Titel: Anarchie ist Ordnung
Datum: 1850
Quelle: Scan aus: Erwin Oberländer - Der Anarchismus; S. 74-99
Bemerkungen: A. Bellegarrigue, «Manifeste », in: L'Anarchie. Journal de l'ordre, Nr. 1, April 1850, S.1-28. Wir geben diesen Text in der um vier Kapitel verkürzten Übersetzung von Gustav Landauer wieder, die unter dem Titel «Anarchie ist Ordnung» in: Der Sozialist, Jg.VII. (1897), Nr.28, S.165-166; Nr.29, 5.172-173; Nr.31, S.187-188; Nr.32, S.192; Nr.33, S.199-200; Nr.34, S.201-202; Nr.36, S.212-213; Nr.37, S.217-218; Nr.41, S.237-238 erschien. An dieser Übersetzung wurden nur geringfügige stilistische Verbesserungen vorgenommen. Auf den Inhalt der von Landauer ausgelassenen Kapitel wird in Anmerkungen kurz verwiesen.

I. Anarchie ist Ordnung

Wenn ich mich um den Sinn kümmerte, der gewissen Worten gemeinhin beigelegt wird, so würde ich vor dem Titel, den ich dieser Veröffentlichung gegeben habe, zurückschrecken ; denn ein weitverbreiteter Irrtum hält die Anarchie für gleichbedeutend mit Bürgerkrieg, und ich schrecke vor dem Bürgerkrieg zurück.

Ich rühme mich und bilde mir etwas darauf ein, daß ich niemals einer Verschwörergruppe oder einer revolutionären Gesellschaft angehört habe ; ich rühme mich dessen und bilde mir etwas darauf ein, weil es einerseits beweist, daß ich so ehrlich gewesen bin, das Volk nicht zu betrügen, und andererseits, daß ich klug genug gewesen bin, mich nicht von den Ehrgeizigen betrügen zu lassen. Ich habe, und gewiß nicht ohne Teilnahme, aber zum mindesten mit der größten Ruhe, die Fanatiker und die Scharlatane vorüberschreiten sehen ; die einen habe ich bemitleidet, gegen die andern empfand ich souveräne Verachtung. Und als ich nach den blutigen Kämpfen die Summe des Wohlergehens, die jeder zusammengeschossene Leichnam mir gebracht hatte, zusammenzählen wollte, bekam ich die Gesamtsumme Null ; Null, d. h. soviel wie Nichts.

Ich habe einen Abscheu vor dem Nichts ; ich habe also einen Abscheu vor dem Bürgerkrieg.

Wenn ich also an die Spitze dieses Blattes das Wort Anarchie geschrieben habe, so geschieht das nicht in der Bedeutung, die ihm sehr zu Unrecht die Regierungscliquen beigelegt haben — ich komme gleich darauf zu sprechen —, sondern ich will im Gegenteil seine wörtliche Bedeutung wiederherstellen.

Die Anarchie ist die Verneinung der Regierungen. Die Regierungen, deren Mündel wir sind, haben natürlich nichts Besseres zu tun gewußt, als uns in Furcht und Schrecken aufzuziehen, damit wir nicht daran dächten, sie zu zerstören. Aber da die Regierungen ihrerseits die Verneinung der Individuen oder des Volkes sind, ist es vernünftig, daß das Volk, das in den wichtigsten Wahrheiten hellsehend geworden ist, auf seine eigene Verneinung all den Schrecken überträgt, den es vorher für die Verneinung seines Erziehers gehegt hat.

Die Anarchie ist ein altes Wort, aber dieses Wort drückt für uns eine moderne Idee, oder vielmehr ein modernes Interesse aus, denn die Idee ist die Tochter des Interesses. Die Geschichte hat «anarchisch» den Zustand eines Volkes genannt, in dessen Schoß sich mehrere streitende Regierungen befinden ; aber es ist ein Unterschied zwischen dem Zustand eines Volkes, das regiert sein will und dem eine Regierung gerade darum fehlt, weil es einen Überfluß an Regierungen hat, und jenem anderen Zustand eines Volkes, das sich selbst beherrschen will und dem eine Regierung gerade darum fehlt, weil es keine mehr haben will. Die antike Anarchie war in der Tat der Bürgerkrieg, und zwar darum, weil sie nicht das Fehlen, sondern den Überfluß an Regierungen ausdrückte, den Konkurrenzkampf, den Streit der herrschenden Geschlechter [1].

Die moderne Kenntnis der absoluten sozialen Wahrheit oder der reinen Demokratie [2] hat eine ganze Reihe von Kenntnissen oder Interessen eröffnet, die die Größen der herkömmlichen Gleichung gründlich umstürzen. So ist die Anarchie, die vom relativen oder monarchischen Standpunkt aus den Bürgerkrieg bedeutet, in absolutem oder demokratischem Sinne nichts Geringeres als der wahre Ausdruck der sozialen Ordnung.

In der Tat :

Wer Anarchie sagt, sagt Verneinung der Regierung.

Wer Verneinung der Regierung sagt, sagt Bejahung, Behauptung des Volkes.

Wer Bejahung des Volkes sagt, sagt individuelle Freiheit.

Wer individuelle Freiheit sagt, sagt Souveränität eines jeden.

Wer Souveränität eines jeden sagt, sagt Gleichheit.

Wer Gleichheit sagt, sagt Solidarität und Brüderlichkeit.

Also : wer Anarchie sagt, sagt soziale Ordnung.

Dagegen :

Wer Regierung sagt, sagt Verneinung des Volkes.

Wer Verneinung des Volkes sagt, sagt Bejahung der politischen Autorität.

Wer Bejahung der politischen Autorität sagt, sagt individuelle Abhängigkeit.

Wer individuelle Abhängigkeit sagt, sagt Oberherrschaft der Kaste.

Wer Oberherrschaft der Kaste sagt, sagt Ungleichheit.

Wer Ungleichheit sagt, sagt Interessenwiderstreit.

Wer Interessenwiderstreit sagt, sagt Bürgerkrieg.

Also : wer Regierung sagt, sagt Bürgerkrieg.

Ich weiß nicht, ob das, was ich eben gesagt habe, neu oder überspannt oder erschreckend ist. Ich weiß es nicht und kümmere mich nicht darum. Aber das weiß ich : ich kann getrost meine Argumente allen Äußerungen der weißen oder roten Regierungssysteme in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entgegenstellen. Auf diesem Gebiet, dem eines freien Mannes, dem die Ehrfurcht fremd ist, der glühende Liebe zur Arbeit hegt, der die Bevormundung verachtet, der sich gegen die Unterdrückung auflehnt, trotze ich in Wahrheit all den Beweiskünstlern des Beamtentums, all den Verteidigern des monarchischen oder republikanischen Steuersystems, mag es sich progressiv oder proportional nennen, mag es Grundsteuer, Kapitalsteuer, Rentensteuer oder Umsatzsteuer getauft werden. Ja, Anarchie ist Ordnung, denn Regierung ist Bürgerkrieg.

Wenn mein Denken jenseits der kläglichen Einzelheiten dringt, auf die sich das Alltagsgezänk bezieht, so finde ich, daß die inneren Kriege, die zu allen Zeiten die Reihen der Menschheit gelichtet haben, einzig und allein auf die folgende Ursache zurückzuführen sind : den Sturz oder die Erhaltung der Regierung.

In politischem Sinne haben die Metzeleien nie etwas anderes bedeutet, als sich einer bestehenden oder aufkommenden Regierung zu opfern. Zeigt mir eine Stätte, wo man sich in Massen und in vollem Zuge ums Leben bringt, ich werde euch stets eine Regierung an der Spitze des Blutbades aufweisen. Wenn ihr versucht, euch den Bürgerkrieg in anderer Weise zu erklären als durch eine Regierung, die kommen will, und eine, die gehen will, so werdet ihr eure Zeit verlieren : ihr werdet nichts der Art finden.

