Titel: Anarchismus und Organisation
Datum: 1925
Quelle: “Ich werde doch genug finden, die sich mit mit vereinigen, ohne zu meiner Fahne zu schwören.” Textsammlung zur informellen Organisation 1845-1948 (Revolutionsverlag, 2019)
Bemerkungen: Kritik an Rudolf Rockers Broschüre Anarchismus und Organisation (https://anarchistischebibliothek.org/library/rudolf-rocker-anarchismus-und-organisation) Niederländisches Original: Anarchisme en organisatie (Anarchismus und Organisation), in: Alarm. Anarchistisch Maandblad. 3e Jaargang No. 5. 15. Augustus 1925, Den Haag (Holländisch)

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Der geistige Führer der deutschen und ebenfalls der internationalen syndikalistischen Bewegung ist zweifelsohne Rudolf Rocker, ein kluger Kopf und gediegener Schriftsteller. Von Rocker stammt die Broschüre „Anarchismus und Organisation“ [Berlin 1921], die eigentlich hätte heissen müssen: Syndikalismus und Organisation. Sie scheint uns ein guter Ausgangspunkt um unseren Standpunkt diesbezüglich wiederzugeben.

Der Geist von Rudolf Rockers ist stark libertär kommunistisch. Selbst bei Kropotkin lässt sich das andauernd erkennen, dieses Unterschätzen der persönlichen Freiheit, mit welchem viele Anarcho-Syndikalisten befangen sind. In seinem „Gefängnisse“ [Original 1886 in Le Révolté, Der moralische Einfluss der Gefängnisse auf die Gefangenen, 1888 in Die Freiheit] lesen wir unter anderem: „Der Mensch ist ein Produkt des Milieus, worin er gross geworden ist und sein Leben verbringt. Dass er sich von Kindsbeinen an gewöhne an die Arbeit, dass er sich gewöhne, sich als einen Teil der gesamten Menschheit zu betrachten, usw.“

Diese Anpassungstheorie wird dann sogar disziplinarisch in folgender Äusserung:

Die alte Familie, gegründet auf die Gemeinschaft der Herkunft, verschwindet, aber eine neue Familie, gegründet auf der Gemeinschaft der Bestrebungen nimmt ihren Platz ein. In dieser Familie sollen die Menschen gezwungen werden, einander zu helfen, einander sittlich bei jeder Gelegenheit zu unterstützen.“

Das nun ist aber genau ein Musterbeispiel von dieser Sorte Kommunismus: die Individuen sollen durch die Gemeinschaft gezwungen werden. Wer oder was ist eigentlich die Gemeinschaft? Die Masse, die jederzeit rückständig ist im Vergleich mit der revolutionären Minderheit? Die Herde, die sich an Traditionen und Totem festklammert? Die Organisation, die aus Angst vor der freien Initiative der Einzelnen diese nicht duldet?

Aber wir lassen uns nicht zwingen durch die „Gemeinschaft“. Wir wollen entweder freiwillig zusammenarbeiten mit denen, mit denen wir im Geiste oder anderweitig verwandt sind – oder allein arbeiten. Wir sagen: Tod dem neuen Gott „Gemeinschaft“, Tod der Clique und der Herde: geht selig in den Stall und knabbert ruhig am Gemeinschaftsbrot – aber fordert nicht von uns, dass wir uns wie Schafe anschmiegen sollen, um uns zu wärmen und mitzuknabbern. Denn wir haben keine Lust auf Herdenwärme und kein Bedürfnis nach Futter und dem Trog. Dass die Herde sich scheren und mit allen Saucen zubereiten lässt, darum bekümmern wir uns lediglich insofern – sagt Libertad irgendwo –, dass die Herde Meister wählt, welche auch unsere Meister sein sollen, durch die Macht der Anzahl, die sie hinter sich haben. Darum bekämpfen wir die Masse, die Herrschaft über uns ausüben will, aber wir unterwerfen uns nicht.

