitteln ausrüsten, um das revolutionäre Projekt dieser gesellschaftlichen Umwälzung voranzutragen. Ideen von dem Leben, das wir wollen, die sich durch die Auseinandersetzung mit uns selbst und unserem Verhältnis zur Realität, in der wir leben, entwickeln. Analysen der Gründe und Ursprünge von dem, was wir bekämpfen wollen, um treffend zu agieren. Mittel, um unsere Vorschläge mit Worten und Taten sozial zu verbreiten.

Doch hier, angesichts der überwältigenden Grösse der notwendigen Veränderung, womit sich eine revolutionäre Perspektive zwangsläufig konfrontiert sieht, drängt sich bei vielen immer wieder jener Einwand auf: wir sind wenige.

Der soziale Konflikt

Ja, angesichts der Trägheit der heutigen Mentalität und angesichts des sozialen Friedens, den man innerhalb der Gesellschaft zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Reichen und Armen einzurichten versucht, sind wir wenige, die für eine Umwälzung dieser Verhältnisse kämpfen. Aber genauso ist es eine alte Banalität, dass nichts, das jemals gross geworden ist, nicht einst mit wenigen begann. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es also absurd, nicht zu handeln, nur weil wir wenige sind. Was ich aber vor allem bekräftigen will, ist die Tatsache, dass wenige zu sein, nicht bedeutet, isoliert zu sein.

Auch wenn es heute, hierzulande, wenige sein mögen, die revoltieren, so sind es nicht wenige, die den Konflikt dieser Gesellschaft auf eigener Haut erfahren. Das Prinzip von Autorität und Eigentum, worauf diese Gesellschaft seit jeher beruht, kreiert eine Trennung und eine Ungleichheit, die die ganze soziale Landschaft durchzieht: zwischen wenigen Reichen und einem Grossteil von Armen, zwischen wenigen Privilegierten und einem Grossteil von Ausgeschlossenen, zwischen wenigen Machthabern und einem Grossteil von Untergeordneten. Diese Verhältnisse bergen ein ewiges Konfliktpotenzial, das im Verlaufe der Geschichte schon unzählige Male, unter den Schreien nach Gleichheit und Freiheit, zu Aufständen führte, die dieser Privilegienordnung ein Ende bereiten wollten.

Sich diesem Konfliktpotenzial bewusst und ihre Positionen sichernd, versuchen jene, die von dieser Ungleichheit profitieren, auf zahlreichen Wegen von der Revolte abzulenken und diesen Konflikt künstlich zu befrieden, bzw. unter die Oberfläche zu verschieben.

Ich bin aber der Ansicht, dass dieser Konflikt nicht befriedet werden kann, sondern, dass er, wenn auch unter der Oberfläche, solange weiter existieren wird, wie diese Ungleichheit weiter existiert. Nur führt die Tatsache, dass die Gründe dafür heute, aufgrund der wachsenden Entfremdung, allgemein weniger klar identifiziert zu werden scheinen, dazu, dass sich dieser Konflikt auf oft irrationale Weise äussert: wahllose Gewalt, Depressionen, Selbstbetäubung, Selbstmord,… Ich denke, dass dieser Konflikt nur aufgelöst werden kann, indem er ausgetragen wird, und zwar bis zum Ende. Bis wir in einer Welt leben, die nicht mehr geteilt ist, in der sich nicht mehr der eine auf Kosten der anderen bereichert, sondern sich die Freiheit aller durch die Freiheit der anderen erstreckt.

Die Revolte, wenn auch einer Minderheit, insofern sie sich in diesen real existierenden Konflikt einschreibt, den zahlreiche Menschen in sich tragen, ist also nicht isoliert. Als Hinweis und Verdeutlichung dieses sozialen Konflikts kann sie dazu beitragen, die Gründe und Verantwortungen der unterdrückenden Verhältnisse für mehr Menschen identifizierbarer, und somit angreifbarer zu machen. Auch wenn sie punktuell und begrenzt ist, enthält die Revolte immer die Möglichkeit ihrer Ausweitung, indem sie andere Menschen ermutigen und es ihnen erleichtern kann, ebenfalls zu revoltieren.

Schliesslich hat uns die Geschichte schon unzählige Male gezeigt, wie es der mutigen und entschlossenen Aktion einer rebellierenden Minderheit gelang, aufzudecken, was im Innern vieler brütete, um ganze Aufstände und Revolutionen auszulösen (die Auflehnungen von 2011 in Nordafrika sind nur das jüngste Beispiel dafür).

Eine andere Auffassung von Stärke

Der Argumentation, wir seien zu wenige und der Gegner zu gross, liegt oft auch eine Auffassung zugrunde, die den sozialen Kampf mit einer militärischen Logik betrachtet: die Auffassung, dem riesigen Koloss des Staates und seiner Ordnungskräfte müsse ein ebensogrosser Koloss gegenübergestellt werden, der fähig ist, dem Staat die Stirn zu bieten. Dies ist auch die Auffassung zahlreicher, mehr oder weniger autoritärer revolutionärer Organisationen, die überall um Mitglieder werben und beabsichtigen, die Kräfte in sich zu zentralisieren. Wir, als Anarchisten, haben eine gänzlich andere Auffassung des sozialen Kampfes, und daher auch von Stärke.