Der Grund ist einfach :

Eine Regierung ist gegründet. Im selben Moment, wo sie gegründet ist, hat sie ihre Kreaturen und demgemäß ihre Anhänger ; und im selben Augenblick, wo sie ihre Anhänger hat, hat sie auch ihre Gegner. Der Keim des Bürgerkriegs wird durch diese Tatsache schon befruchtet, denn ihr könnt es in keiner Weise durchsetzen, daß die Regierung, die mit aller Macht bekleidet ist, in ihren Handlungen ebensoviel Rücksicht auf ihre Gegner wie auf ihre Anhänger nimmt. Ihr könnt es durchaus nicht durchsetzen, daß die Gunstbezeigungen, über die sie verfügt, in gleicher Weise unter ihre Freunde und Feinde verteilt werden. Ihr könnt es durchaus nicht verhindern, daß jene gehätschelt und diese verfolgt werden. Ihr könnt es also durchaus nicht verhindern, daß aus dieser Ungleichheit früher oder später ein Streit zwischen der Partei der Bevorrechteten und der Partei der Unterdrückten entsteht. In anderen Worten : wenn eine Regierung gegeben ist, könnt ihr nichts dagegen tun, daß das Privileg entsteht, das die Teilung hervorruft, die den Interessengegensatz erzeugt, der den Bürgerkrieg entflammt.

Also ist die Regierung der Bürgerkrieg.

Heutzutage genügt es, einerseits der Anhänger, andererseits der Gegner der Regierung zu sein, um einen Streit unter den Bürgern hervorzurufen; wenn bewiesen ist, daß außer der Liebe und dem Haß, die man gegen die Regierung hegt, der Bürgerkrieg keine Existenzberechtigung hat, so heißt das soviel, daß es zur Herstellung des Friedens genügt, wenn die Bürger darauf verzichten, Anhänger oder Gegner dieser oder jener Regierung zu sein.

Aber aufhören, die Regierung anzugreifen oder zu verteidigen, um den Bürgerkrieg unmöglich zu machen, ist nichts Geringeres, als sich nicht mehr um sie kümmern, sich über sie hinwegsetzen, sie zu unterdrücken, um die soziale Ordnung herzustellen.

Nun, wenn die Unterdrückung der Regierung einerseits die Herstellung der Ordnung und andererseits die Gründung der Anarchie bedeutet, dann sind Ordnung und Anarchie gleichbedeutend.

Also ist Anarchie Ordnung.

Bevor ich zu den Entwicklungen übergehe, die nun folgen, bitte ich den Leser, sich vor dem schlechten Eindruck zu hüten, den die persönliche Form hervorrufen könnte, die ich in der Absicht, die Beweisführung zu erleichtern und das Denken zu beschleunigen, gewählt habe. In dieser Abhandlung bedeutet Ich weniger den Schriftsteller als den Leser und Zuhörer; Ich ist der Mensch.

II. Beweis, daß das traditionelle Interesse der Gesamtheit eine Fiktion ist

In diese Worte gefaßt, hat die Fragestellung mehr als im Sozialismus und dem unentwirrbaren Chaos, das die Häupter dieser Schule aus ihm gemacht haben, das Verdienst der Klarheit und Schärfe. Ich bin Anarchist, das heißt ein Mann des freien Prüfens, ein politischer und sozialer Hugenotte; ich verneine alles, ich bejahe nur mich selbst; denn die einzige Wahrheit, die mir materiell und moralisch, durch fühlbare, wahrnehmbare und denkbare Beweise dargetan ist, die einzige wirkliche, schlagende, nicht willkürliche und nicht der Auslegung unterworfene Wahrheit bin ich selbst. Ich bin, das ist eine positive Tatsache ; alles übrige ist abstrakte Ableitung und fällt unter das mathematische X, unter das Unbekannte : Es geht mich nichts an.

Die Gesellschaft hat ihre ganze Existenzberechtigung in einer umfassenden Vereinigung von materiellen und privaten Interessen ; das Interesse der Gesamtheit oder des Staates, in dessen Namen das Dogma, die Philosophie und die Politik in schönem Verein die ganze oder teilweise Entsagung der Einzelnen und ihres Eigentums [3] verlangt haben, ist eine bloße Fiktion, und diese Erfindung der Gottesherrschaft hat dem Gedeihen aller Hierarchien, von Aaron bis zu Bonaparte, als Grundlage gedient. Dieses Interesse, obwohl es in der Gesetzgebung erkennbar ist, existiert in Wirklichkeit nicht.

Es ist niemals wahr gewesen, es wird niemals wahr sein, es kann nicht wahr sein, daß es auf Erden ein Interesse gibt, dem ich das Opfer, wenn auch nur eines Teils, meines Interesses schulde. Es gibt auf Erden nur Menschen, ich bin Mensch, mein Interesse ist dem irgendeines andern gleich ; ich kann nur soviel schulden, als man mir schuldet ; man kann mir nur geben im Verhältnis zu dem, was ich gebe, aber wer nichts gibt, dem schulde ich nichts ; also schulde ich dem Interesse der Gesamtheit oder der Regierung nichts, denn die Regierung gibt mir nichts, und sie kann mir um so weniger geben, als sie nur hat, was sie mir nimmt : In jedem Fall kenne ich niemanden, der besser beurteilen könnte, ob es sich empfiehlt, Vorschüsse zu geben, und ob Aussicht besteht, sie zurückzuerhalten, als ich selbst ; ich brauche darüber von niemandem einen Rat oder Belehrung oder gar einen Befehl.

Es ist nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht eines jeden, sich diese Überlegung anzueignen und sich daran zu halten. Das ist die wahre anschauliche, unbestreitbare und unüberwindliche Grundlegung des einzigen menschlichen Interesses, auf das man Rücksicht nehmen muß: des Einzelinteresses, des Rechts des Individuums.

Heißt das soviel, daß ich das Interesse der Gesamtheit absolut leugnen wollte ? Sicher nicht. Nur liebe ich es nicht, umsonst zu sprechen, und darum schweige ich davon.

Nachdem ich das Privatinteresse näher begründet und festgelegt habe, handle ich gegenüber dem Interesse der Gesamtheit so, wie ich gegenüber der Gesellschaft handeln muß, sobald ich das Individuum in sie eingeführt habe. Die Gesellschaft ist die unvermeidliche und notwendige Folge des Zusammenlebens der Individuen; das Interesse der Gesamtheit ist aus demselben Grund eine notwendige, vorausbestimmte Folge des Zusammentreffens der Einzelinteressen. Das Interesse der Gesamtheit kann nur dann echt sein, wenn das Einzelinteresse unangetastet bleibt; denn da man unter Interesse der Gesamtheit nur das Interesse aller verstehen kann, genügt es, wenn in der Gesellschaft das Interesse auch nur eines einzigen Individuums verletzt wird, und sofort ist das Interesse der Gesamtheit nicht mehr das Interesse aller, und folglich existiert es nicht mehr.

Daß das Interesse der Gesamtheit in der notwendigen Ordnung der Dinge eine natürliche Ableitung der Einzelinteressen ist, ist so wahr, daß die Gemeinschaft, die mir mein Feld nimmt, um eine Straße zu legen, oder von mir die Erhaltung meines Waldes verlangt, um das Klima zu verbessern, mich dafür in der ausgiebigsten Weise entschädigt. Es isthier also mein Interesse, das herrscht, es ist das individuelle Recht, das das Recht der Gesamtheit aufwiegt [4]; ich habe das gleiche Interesse an einer Straße und an gesunder Luft wie die Gemeinschaft ; trotzdem würde ich meinen Wald niederhauen und mein Feld behalten, wenn mich die Gemeinschaft nicht entschädigte, aber es ist ebenso in ihrem Interesse, mich zu entschädigen, wie in meinem Interesse, nachzugeben. So ist das Interesse der Gesamtheit beschaffen, das aus der Natur der Dinge hervorgeht.

Aber wenn ihr unter Interesse der Gesamtheit das Interesse versteht, auf Grund dessen ihr meine Fabrik schließt, mir die Ausübung irgendeines Gewerbes verbietet, mir meine Zeitung oder mein Buch beschlagnahmt, meine Freiheit antastet, mir verbietet, auf Grund meiner Privatstudien und meiner Kundschaft Anwalt oder Arzt zu sein, mir befehlt, dies nicht zu verkaufen und jenes nicht zu kaufen, wenn ihr endlich Interesse der Gesamtheit das Interesse nennt, das ihr anruft, um mich daran zu hindern, mein Leben in der Weise zu führen, die mir am besten zusagt und die jedermann kontrollieren kann, so erkläre ich, daß ich euch nicht verstehe, oder vielmehr, daß ich euch nur zu gut verstehe [5].