Rocker hat bereits in seiner Einleitung zu Kropotkins Begräbnisalbum [ALBUM. Die Beerdigung von P. A. Kropotkin in Moskau 13. 11. 1921. Fritz Kater, Berlin, 1922] den Individualismus bekämpft. Hier hat er Nietzsche dazugerechnet, ganz zu Unrecht, da dieser ein Herrschaftsmensch und Aristokrat ist, ebenso wie Multatuli – der uns jedoch eben genau als Persönlichkeit soviel Streitmaterial geliefert hat gegen die Herrschaft, sodass sein revoltierender Einfluss sehr gross war. Gegenwärtig kommt in Rockers „Anarchismus und Organisation“ dieses syndikalistische Prinzip von der „Disziplin durch die Mehrheit“ wieder zum Ausdruck. Und dennoch ist das nicht sehr begreiflich.

Das grosse Werk von Kropotkin hat darin bestanden, dass dieser (vor allem in seinem Felder, Fabriken, Werkstätten [Landwirtschaft, Industrie und Handwerk. Berlin, 1921) den Nachdruck darauf gelegt hat, dass die industrielle, technische Konzentration und Zentralisation in vergangenen Perioden im Wirtschaftsleben schlecht war. Darum ist es auch so schwierig für einen Anarchisten zu begreifen wie z.B. De Ligt in seinem „Anarchismus und Revolution“ behaupten durfte, „dass der technisch-industrielle Prozess… . auf dem Gebiet des Mechanischen, Sachlichen, Technischen usw. die verhältnissmässige Übernahme der Zentralisation erfordert.“ Immer hat die Zentralisation einen Einfluss auf die Betriebsführung, die dann autoritär sein muss. Aber jeder weiss, dass ohne Autorität ein Zusammenhalt, eine Zusammenarbeit, ja ein durch die Individuen selbst freiwillig abgemachte Regelung möglich ist. Das bedeutet, im bleibenden Gegensatz zum Zentralismus, die Taktik des Föderalismus. Und dieser lässt nun just den Persönlichkeiten die Freiheit, sich los zu machen aus dem Verband und sich neu zu gruppieren.

Aber bei Rocker ist die Ursache für seinen Kampf gegen den Individualismus weniger weit weg zu suchen. Er ist der Mann der Gewerkschaften, d.h. der Gruppierung innerhalb des Rahmens und unter dem Zwang des Kapitalismus. Die Organisationsdisziplin ist für eine bürgerliche Vereinigungsform wie die Gewerkschaften eine Notwendigkeit. Die Organisation muss doch mit ihren Konkurrenten um ihr Bestehen kämpfen. In diesem Kampf ist jedes Mitglied ein Soldat mehr, d.h. eine Nummer mehr, welche Beiträge zahlt und der Führung gehorcht. Die Organisation ist alles – das Individuum nichts.


II

Gehen wir Rockers Studie nach, dann blickt genau diese Mentalität deutlich durch. Hier liegt ebenso wie bei Kropotkin der Nachdruck darauf, dass der Mensch ein Produkt der Gemeinschaft ist. Was die Gemeinschaft für den Menschen ist, das war sie bereits im Tierreich. Das ist natürlich etwas einseitig albern. Immer hat der gesamte Anarchismus danach getrachtet, eine Gemeinschaft durch den Menschen zu formen, und nicht einen Menschen durch die Gemeinschaft. Zugegebenermassen sind wir Produkt der Gesellschaft und der Evolution, was unsere Artmerkmale betrifft, unsere Sprache, unser Geselligkeitsinstinkt, unser Solidaritätsgefühl usw. Doch der Mensch, obgleich durch die Gesellschaft festgelegt, ist ein bewusst handelnder Teil davon und folglich wurde er auch Ursache von einer neuen Gemeinschaft, macht seine Geschichte mit dem Material welches ihm vorige Geschlechter hinterlassen haben. Anarchismus, ist dann auch: die ursprüngliche Bearbeitung und Formung durch freie Persönlichkeiten oder Gruppen von noch ungeformtem Material. Dazu kann es nötig sein, allein zu arbeiten (in Kunstfreiheit z.B.), Gruppen zu formen (in der Herstellung von Nahrungsmitteln und Gebrauchsartikeln z.B.) und häufig Gruppen zu vernichten.