Der rohen und quantitativen Stärke der Macht, die sich in der militärischen und zentralisierenden Logik ausdrückt, wollen wir nicht eine auf derselben Logik basierende “Gegenmacht” entgegenstellen, sondern die soziale und qualitative Stärke der Freiheit. Eine Stärke, die aus dem Prinzip der Dezentralität und der Autonomie der Individuen besteht. Wir zielen also nicht darauf ab, die Individuen in Massen zu verwandeln, sondern die Massen in Individuen zu verwandeln. Individuen, die nicht irgendeinem Führer oder irgendeiner Ideologie folgen, sondern für ihre eigenen Ideen und für ihre eigene Befreiung und Entfaltung kämpfen. Freiheit, der Kampf für Freiheit, ist etwas, das von allen einzeln auskommen muss, und nicht von irgendeiner Organisation, die behauptet, die Individuen zu repräsentieren. Ansonsten handelt es sich nur wieder um eine neue Auferlegung (und wie viele Male in der Geschichte haben wir das Freiheitsverlangen der Menschen auf diese Weise schon verraten gesehen?…).

Abgesehen davon zeigen die einstigen Massenorganisationen, also die gewerkschaftlichen und parteilichen Organisationen mit revolutionären Bestrebungen, heute deutlich ihre Überholtheit. Es ist nicht nur, dass die zentralistische Form, die sie angenommen haben, meiner Ansicht nach einer antiautoritären Perspektive widerspricht, sie entspricht heute auch schlicht nicht mehr der Realität. Die Konzentration der Ausgebeuteten in Fabriken und Arbeiterquartieren, die diese Organisationsform einst begünstige, da sie sich auf eine breit geteilte Ausbeutungsbedingung und ein gewisses “Klassenbewusstsein” stützen konnte, existiert heute, zumindest in unseren Breitengraden, praktisch nicht mehr. Das Gespenst der “Arbeiterklasse” ist aus dem sozialen Panorama verschwunden (was selbstverständlich nicht heisst, dass die Proletarier, die Ausgeschlossenen, die Ausgebeuteten verschwunden sind). Die ganze Produktion des Kapitalismus, und somit auch die Ausbeutung durch die Arbeit und die Bedingungen dieser Ausbeutung, haben sich heute, vor allem durch die Einführung der modernen Technologien, massiv verstreut und zerstückelt. Wir stehen also einer ganz anderen Realität gegenüber als noch vor einigen Jahrzehnten.

Entgegen den zentralistischen Massenorganisationen schlagen wir eine möglichst verstreute Kreierung von autonomen, selbstorganisierten Basisgruppen vor. Gruppen, die überall gebildet werden können, wo Menschen eine gewisse Unterdrückungsbedingung teilen. Ihre Bildung ist temporär und wandelbar, also nicht auf ein beständiges Anwachsen ausgerichtet. Ihr Ziel ist der aktive, selbstorganisierte Kampf, durch eine permanente Konflikthaltung und nicht durch Verhandlungen, für die Erleichterung und mögliche Beseitigung der Unterdrückungsbedingungen. Um ihre autonome Grundlage zu bewahren, basieren sie auf der Unabhängigkeit von jeglichen Parteien und politischen Organisationen, sowie auf der Weigerung der Delegation. Ihre treibende Kraft sind die direkte Aktion und die individuelle Initiative.

Eine solche verstreute Auffassung des sozialen Kampfes entspricht auch dem Ziel einer sozialen, und nicht bloss einer politischen Revolution. Denn die Herrschaft kann nicht bekämpft werden, indem man wie damals in Russland den Winterpalast, oder hier das Bundeshaus stürmt. Sie ist etwas, das sich in allen Bereichen des Alltags, in zahlreichen verstreuten Institutionen, Funktionen, Denkmustern, Beziehungen und Verhaltensweisen manifestiert. Es ist also etwas, das es, mit kleinen und grossen Aktionen, überall und alltäglich zu bekämpfen gilt.

Ein weiterer Faktor, der eine verstreute Auffassung des sozialen Kampfes begünstigt, ist die Entwicklung der kapitalistischen Struktur selbst. Die Flexibilisierung und Dezentralisierung der Wirtschaft durch die Auflösung der grossen Industriekomplexe und die oben genannte Zerstückelung der Produktion durch die Einführung der modernen Technologien, hat dazu geführt, dass auch die Adern, die dieses System am Laufen halten (Transport, Elektrizität, Kommunikation, etc.) massiv verstreut, und somit leichter verletzbar und dezenral angreifbarer wurden…

Wie wir sehen können, basiert das Ziel einer möglichst grossen Verbreitung von autonom agierenden Gruppen und Individuen (die sich natürlich auch zu massenhaften Momenten zusammenfinden können), auf einer Auffassung von Stärke, die der rohen, quantitativen, zentralisierten Stärke der Macht asymetrisch entgegengestellt ist.