Um das Interesse der Gesamtheit zu wahren, verurteilt man einen Mann, der seinesgleichen auf ungesetzliche Weise geheilt hat — es ist etwas Böses, das Gute auf ungesetzliche Weise zu tun ; unter dem Vorwand, daß er kein Examen gemacht hat, hindert man einen Menschen daran, die Sache eines souveränen Bürgers zu verteidigen, der ihm sein Vertrauen schenkt ; man verhaftet einen Schriftsteller ; man ruiniert einen Drucker; man sperrt einen Hausierer ein; man führt den dem Gericht vor, der auf der Straße laut schreit oder sich nach eigenem Geschmack frisiert hat. Was habe ich von all diesem Unglück, das so über die Menschen gebracht wird ? Was habt ihr davon ? Ich gehe von den Pyrenäen bis zum Kanal und vom Atlantischen Ozean bis zu den Alpen und frage jeden einzelnen der 36 Millionen Franzosen, welchen Nutzen sie aus diesen albernen Grausamkeiten gezogen haben, die in ihrem Namen an Unglücklichen verübt worden sind, deren Familien seufzen, deren Gläubiger sich beunruhigen, deren Geschäfte zugrunde gehen, die vielleicht aus Verzweiflung Selbstmord begehen oder aus Wut zu Verbrechern werden, wenn sie ihre Strafe verbüßt haben. Und bei dieser Frage weiß niemand, was ich damit sagen will; jeder lehnt jegliche Verantwortung für solche Vorfälle ab ; das Unglück der Opfer hat niemandem etwas genützt; Tränen sind vergossen, Interessen sind geschädigt worden — und alles ohne irgendeinen Sinn. Und diese wilde Greuelwirtschaft nennt ihr Interesse der Gesamtheit ? Ich für mein Teil erkläre, daß ich dieses Interesse der Gesamtheit, wenn es nicht ein beschämender Irrtum wäre, die gemeinste Räuberei nennen würde. Aber lassen wir diese tolle und blutige Fiktion, und stellen wir fest, daß das einzige Mittel, das Interesse der Gesamtheit durchzusetzen, darin besteht, die Einzelinteressen zu wahren ; es ist glänzend bewiesen, daß das wichtigste Erfordernis für das gesellschaftliche Einvernehmen und die Ökonomie darin besteht, vor allem das Einzelinteresse freizusetzen. Ich habe also Grund zu der Feststellung, daß die einzige soziale Wahrheit die natürliche Wahrheit ist, nämlich das Individuum, also ich.

III. Das individualistische Prinzip ist das einzige Prinzip der Brüderlichkeit

Man spreche mir nicht von der Offenbarung oder der Überlieferung oder der chinesischen, phönizischen, ägyptischen, hebräischen, griechischen, römischen, altdeutschen oder französischen Philosophie; abgesehen von meinem Glauben und meiner Religion, für die ich niemandem Rechenschaft schulde, habe ich nichts mit dem Vorfahr zu tun ; ich habe keine Vorfahren ! Für mich beginnt die Schöpfung der Welt mit dem Tage meiner Geburt; für mich ist das Ende der Welt an dem Tage erreicht, wo ich den Organismus und den Atem, die meine Individualität bilden, den Elementen zurückgebe. Ich bin der erste Mensch, ich bin der letzte. Meine Geschichte ist das vollständige Ergebnis der Geschichte der Menschheit, ich kenne keine andere, ich will keine andere kennen. Wenn ich Schmerzen habe, was helfen mir dann die Freuden der andern ? Wenn ich mich freue, was hilft meine Lust denen, die leiden ? ? [6]

Was kümmert mich, was vor mir geschehen ist ? Inwiefern berührt mich, was nach mir kommt ? Ich will weder das Opfer der erloschenen Geschlechter noch ein Beispiel für die Zukunft sein. Ich beschränke mich auf den Kreis meines eigenen Daseins, und das einzige Problem, das ich zu lösen habe, ist das meines eigenen Wohlbefindens. Ich habe nur einen Lehrsatz, dieser Lehrsatz hat nur eine Formel, diese Formel hat nur ein Wort : GENIESSEN. — Ehrlich, wer es gesteht, ein Betrüger, wer es leugnet.

Das ist nackter Individualismus, unverhüllter Egoismus, ich leugne es nicht, ich bekenne es, ich stelle es fest, ich rühme mich dessen ! Zeigt mir, damit ich mit ihm spreche, wer sich darüber beklagen und mich tadeln könnte. Schadet dir mein Egoismus irgend etwas ? Wenn du nein sagst, hast du mir nichts vorzuwerfen, denn ich bin in allem frei, was dich nicht schädigen kann. Wenn du ja sagst, dann bist du ein Spitzbube, denn mein Egoismus ist nur einfach meine Verfügung über mich selbst, eine Berufung auf meine Selbstgehörigkeit, eine Bejahung meiner Person, ein Protest gegen jede Beherrschung ; wenn du dich durch den Akt meiner Besitznahme meiner selbst, der Einbehaltung meiner Person durch mich selbst, das heißt durch mein unbestreitbares Eigentum beeinträchtigt fühlst, dann gibst du zu, daß ich dir gehöre, oder zum mindesten, daß du es auf mich abgesehen hast; du bist ein kompletter oder angehender Menschenbesitzer, ein Wucherer, ein nach dem Besitz anderer Lüsternder, ein Spitzbube.

Es gibt keinen Mittelweg : entweder hat der Egoismus recht oder der Diebstahl ; entweder muß ich mir gehören oder ich muß in den Besitz irgendeines andern kommen. Man kann sich nicht so ausdrücken, daß ich zugunsten aller entsage, denn alle müssen ebenso wie ich entsagen, und so würde bei diesem albernen Spiel jeder nur gewinnen, was er bereits verloren hat, und würde folglich quitt bleiben, d. h., er würde keinen Nutzen davon haben, weshalb diese Entsagung sicherlich ein Unsinn wäre. In dem Augenblick also, wo die Selbstveräußerung aller nicht allen nützen kann, muß sie notwendigerweise einigen nützen ; diese einige sind die Besitzer von allen, und gerade diese sind es wahrscheinlich, die sich über meinen Egoismus beklagen, obwohl sie den Betrag einstreichen, den ich ihnen zu Ehren zeichne.

Jeder Mensch ist ein Egoist, wer aufhört, es zu sein, ist ein Ding. Wer behauptet, man müsse es nicht sein, ist ein Spitzbube.

Ah, jawohl ! Ich verstehe. Das Wort klingt nicht gut; ihr habt es bis auf diesen Tag auf die bezogen, die sich nicht mit ihrem Eigentum begnügten, die sich den Besitz anderer aneigneten ; aber diese Leute sind echte Menschen, ihr jedoch nicht, denn ihr jammert nur über deren Räuberei ; wißt ihr, was ihr damit tut ? Ihr gebt eure Schwachköpfigkeit zu. Ihr habt bis auf diesen Tag geglaubt, es gäbe Tyrannen ! Vernehmt denn, daß ihr euch getäuscht habt, es gibt nur Sklaven : Keiner befiehlt, wo niemand gehorcht.

Hört das Folgende : das Dogma des Verzichts, der Entsagung, der Selbstverleugnung ist den Völkern gepredigt worden. Wohin hat das geführt ? Zum Papsttum und Königtum von Gottes Gnaden, und dann zu den bischöflichen und mönchischen, fürstlichen und adligen Kasten. Ja wahrlich, das Volk hat verzichtet, hat sich vernichtet, hat lange Zeit entsagt ; war das gut? Was glaubt ihr ?