Man kann somit zeigen, dass der unbewusste Mensch als Produkt noch nicht der eigentliche Mensch ist, als wirksame Ursache von Veränderungen.

Die Freiheit, so sagen Proudhon und Bakunin, ist das Kind der Solidarität, somit der innerlichen Gebundenheit. Bei Bakunin wurde die Solidarität zu einem neuen Gott, der alles beherrschen muss, auch die Freiheit. Die Revolution muss somit die Befreiung der Solidarität aus den Ketten, worin sie sich jetzt befindet, sein. Aber im Grunde ist die Mutter aller Freiheit: Macht. Die Macht macht uns frei, und nicht ein anderes Prinzip. Immer dann ist das Proletariat frei, wenn es die Macht hat im Betrieb, über die Technik und die Grundstoffe und die Produkte – und folglich keine andere Macht über sich duldet. Frei sein bedeutet das: eine unangetastete Macht im eigenen Arbeitsbereich zu besitzen, d.h. autonom sein. Die Persönlichkeit ist frei, wenn sie durch ihre eigene Macht jede Autorität abwälzen kann.

Die Macht kann nun eine bewaffnete sein, oder eine körperliche, geistige oder moralische (die Macht der Liebe oder Solidarität), aber sie ist nicht allein die Solidarität. Die Macht des Hasses kann viel grösser sein für den Aufstand, als die der Liebe. Die Macht einer Kugel ist manchmal die einzig ausreichende.


Der grosse Unterschied zwischen Rocker und uns scheint folgender: wir kommen durch die Aktion zur Zusammenarbeit – er will durch die Organisation zur Aktion kommen. Daher zieht er auch über „bewaffnete Banden“ und „geheime Komitees“ her, so als ob die kein revoltierendes Werk verrichten könnten. Das Problem ist, das Rocker die Klassenorganisation, und nicht das Zusammenwirken der Persönlichkeiten will. Die Klasse ist ihm Alles, das Individuum nebensächlich. Und das Resultat? Die Klassenorganisationen führen nur eine Aktion aus: für ihre eigenen Interessen und Wachstum in der kapitalistischen Gesellschaft. Aller Aufbau von Organisationen, die im Kapitalismus „praktisch“ funktionieren wollen, ist konterrevolutionär. Darum ist in der kapitalistischen Gesellschaft jede Organisation, Partei oder Gewerkvereinigung, ein Hindernis und eine Bremse für die Anarchie, d.h. die Vernichtung dieser Gesellschaft.

Wir merken auch, das Rocker von „dem Anarchisten“ Cornelissen spricht. C. ist nichts anderes gewesen als ein Syndikalist mit – stark marxistischen Neigungen. So ist Rocker der Syndikalist, der den Anarchismus mit dem Syndikalismus verwechselt. Die Syndikalisten begehen stets den grossen Denkfehler, dass sie sich vorstellen, durch eine grosse Revolution zu einem festen Zustand des Zusammenlebens zu gelangen. Der Anarchist will freilich das Zusammenleben selbst in fortdauernder Revolution. Er weiss dass der Anarchismus als ewiges (Be-)Streben, ewiges Sich-Befestigen und von Neuem Abbrechen, ewiges Verändern und Geniessen, sich nicht versteht mit irgendeinem festen Zustand des Zusammenlebens, sondern lediglich mit dem Kämpfen der Persönlichkeiten für stets grössere individuelle Freiheit. Und wer den Anarchismus nicht so sieht, verfällt immer wieder in ein Festlegen der Macht und in einen Aufrechterhaltungs-Drang, welche dem Anarchismus todfeindlich sind.