Selbstverwaltung

Wenn wir uns der Frage der sozialen Revolution annähern, kommen wir nicht umhin, uns auch die Frage der Selbstverwaltung in einer Gesellschaft ohne Staat und ohne Regierung zu stellen. Eine Frage, die, meiner Ansicht nach, auch ihrerseits unter dem Licht der Veränderungen der letzten Jahrzehnte neu betrachtet werden muss.

Das Ziel der einstigen revolutionären Gewerkschaftsstrukturen, auch der anarchistischen, war es, bereits die Grundlage der künftigen befreiten Gesellschaft zu bilden, das heisst, nachdem die Produktionsmittel einmal den Kapitalisten entrissen wurden, die Produktion, ohne Bosse und ohne Eigentum, zum Wohl aller selbstzuverwalten. Heute, angesichts der Einführung der modernen Technologien in praktisch alle Bereiche der Produktion, die, abgesehen von tödlichen Auswüchsen wie der Nuklear-, Chemie- und Waffenindustrie, zu einer immer ausgefeilteren Spezialisierung, Hierarchie und Entfremdung führte, müssen wir uns fragen, ob wir diese Produktion tatsächlich aufrechterhalten wollen. Meiner Ansicht nach kann der Grossteil der heutigen Produktionsstrukturen nicht im Sinne der Freiheit organisiert werden, und sollte demnach nicht selbstverwaltet, sondern zerstört werden.

Die Freiheit kann also, unter diesem Blickwinkel, nicht einfach die Selbstverwaltung der bestehenden Gesellschaft ohne Staat bedeuten. Sie muss die Selbstverwaltung eines neuen Lebens auf ganz anderen Grundlagen sein, und darf daher keine Angst vor Ruinen haben.

Ein Ausgangspunkt für die notwendigen selbstverwalterischen Grundlagen einer freien Gesellschaft (auf dem alten kommunistischen Prinzip von „jeder nach seinen Kräften, jedem nach seinen Bedürfnissen“) können die verstreuten Erfahrungen der autonomen Basisgruppen sein, die, in ihren Kämpfen, heute bereits mit der autonomen Selbstorganisation experimentieren.

Aufstand

Insofern unser Ziel die fundamentale Umwälzung der bestehenden Gesellschaft ist, zielt unsere Aktion, in all ihren unzähligen Ausdrucksformen, ob mit Worten oder Taten, legal oder illegal, individuell oder kollektiv, darauf ab, auf kurze oder lange Frist, die Bedingungen für jene aufständischen Taten zu begünstigen, die notwendig sind, um eine solche Umwälzung zu realisieren.

Mit dieser Umwälzung meine ich die Abschüttelung der jahrtausendealten Gewohnheit der Autorität, des Staates und seiner Institutionen, zugunsten der direkten Selbstorganisation in allen Bereichen, basierend auf der gegenseitigen Hilfe und der Autonomie der Individuen, die frei beschliessen, miteinander in Gesellschaft zu treten. Eine Umwälzung, die selbstverständlich nicht wie durch Zauberhand im Moment des Aufstands geschieht, der aber die gewaltsame Unterbrechung des normalen Laufs der Dinge den nötigen Raum und die nötige Zeit verschaffen kann.

Ausserdem ist der Aufstand notwendig, um konkret das anzugreifen, was den Staat ermöglicht, und somit sein Wiederaufkommen nach dem Aufstand zu hindern, das heisst: die Zerstörung der administrativen Einrichtungen (Verwaltungsunterlagen, Identitätsdaten, etc.), der finanziellen (Eigentumsregister, Beseitigung der nationalen Goldreserven, etc.) und repressiven Einrichtungen (Polizei- und Militärstrukturen, Gefängnisse, Gerichte, etc.), die Aufhebung des Gewaltmonopols (durch die allgemeine Bewaffnung),…

Es versteht sich von selbst, dass eine soziale Revolution nicht die Angelegenheit eines einzigen Aufstands, irgendeines Grossen Tages irgendwann in der Zukunft ist, sondern ein langer, ja permanenter Prozess ist, der mit unserer Aktion von heute beginnt, und worin Aufstände nur eine beschleunigende Phase, die Phase eines möglichen Sprungs bilden.

Ich spreche von einem permanenten Prozess in dem Sinne, dass Freiheit für mich kein Zustand ist, der eingerichtet und in einer „Struktur“ bewahrt werden kann, sondern eine Spannung ist, ein Antrieb in den Individuen, der die Welt beständig neu kreiert. In diesem Sinne ist es notwendig, auch im Falle von Aufständen und Revolutionen, stets gegen jene weiter zu kämpfen, die eine neue Herrschaft, ein neues Regime, einen neuen festen Zustand durchsetzen, und somit den Freiheitsdrang der Menschen aufs neue verraten wollen. Denn solange es Regierungen gibt, in welcher Form auch immer, und auch wenn sie behaupten, im Namen der Freiheit zu handeln, wird es immer Menschen geben, denen diese Regierung aufgezwungen wird. Und, wie ein alter Anarchist einst sagte: solange es Menschen gibt, die nicht frei sind, kann es keine Freiheit geben, kann auch ich nicht vollständig frei sein.