Ihr könntet den etwas außer Rand und Band gekommenen Kirchenfürsten, den Parlamenten, die an die Stelle des Königs, den Ministern, die an die Stelle der großen Vasallen, den Präfekten, die an die Stelle der kleinen Vasallen getreten sind, und dem ganzen Troß des Bürokratenadels kein größeres Vergnügen bereiten, als wenn ihr so schnell wie möglich zu dem überlieferten Dogma der Selbstverleugnung und Entsagung zurückkehrtet. Ihr werdet dann Gönner finden, die euch raten, den Reichtum zu verachten, und die sich verpflichten, ihn euch abzunehmen ; ihr werdet Fromme finden, die euch Enthaltsamkeit predigen und sich darum eifrig mit euren Frauen, Töchtern und Schwestern beschäftigen. Es fehlt uns gottlob nicht an aufopfernden Freunden, die für uns die Verdammnis auf sich nehmen, wenn wir uns entschließen, den alten Pfad der Seligkeit zu gehen, der zum Himmel führt, von dem sie sich aber höflich entfernen, ohne Zweifel um uns nicht den Weg zu versperren.

Warum fühlen sich alle diese Anhänger der alten Heuchelei auf dem Gerüst, das ihre Vorfahren gezimmert haben, nicht mehr sicher? Warum ? Weil die Entsagung verschwindet und der Individualismus sich Bahn bricht; weil der Mensch sich schön genug findet, um kühn die Maske abzuwerfen und sich so zu zeigen, wie er ist.

Die Entsagung ist die Sklaverei, die Demütigung, die Zertretenheit; sie ist der König, die Regierung, die Tyrannei, die Schlacht, der Bürgerkrieg.

Der Individualismus dagegen ist die Befreiung, die Größe, der Adel; er ist der Mensch, das Volk, die Freiheit, die Brüderlichkeit, die Ordnung.

IV. Der Gesellschaftsvertrag ist eine Ungeheuerlichkeit

Wenn jeder einzelne in der Gesellschaft auf seine eigene Person und nur auf sich hält, dann ist die individuelle Souveränität begründet, die Regierung hat keinen Platz mehr, jede Herrschaft ist zerstört, der Mensch ist dem Menschen gleichgestellt. [...][7]

Indessen — unser Leben in der Gesellschaft ist für uns alle durch Vertrag geregelt. Rousseau hat diese Sache erfunden, und seit 60 Jahren wird Rousseaus Geist in unserer Gesetzgebung mitgeschleppt. Auf Grund eines von unseren Vätern verfaßten und zuletzt noch von den großen Bürgern der Konstituierenden Versammlung erneuerten Vertrags verpflichtet uns die Regierung, nur das zu sehen, zu hören, zu sprechen, zu schreiben, zu tun, was sie uns erlaubt. So werden die ewigen Rechte des Volkes veräußert und der Regierung überlassen ; der Regierung, die übrigens außerdem den andern das Recht gewährt, ihr zu dienen, sie zu bezahlen, sie zu lieben und sich schließlich für sie totschlagen zu lassen. Aber selbst wenn das ganze Volk damit einverstanden wäre, sich auf dem Gebiet des Unterrichts, des Kultus, des Kredits, der Industrie, der Kunst, der Arbeit, in seinen Neigungen, seinem Geschmack, seinen Gewohnheiten, seinen Bewegungen, ja selbst in seiner Ernährung beherrschen zu lassen, so erkläre ich, daß dem Recht nach seine freiwillige Knechtschaft für mich ebensowenig bindend ist, wie seine Dummheit meinen Verstand bloßstellen kann ; wenn es eine unzweifelhafte Tatsache ist, daß die Unterwerfung von sechs, sieben oder acht Millionen von Individuen unter einen oder mehrere Menschen mich ebenfalls zwingt, mich demselben oder denselben Menschen zu unterwerfen, so fordere ich jeden einzelnen heraus, der in diesem Akt etwas anderes finden will als eine Spitzbüberei, und ich versichere, daß kein noch so barbarisches Volk jemals einen ausgeprägteren Schurkenstreich verübt hat. In der Tat : acht Millionen Knechte gegen einen freien Menschen moralisch verbündet zu sehen, ist ein so erbärmliches Schauspiel, daß es lächerlich wäre, die Zivilisation gegen diese Roheit anzurufen.

Aber ich kann nicht glauben, daß alle meine Volksgenossen nach reiflicher Überlegung das Bedürfnis zu dienen verspüren. Was ich empfinde, muß jedermann empfinden, was ich denke, muß jedermann denken, denn ich bin nicht mehr und nicht weniger als ein anderer Mensch ; meine Verhältnisse sind ebenso schlicht und mühselig wie die des erstbesten Arbeiters. Ich bin erstaunt, ich bin erschreckt, daß ich bei jedem Schritt, den ich im Leben mache, bei jedem Gedanken, den ich in meinem Hirn empfange, bei jedem Unternehmen, das ich beginnen will, bei jedem Taler, den ich verdienen will, auf ein Gesetz oder eine Verordnung stoße, die mir sagt : hier darf man nicht durchgehen ; so denkt man nicht; das unternimmt man nicht; die Hälfte dieses Talers bleibt hier. Bei diesen vielfachen Hindernissen, die sich von allen Seiten auftürmen, erliegt mein eingeschüchterter Geist der Verdummung; ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, ich weiß nicht, was ich tun, was werden soll. Wer war es, der den Plagen aus der Atmosphäre, der Verwitterung, dem ungesunden Klima, dem Blitz, den die Wissenschaft bezähmt hat, diese geheime und wilde Gewalt hinzugefügt hat, diesen bösen Geist, der wartend an der Wiege der Menschheit steht, um sie durch dieselbe Menschheit verschlingen zu lassen ? Wer war es ? Die Menschen selbst sind es gewesen, die, nicht zufrieden mit der Feindschaft der Naturgewalten, sich auch noch die Menschen zu Feinden gemacht haben.

Die Massen, die noch zu fügsam sind, sind unschuldig an all den Brutalitäten, die in ihrem Namen und zu ihrem Schaden begangen wurden ; sie sind unschuldig daran, aber nicht unkundig ; ich glaube, sie fühlen es ebenso wie ich und entrüsten sich darüber; ich glaube, sie haben ebenso wie ich Eile, ein Ende damit zu machen; nur kennen sie die Ursachen nicht und wissen daher nicht, wie sie handeln sollen. Ich will versuchen, sie auf den einen oder anderen Punkt hinzuweisen.

Beginnen wir damit, die Schuldigen zu bezeichnen.

V. Die Haltung der Parteien und ihrer Blätter

Die Majestät des Volkes hat in der französischen Presse kein Organ. Bürgerliche, adlige, pfäffische, republikanische, sozialistische Zeitungen : Livreen ! nichts als Dienerschaft ! Mit Ausnahme von ganz wenigen Blättern kann ich keine französische Zeitung lesen, ohne für den, der sie geschrieben hat, Mitleid oder tiefste Verachtung zu empfinden.

Auf der einen Seite sehe ich den Regierungsjournalismus herannahen, den Journalismus, dessen Macht auf dem Gold des Etats und dem Eisen des Heeres beruht, dessen Haupt belehnt ist mit der höchsten Autorität, der in seiner Hand die geheiligten Blitze dieser Autorität hält. Ich sehe ihn mit flammenden Augen und Schaum auf den Lippen, mit geballten Fäusten gleich einem Athleten ; brutal und erbärmlich bekämpft er einen entwaffneten Gegner, gegen den er alles wagen kann und von dem er nichts, absolut nichts, zu befürchten hat ; er behandelt ihn als Dieb, Mörder, Brandstifter ; er umstellt ihn wie ein Wild, er wirft ihn ins Gefängnis, ohne zu wissen wie, ohne ihm zu sagen warum ; und dabei klatscht er sich selbst Beifall ob seiner Tat, kündet seinen Ruhm, als ob er durch die Bekämpfung von wehrlosen Leuten irgend etwas riskierte und gewaltige Gefahr liefe.

Diese Feigheit empört mich.