Aber hinter den Worten von Rocker liegt doch allzeit die Furcht vor der „Unordnung“, die Angst vor dem Unorganisierten und dem Unangebrachten. Der wahrlich freie Einzelne, eintretend für seine persönliche Freiheit, verbindet sich zu einem bestimmten Zweck mit seinen Kameraden, aber er fürchtet den umherstreifenden Störer der Ruhe nicht, da er die Ruhe für sein persönliches Glück nicht nötig hat. Die Herde womöglich schon, aber der Einzelne nicht. Darum rufen die Organisationsmenschen stets nach einer festen Regelung in der Beziehung zu den Mitmenschen. Warum bloss? Wir haben doch unsere Mit-Arbeiter nicht zu fürchten, dass wir sie fangen müssten, in den Netzen des Reglements? Wir haben doch nichts zu verlieren von unserer Persönlichkeit, wenn unerwartet eine Zusammenarbeit aufgekündigt wurde? Wir haben doch keinerlei Interesse als freiheitsliebenden Persönlichkeiten, dass andere Menschen finanziell oder tatsächlich gebunden sind durch eine Organisation?

Sicher, wir können durch die Zusammenarbeit gewinnen. Aber der freie Mensch, der auf eigene Kraft vertraut, hat bei Abbruch der Zusammenarbeit auch nichts zu verlieren.


III

In jeder Zusammenarbeit liegt der Abbruch der Verbindung schon vorausgesetzt. Gerade deshalb bedroht und bekämpft jede Organisation den Einzelnen. Warum?

Jede Organisation ist eine Form von Absolutismus und Imperialismus. Das erste will sie, um ihr Existenzrecht zu betonen, ihre Unentbehrlichkeit zu demonstrieren. Sie will alles alleine tun, sie will alles zu sich zerren. Sie duldet keine Initiative der Einzelnen mehr, weil dann eine Aktivität neben der ihren entsteht. Sie will die Alleinherrschaft, das Alleinrecht, das Monopol für alle Taten.

Notwendigerweise muss die Organisation sich ausbreiten und die freie Initiative ersticken oder ihr entgegenwirken. Sie muss zur obersten Macht heranwachsen, zum heiligen Institut. Sie ist sich Selbstzweck geworden und ihre Macht ist die einzige anerkannte, die einzig zulässige. Sie ist ein Staat.

Darum sind wir gegen jede festkettende Organisationsform. Darum auch verwerfen wir eine künstliche und zentrale Organisation, die für die Propaganda allerwenigst nötig ist. Und unsere Taten – ach, die zu regeln wird sich doch ein Verband nicht anmassen wollen!

Die Organisation im Kapitalismus zentralisiert die menschlichen Kräfte. In der Revolution kommt es darauf an, dass die Menschen selbst ihre Kräfte konzentrieren wo und wann es nötig ist, in den Fabriken zum Beispiel und in den grossen Betrieben. Das Problem der Organisation ist kein Frage der Führung, sondern lediglich ein Problem für die Arbeiter selbst, in dem Sinne, dass sie sich in jedem Betrieb fragen: wie werden wir selbstbewusst und durch Beratung untereinander die Arbeiten in den Betrieben verteilen, worin wir gegenwärtig bereits tätig sind und die wir dann bereits beherrschen werden? Und diese Frage kann nur in der Revolution, welche die Bourgeoise enteignet und den Staat vernichtet aufgelöst werden. Davor besteht kein Organisations – sondern ein Desorganisationsproblem: wie verwüsten wir Staat, Kapitalismus und Militarismus? Und hierin sind wir uns einig: durch die Bekämpfung der Regierung, Parlament und Justiz, durch Sabotage des Militarismus, Dienst- und Arbeitsverweigerung, durch die Verneinung der Eigentumspapiere und von allem Eigentum, das will heissen: durch die Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter selbst – durch die Arbeiter allein, das heisst: durch die soziale Revolution.


A.L.C.