Auf der anderen Seite präsentiert sich der Oppositionsjournalismus, ein lächerlicher, schlecht erzogener Sklave ; er verbringt seine Zeit damit, zu wimmern, zu greinen und um Erbarmen zu flehen ; jedesmal wenn er angespuckt wird oder wenn er eine Ohrfeige versetzt bekommt, sagt er : Sie handeln nicht schön gegen mich, sie sind nicht gerecht, ich habe nichts getan, was euch ärgern dürfte ; und dann bespricht er in der albernsten Weise, als ob er sie bestätigen wolle, die Beschimpfungen, die gegen ihn geschleudert werden : Ich bin kein Dieb, jammert er, ich bin kein Mörder, ich bin doch kein Brandstifter; ich verehre die Religion, ich bin ein Freund der Familie, ich halte das Eigentum hoch; im Gegenteil, ihr seid es, die alle diese Güter verachtet. Ich bin besser als ihr, und ihr unterdrückt mich ! Ihr seid nicht edelmütig !

Diese Erbärmlichkeit widert mich an.

Solchen Angreifern gegenüber wie der eben geschilderten Opposition verstehe ich die Brutalität der Machthaber ; ich verstehe sie, denn schließlich, wenn der Schwache ein Tropf ist, vergißt man seine Schwäche und denkt nur an seine Dummheit, die so widerwärtig ist wie ein kriechendes Tier, das man wie einen Wurm unter den Füßen zertritt. Dieses eine begreife ich nicht bei einer Gruppe von Menschen, die sich Demokraten nennen und im Namen des Volkes, des Prinzips aller Größe und Würde sprechen : die Kriecherei.

Wer im Namen des Volkes spricht, spricht im Namen des Rechts ; nun begreife ich nicht, daß das Recht sich aus der Fassung bringen läßt, ich begreife ferner nicht, daß es sich herbeiläßt, mit dem Irrtum zu verhandein, und mit noch viel größerem Recht kann ich nicht begreifen, daß es bis zum Jammern und Flehen herabsinkt. Man unterwirft sich vielleicht der Unterdrückung, aber man verhandelt nicht mit ihr, wenn man ihren Tod will ; denn verhandeln ist dasselbe wie einen Vergleich schließen. Die Staatsgewalt hat sich festgesetzt ; ihr habt euch einen Herrn gegeben ; ihr, und zwar das ganze Land, auf Grund eurer wunderbaren Ratschläge und durch euer Beispiel, habt euch einigen Menschen zur Verfügung gestellt; diese Menschen gebrauchen die Macht, die ihr ihnen gegeben habt, sie gebrauchen sie gegen euch — und ihr jammert darüber. Warum ? Hattet ihr geglaubt, sie würden die Macht gegen sich selbst einsetzen ? Das konntet ihr nicht denken ; was habt ihr ihnen demnach vorzuwerfen ? Die Macht muß mit Notwendigkeit zugunsten derer verwendet werden, die sie haben, und zum Nachteil derer, die sie nicht haben ; es ist nicht möglich, sie anzuwenden, ohne einem Teil zu schaden und einen anderen zu begünstigen.

Was würdet ihr tun, wenn ihr mit der Macht bekleidet wäret ? Entweder würdet ihr sie überhaupt nicht gebrauchen, und das hieße, ganz und gar auf sie verzichten ; oder ihr würdet sie zu eurem Vorteil und zum Schaden derer verwenden, die sie heute haben und die sie dann nicht mehr hätten ; dann würdet ihr mit eurem Wimmern, Greinen und Um-Erbarmen-Bitten aufhören, ihr würdet die Rolle derer übernehmen, die euch jetzt beschimpfen, und diesen würdet ihr eure jetzige Rolle aufhalsen; aber was kümmert das mich, das Volk, der ich nie die Macht habe, obwohl ich sie mache ; mich, der dem Unterdrücker, wer es auch sei und woher er auch komme, Blut und Geld bezahlt ; mich, der immer der Unterdrückte ist, was für eine Gestalt die Sache auch annimmt; was kümmert mich diese Schaukel, die abwechselnd die Feigheit und die Kriecherei senkt und hebt ? Was die Regierung und die Opposition angeht, so ist diese letztere eine Tyrannei zweiter Garnitur, die nach der ersten drankommt, die gerade verwendet wird. Und wie käme ich dazu, den einen Kämpen weniger zu verachten als den andern, da doch alle beide nur darauf sinnen, ihre Lust und ihr Gedeihen auf dem Grunde meiner Schmerzen und meiner Vernichtung aufzubauen ?

VI. Die Macht ist der Feind

Es gibt keine Zeitung in Frankreich, die nicht eine Partei ausheckt, es gibt keine Partei, die nicht nach der Macht strebt, es gibt keine Macht, die nicht der Feind des Volkes ist.

Es gibt keine Zeitung, die nicht eine Partei ausheckt, denn es gibt keine Zeitung, die sich bis zu dem Grad der Volkswürde erhebt, wo die ruhige und erhabene Geringschätzung der Souveränität thront ; das Volk ist unerschütterlich wie das Recht, stolz wie die Kraft, edel wie die Freiheit, die Parteien sind wetterwendisch wie der Irrtum, zänkisch wie die Ohnmacht, erbärmlich wie die Servilität.

Es gibt keine Partei, die nicht nach der Macht strebt, denn das Wesen der Partei ist die Politik, und sie gestaltet sich daher dem Wesen der Macht entsprechend, die die Quelle aller Politik ist. Wenn eine Partei aufhörte, politisch zu sein, würde sie aufhören, eine Partei zu sein, und zum Volk, das heißt in die Ordnung der Interessen, der Produktion, der Industrie und der Geschäfte, zurückkehren.

Es gibt keine Macht, die nicht der Feind des Volkes ist, denn wie auch die Bedingungen beschaffen sind, unter die sie sich gestellt sieht, welcher Mensch auch mit ihr bekleidet ist, mit welchem Namen man sie auch nennt, die Macht ist immer die Macht, das heißt das unwiderlegliche Zeichen der Abdankung der Volkssouveränität, die Salbung einer angebeteten Herrin. Nun, der Herr — das ist der Feind ; Lafontaine hat es schon vor mir gesagt [8].

Die Macht ist der Feind in der gesellschaftlichen und politischen Ordnung.

In der gesellschaftlichen Ordnung :

Denn die Landwirtschaft, die Nährmutter aller Industrien, wird durch das Steuersystem, mit dem sie die Regierung trifft, vernichtet und von dem Wucher, der notwendigerweise dem Finanzmonopol entspringt, dessen Ausübung die Macht ihren Jüngern oder Agenten garantiert, aufgefressen.

Denn die Arbeit, das heißt die Intelligenz, wird von der Macht, die von ihren Bajonetten unterstützt wird, zugunsten des Kapitals mit Beschlag belegt, zugunsten dieses rohen und an sich blöden Elements, das logischerweise der Hebel der Industrie sein müßte, wenn die Macht sich enthielte, ihre gegenseitige Vereinigung zu hindern, während jetzt das Kapital der Industrie im Wege steht, dank der Macht, die beide voneinander trennt, die nur die Hälfte bezahlt, und die im Falle, daß sie gar nicht zahlt, Gesetze und Gerichte zu ihrer Verfügung hat, und diese Regierungseinrichtungen sind geneigt, die Ansprüche des in seinem Recht geschädigten Arbeiters auf die lange Bank zu schieben.

Denn der Handel, dem das Bankmonopol einen Maulkorb anlegt, zu dem die Macht den Schlüssel hat, und der von dem Henkersknoten einer schimpflichen Schuhriegelung erwürgt wird, dessen Ende die Macht festhält, kann auf Grund eines Widerspruches, der ein Zeugnis des Blödsinns wäre, wenn er noch anderswo als bei dem geistreichsten Volk der Erde vorkäme, sich in betrügerischer Weise auf Kosten von Frauen und Kindern bereichern, während ihm dagegen die Macht unter Androhung von entehrenden Strafen verbietet, zugrunde zu gehen.

Denn der Unterricht ist von der Macht verkürzt, beschnitten und auf den beschränkten Maßstab des Dutzendmenschen zugeschnitten, so daß jede Intelligenz, die nicht von der Macht geeicht ist, als gar nicht vorhanden betrachtet wird.

Denn die Macht verlangt, daß einer den Tempel, die Kirche und die Synagoge bezahlt, auch wenn er weder in den Tempel noch in die Kirche noch in die Synagoge geht.

Denn schließlich, um es in kurzen Worten zu sagen : jeder macht sich strafbar, der anders hört, sieht, spricht, fühlt, denkt, handelt, als es ihm von der Macht vorgeschrieben wird.

Ebenso in der politischen Ordnung :

Denn die Parteien existieren und beflecken das Land mit Blut nur durch die Macht und um der Macht willen [9].

Nicht den Jakobinismus fürchten die Legitimisten, die Orleanisten, die Bonapartisten und die Gemäßigten, sondern die Macht der Jakobiner. Nicht gegen den Legitimismus kämpfen die Jakobiner, die Orleanisten, die Bonapartisten und die Gemäßigten, sondern gegen die Macht der Legitimisten.

Und so wechselseitig.

Alle diese Parteien, die auf der Oberfläche des Landes durcheinander-wimmeln, wie der Schaum auf einer kochenden Masse schwimmt, haben sich nicht auf Grund ihrer abweichenden Lehrmeinungen und Ansichten den Krieg erklärt, sondern auf Grund ihres gemeinsamen Strebens nach der Macht; wenn jede dieser Parteien sich mit Sicherheit sagen könnte, daß keiner dieser Gegner ihr mehr mit seiner Macht lästig fallen würde, so würde die Gegnerschaft sofort aufhören, so wie sie am 24. Februar 1848 aufgehört hat, als das Volk die Macht verschlungen hatte und die Parteien in seinen Schoß zurückgekehrt waren.

Es ist doch wahr : Eine Partei, welche sie auch sei, existiert nur und wird nur gefürchtet, weil sie nach der Macht strebt; es ist doch wahr, daß niemand gefährlich ist, der nicht die Macht hat; es ist folglich wahr, daß jeder gefährlich ist, der die Macht hat; es ist dagegen zu allem Überfluß bewiesen, daß es keinen anderen öffentlichen Feind gibt als die Macht, Also, gesellschaftlich oder polititsch aufgefaßt : Die Macht ist der Feind. Und da ich weiter oben bewiesen habe, daß jede Partei nach der Macht strebt, folgt daraus, daß jede Partei der Feind des Volkes ist.

VII. Das Volk verliert nur seine Zeit und verlängert sein Elend, wenn es sich auf die Händel der Regierungen und Parteien einläßt

So erklärt sich das Fehlen aller Tugenden des Volkes im Schoße der Regierungen und der Parteien ; daher ist bei diesen Gruppen, die sich vom Haß, von elenden Eifersüchteleien, von kleinlichen Strebereien nähren, der Angriff mit Feigheit und die Verteidigung mit Erbärmlichkeit gemischt.

Man muß den alten Journalismus zu Grabe tragen; man muß diese Herren ohne Adel, die davor zittern, Knechte zu werden, absetzen; man muß diese Knechte ohne Stolz, die auf den Moment lauern, wo sie sich zu Herren machen können, entlassen.

Um zu verstehen, wie dringend notwendig es ist, den alten Journalismus zu töten, ist es erforderlich, daß das Volk klar zwei Sachen einsieht.

Erstens darf es nicht seine eigenen Angelegenheiten vernachlässigen und sein Elend dadurch verlängern, daß es sich auf den Streit der Regierungen und Parteien einläßt, indem es seine Tätigkeit auf die Politik verwendet, anstatt sie für seine materiellen Interessen anzuwenden.

Zweitens muß es einsehen, daß es von keiner Regierung und von keiner Partei etwas zu erwarten hat.

Eine ausführlichere und genauere Darlegung vorbehalten, stelle ich die Tatsache fest, daß wenn man eine Partei des patriotischen Glanzes und Ruhmes, mit dem sie sich umgibt, um die Dummen anzuziehen, entkleidet, sie ganz einfach eine Ansammlung von gewöhnlichen Ehrgeizigen ist, die die Ämterjagd betreiben. Das ist so wahr, daß etwa die Republik den Monarchisten erst in dem Augenblick erträglich schien, als die öffentlichen Ämter von den Monarchisten verwaltet wurden, welche, darauf schwöre ich, niemals mehr das Königtum herstellen wollen, wenn man sie in Ruhe die Ämter der Republik einnehmen läßt. Das ist so wahr, daß die Republikaner das Königtum erst in dem Augenblick erträglich gefunden haben, als sie es unter dem Namen der Republik innegehabt und verwaltet haben. Das ist endlich so wahr, daß die Bourgeoispartei von 1815-1830 die Adligen bekriegt hat, weil die Bourgeois von den Ämtern ausgeschlossen waren; daß die Adligen und Republikaner von 1830-1848 die Bourgeois bekriegt haben, weil die einen wie die andern von den Ämtern ausgeschlossen waren, und daß, seitdem die Bonapartisten zur Macht gelangt sind, die große Beschwerde der Republikaner gegen sie dahin geht, daß sie sogenannte republikanische Beamte abgesetzt haben, wodurch sie mit rührender Unschuld gestehen, daß für sie die Republik eine Gehaltsfrage ist.

Aus demselben Grunde, aus dem eine Partei sich rührt, um sich die Ämter oder die Macht anzueignen, strengt sich die Regierung, die damit versehen ist, an, sie zu bewahren. Aber da eine Regierung, ob mit Recht oder Unrecht, mit einem Machtapparat ausgestattet ist, der ihr gestattet, diejenigen, die ihr etwas nehmen wollen, zu hetzen, zu verfolgen, zu unterdrücken, so schiebt das Volk, das die von den Ehrgeizigen hervorgerufenen Unterdrückungsmaßregeln erduldet, seine Angelegenheiten auf, macht auf seinem Wege zum Fortschritt halt und unterrichtet sich über das, was gesprochen und getan wird ; es erhitzt sich, gerät in Zorn und leiht endlich seine starke Hand, um beim Sturze des Unterdrückers Beistand zu leisten.

Aber da das Volk nicht für sich gekämpft hat — das Recht hat, wie ich später erklären werde, keinen Kampf nötig, um zum Sieg zu gelangen —, hat es ohne Nutzen gesiegt ; sein Arm, der sich in den Dienst der Ehrsüchtigen gestellt hat, hat einer neuen Clique anstelle der alten zur Macht verholfen, bald werden die Unterdrücker von gestern die Unterdrückten von heute, und das Volk, das, wie zuvor, die Rückwirkung der Unterdrückungsmaßregeln auszustehen hat, die durch die Agitation der unterlegenen Partei hervorgerufen werden, und dessen große Seele durch die Bedrängnis der Opfer gerührt wird, schiebt von neuem seine Angelegenheiten auf und leiht noch einmal den Ehrsüchtigen seine starke Hand.

Aber schließlich verliert das Volk in diesem brutalen und grausamen Spiel nur seine Zeit und verschlimmert seine Lage ; es verarmt und duldet. Es rückt nicht um Haaresbreite von der Schwelle.

Es ist schwer, das gestehe ich ohne weiteres, für die Schichten des Volkes, die ganz Stimmung, ganz Leidenschaft sind, sich zurückzuhalten, wenn der Stachel der Tyrannei sie peinigt; aber wenn bewiesen ist, daß das Ungestüm der Parteien nur dazu führt, die Sache zu verschlimmern, wenn es überdies bewiesen ist, daß das Übel, über das das Volk sich zu beklagen hat, ihm von Gruppen zugefügt wird, die schon einzig und allein dadurch, daß sie nicht ebenso wie das Volk handeln, gegen das Volk handeln, so bleibt den Parteien nur übrig, haltzumachen im Namen des Volkes, das sie unterdrücken, das sie verarmen, das sie verdummen und daran gewöhnen, nichts zu tun, als sich untereinander zu streiten. Aber man braucht nicht auf die Parteien zu zählen. Das Volk darf nur auf sich selbst zählen.

Wir brauchen nicht weit in unserer Geschichte zurückzugehen, wir brauchen nur die Blätter der letzten zwei Jahre zu betrachten, und es ist leicht zu sehen, daß die Unterdrückungsgesetze, die gegeben worden sind, alle die Wut der Parteien zur ersten Ursache haben. Es wäre lang und widerwärtig, das alles aufzuzählen, aber, um mich nach der Genauigkeit der geschichtlichen Tatsachen zu richten, darf ich sagen, daß die einzige tyrannische Maßregel seit 1848, die sich nicht auf die Parteizettelungen gründet, diejenige des Herrn Ledru-Rollin [10] ist, deren Ausführung er in seinen Zirkularen seinen Präfekten einschärft.

Seit dieser Epoche sind die Rechte des Volkes, eines nach dem andern, dahingegangen, um von dem Ungestüm und der Agitation der Ehrsüchtigen zugedeckt und ihnen ausgeliefert zu werden. Da die Staatsgewalt nicht unterscheiden kann, trifft das Gesetz jedermann mit den Schlägen, die nur die Parteien treffen sollten; das Volk wird unterdrückt; die Schuld daran liegt nur bei den Parteien.

Wenn die Parteien nicht mehr das Volk hinter sich fühlten, wenn zum mindesten das Volk sich mit seinen materiellen Interessen, mit seiner Industrie, seinem Handel beschäftigte und dieser niedrigen Kriegskunst, die man Politik nennt, Gleichgültigkeit oder gar Verachtung entgegenbrächte; wenn es hinsichtlich der moralischen Agitation dieselbe Haltung einnähme, wie am 13. Juni [11] hinsichtlich der materiellen, so wären die Parteien plötzlich isoliert und müßten ihre Agitation einstellen ; das Gefühl ihrer Ohnmacht würde ihre Kühnheit mit kaltem Wasser begießen ; sie würden an Auszehrung sterben, allmählich wieder ins Volk hineinbröckeln und schließlich verschwinden; und die Regierung, die nur durch die Opposition existiert, die sich nur von den Streitigkeiten der Parteien ernährt, die ihre Existenzberechtigung nur aus den Parteien herleiten kann, die in einem Wort seit fünfzig Jahren sich nur damit beschäftigt, sich zu verteidigen, die daher, wenn sie sich nicht mehr verteidigt, aufhören würde zu sein, die Regierung, sage ich, würde wie ein Leichnam verwesen; sie würde sich von selbst auflösen, und die Freiheit wäre begründet.

[VIII] [12]

IX. Von der politischen Wahl oder dem allgemeinen Stimmrecht

In natürlicher Weise bin ich durch die vorhergehenden Ausführungen zu der Untersuchung der Ursachen geführt worden, die die Fehler, von denen ich gesprochen habe, bedingen. Diese Ursachen finde ich im Wahlrecht.

Es ist nun zwei Jahre her, seit aus schmutzigen Gründen, von denen, wie ich gern glauben will, die Parteien sich nicht Rechenschaft geben, das Volk in dem Glauben festgehalten wird, es gelange nur mit Hilfe und durch Vermittlung von regelrecht gewählten Vertretern zur Souveränität und zum Wohlstand.

Der Stimmzettel kann das Volk ganz genau in derselben Weise zur Freiheit, zur Souveränität und zum Glück führen, wie ein Mann dadurch zu Vermögen kommt, daß er seinen ganzen Besitz wegschenkt : Ich will damit sagen, daß die Ausübung des allgemeinen Stimmrechts nicht im mindesten eine Garantie der Souveränität — im Gegenteil, den reinen und vollständigen Verzicht auf dieselbe darstellt. Das Wahlrecht, von dem die Zungendrescher der letzten Revolution so oft und so ernsthaft geschwatzt haben, das der Freiheit vorangestellt wurde wie die Frucht der Blüte, wie die Folge der Grundursache, wie das Rechtssystem den Tatsachen, dieses Wahlrecht ist die feierlichste Platitüde, die jemals zu irgendeiner Zeit und in irgendeinem Lande erdacht worden ist. Nicht nur haben diejenigen, die sich erlaubt haben, die die Kühnheit gehabt haben, das Volk zur Wahlurne zu rufen, bevor es sich in seiner Freiheit bequem machen konnte, gröblich seine Unerfahrenheit und die furchtsame Gefügigkeit, die eine lange Abhängigkeit seinem Charakter aufgeprägt hat, mißbraucht; sondern sie haben auch dadurch, daß sie dem Souverän Befehle gaben und daß sie sich allein mit dieser Tatsache als seine Vorgesetzten erklärten, die einfachen Regeln der Logik mißachtet, und diese Unwissenheit sollte sie zum Opfer ihrer eigenen anomalen Erfindung machen, das Produkt des allgemeinen Stimmrechts schickte sie in die traurige Verbannung [13].

Auf eine seltsame Sache muß ich zuerst im Interesse der folgenden Darlegungen den Leser aufmerksam machen : Das allgemeine Stimmrecht dient in Wahrheit dem Nutzen der Gruppe, die von der Dienerschaft der Monarchien gebildet wird, das heißt, dem Vorteil der erklärten Feinde des allgemeinen Stimmrechts. Das Volk hat denen, die es umstellt hatten, noch seinen Dank abgestattet ; es hat ihnen mit seiner Abstimmung das Recht gegeben, von dem sie Gebrauch machen, das Recht, es mit dem Netz und mit der Lockpfeife, mit freiem Schuß oder in der Wolfsgrube zu jagen, mit dem Gesetz als Waffe und ihresgleichen als Hunden.

Wahrlich, angesichts eines Wesens, das die verschlingt, die ihm das Leben gegeben haben, und das die allmächtig macht, die es schon im Keime gemartert haben, ist es mir, glaube ich, wohl erlaubt, dieses angebliche Palladium der Demokratie, das man Wahlrecht oder allgemeines Stimmrecht nennt, nicht ohne Prüfung hinzunehmen. Ich bin sogar so frei, zu erklären, daß ich es bekämpfe, wie man eine verhängnisvolle Einrichtung, ein ungeheuerliches Unding bekämpft.

Der Leser wird schon begriffen haben, daß es sich nicht darum handelt, ein Volksrecht zu bekämpfen, sondern einen verhängnisvollen Irrtum zu berichtigen. Das Volk hat alle Rechte, die man irgend ersinnen kann ; ich für mein Teil nehme alle Rechte für mich in Anspruch, selbst das, mir das Hirn zu verbrennen oder mich in den Fluß zu stürzen ; aber abgesehen davon, daß mein Recht zur Selbstvernichtung außerhalb des Friedens des Naturgesetzes steht und aufhört, sich ein Recht zu nennen, da es eine Ausnahme des Rechts ist, ein Schritt der Verzweiflung, abgesehen also davon ist diese ungewöhnliche Verstiegenheit, die ich nur aus Gründen der Logik noch ein Recht nenne, in keinem Fall imstande, seinesgleichen zu veranlassen, das Los zu teilen, das ich nach meinem Belieben gewählt habe. Ist es aber ebenso hinsichtlich des Wahlrechts ? Nein. In diesem Fall ist der, der sich der Abstimmung enthält, genötigt, das Los des Wählers zu teilen.

Ich glaube hartnäckig, die Wähler wissen nicht, daß sie sich durch die Wahl bürgerlich und sozial selbst morden ; ein altes Vorurteil trennt sie noch von sich selbst, und ihre Gewohnheit, bei der Regierung zu sein, hindert sie zu sehen, daß es von ihnen abhängt, bei sich zu sein [14]. Aber wenn ich selbst den unmöglichen Fall annehme, daß die Wähler, die ihre dringendsten Angelegenheiten verabsäumen, um sich an der Wahl zu beteiligen, tatsächlich wüßten, daß sie mit der Abstimmung sich selbst ihrer Freiheit, ihrer Souveränität, ihres Wohls zugunsten ihrer Erwählten beraubten, wenn ich annehme, daß sie das wissen und daß sie frei, aber verrückt darein willigen, sich in die Abhängigkeit von ihren Beauftragten zu begeben, so sehe ich nicht ein, wieso ihr eigener Verzicht den von ihresgleichen herbeiführen kann. Ich sehe zum Beispiel nicht ein, wieso oder warum die drei Millionen Franzosen, die niemals abstimmen, die gesetzliche oder willkürliche Unterdrückung verwirkt haben, die durch eine Regierung auf dem Land lastet, die von sieben Millionen Wählern fabriziert worden ist. Ich sehe in einem Wort nicht ein, wie es kommt, daß eine Regierung, die ich nicht gemacht habe, die ich nicht habe machen wollen, mit deren Herstellung ich niemals einverstanden sein werde, von mir Gehorsam und Geld verlangt, unter dem Vorwand, sie sei von ihren Herstellern dazu ermächtigt worden. Offenbar handelt es sich um einen Köder, über den noch etliches zu sagen ist. Aber zuvor will ich eine Bemerkung anfügen, die mir anläßlich der Wahl vom 28. dieses Monats [15] einfällt.

Als ich den Einfall hatte, diese Zeitung herauszugeben, habe ich mir weder einen Tag herausgesucht noch an die bevorstehende Wahl gedacht; im übrigen reichen meine Meinungen etwas weiter, als daß sie sehr ergebene Diener von Umständen und Gelegenheiten sein könnten.

[...][16]

Die Parteien werden diese Zeitung mit Verachtung empfangen ; das ist nach meiner Ansicht das Klügste, was sie tun können. Sie wären gezwungen, sie zu sehr zu respektieren, wenn sie sie nicht verachteten. Diese Zeitung ist nicht die Zeitung eines Menschen, sie ist die Zeitung des MENSCHEN, oder sie ist nichts.

[X][17]

XI. Das Erstgeburtsrecht und das Linsengericht des Volkes[18]

Ihr dürft indessen nicht glauben, ihr enttäuschten Bourgeois, ihr verkrachten Junker, ihr geopferten Proletarier, ihr dürft nicht glauben, was euch geschehen ist, wäre nicht eingetreten, wenn ihr Peter anstelle Pauls gewählt hättet, wenn ihr eure Stimmen für Jakob anstatt für Franz abgegeben hättet. Ihr seid geliefert, auf welche Art ihr auch wählt, und wer auch immer der Triumphator ist, sein Erfolg schleppt euch mit sich. Vom einen wie vom anderen habt ihr alles zu fordern ; das heißt, ihr selber habt nichts mehr !

Übrigens, beachtet das wohl — es ist keine tiefe Weisheit, es ist eine schlichte, reine Wahrheit —, wenn das Übel allein von den Reaktionären käme, wenn die Revolutionäre euer Glück machen könnten, ihr wäret längst Überglückliche! Denn seit Robespierre und Marat — Gott habe sie selig ! — sind immer Revolutionäre an der Regierung gewesen. Niemand ist revolutionärer gewesen als Herr Thiers ; Herr von Montalembert [19] hat über die absolute Freiheit Reden gehalten, wie niemand sie schöner halten kann. Herr Berryer [20] ist von 1830 bis 1848 ein Verschwörer gewesen ; Herr Bonaparte hat mit der Feder, mit Worten und mit Handlungen Revolution gemacht. Gar nicht zu reden von der Bergpartei [21]; diese Brüderschaft hat mehrere Monate lang die Mittel der Regierung in den Händen gehabt, lange genug, um euch mit dem Segen des Wohlstands überschütten zu können. Alle haben sie in Revolution gemacht, solange sie nicht in Regierung machten, aber ebenso haben sie, sowie sie an der Regierung waren, die Revolution unterdrückt.

Wenn ihr euch eines schönen Tages einfallen ließet, mich, der ich hier zu euch spreche, mit der Regierung zu bekleiden, und wenn ich in einem Augenblick der Vergeßlichkeit oder des Taumels, anstatt eure Dummheit zu bemitleiden oder zu verachten, mich darauf einließe, bei dem Diebstahl, den ihr an euch selbst begeht, als Hehler mitzuwirken, bei Gott, ihr solltet euer blaues Wunder erleben ! Habt ihr nicht genug an den Erfahrungen, die ihr hinter euch habt ? Ihr seid sehr schwer von Begriff!

In allerjüngster Zeit habt ihr eine weiße Regierung gewählt ; ihr könnt euch nicht wundern, daß sie ihre einzige Aufgabe darin erblickt, die Roten loszuwerden. Wenn ihr eine rote Regierung wählt, wäre es doch spaßhaft, wenn ihr es schlimm fändet, daß sie ihre einzige Aufgabe darin sieht, die Weißen loszuwerden. Aber die Weißen und die Roten rächen sich nur mit Hilfe von Ausnahme- und Unterdrückungsgesetzen ; und auf wem lasten diese Gesetze ? Auf denen, die weder rot noch weiß sind, oder die zu ihrem Schaden abwechselnd weiß und rot sind : Das Volk ist grün und blau geschlagen von den Hieben, die sich die Weißen und die Roten auf seinem Rücken versetzen.

Ich kritisiere nicht die Regierung ; sie ist zum Regieren gemacht worden, sie regiert, sie benutzt ihr Recht, und was sie auch tut, ich behaupte, sie tut ihre Pflicht. Damit, daß die Wählerschaft ihr die Gewalt gab, hat sie ihr gesagt : Das Volk ist verdreht, sieh du nach dem Rechten; es ist zügellos, mäßige du es ; es ist dumm, du hast Verstand. Die Wählerschaft, die das zur gegenwärtigen Majorität, zum Präsidenten von heute gesagt hat, sagt dasselbe, da es nicht mehr und nicht weniger sagen kann, einer beliebigen anderen Majorität, dem erstbesten anderen Präsidenten. Das Volk überläßt eben mit der Abstimmung Leib und Habe der Gnade seiner Erwählten, damit sie seine Freiheit und sein Vermögen brauchen und mißbrauchen. Da keiner sich etwas vorbehalten hat, kennt die Autorität keine Schranken.

Aber die Rechtlichkeit ! sagt man ; aber das Zartgefühl! aber die Ehre ! — Schall und Rauch ! Ihr seid sentimental, wo es um Zahlen geht ; wenn ihr eure Interessen in Gewissen anlegt, dann werft ihr sie zum Fenster hinaus. Das Gewissen ist ein Ventil: Beängstigende Winde werden hinausbefördert.

Überlegt einen Augenblick, was ihr tut. Ihr drängt euch um einen Mann wie um eine Reliquie ; ihr küßt den Saum seines Kleides ; ihr umbrüllt ihn zum Taubwerden; ihr überhäuft ihn mit Geschenken; ihr stopft seine Taschen mit Gold voll ; ihr beraubt euch ihm zuliebe all eurer Schätze; ihr sagt zu ihm : Sei freier als die Freien, reicher als die Reichen, stärker als die Starken, gerechter als die Gerechten, und dann fällt es euch ein, kontrollieren zu wollen, welchen Gebrauch er von euren Geschenken macht ? Ihr erlaubt euch, dies zu bekritteln, jenes zu bemängeln, seine Ausgaben nachzurechnen und von ihm Rechnungslegung zu verlangen ? Was soll er euch denn für eine Rechnung legen ? Nein, nein, ihr habt keinen Anspruch gegen ihn; der Schein, den ihr präsentieren wollt, hat keine Unterlage; niemand ist euch etwas schuldig ! Jetzt schreit, wütet, droht, das ist verlorene Mühe; euer Beauftragter ist euer Herr; neigt euch und gebt euch zufrieden !

In der Biblischen Geschichte wird erzählt, Esau habe sein Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht verkauft. Das Volk tut noch mehr; es verschenkt seine Erstgeburt und die Linsen dazu.

[XII-XIII][22]

[1] Bei Landauer irrtümlicherweise : Rassen.

[2] Anmerkung Landauers : «Das Wort <Demokratie>wird von Bellegarrigue und seinen Zeitgenossen nicht in dem Sinne der Mehrheitsherrschaft gebraucht. Der Verfasser scheidet nicht so streng, ihm ist Herrschaftslosigkeit und Selbstbeherrschung des Volkes noch dasselbe.»

[3] Anmerkung Landauers : «Im französischen Text : des individus et de leur avoir. Ich wähle diese deutschen Worte, um auf die auffallende Übereinstimmung mit den Gedankengängen, die Stirner sechs Jahre zuvor in seinem Buch <Der Einzige und sein Eigentum >niedergelegt hat, hinzuweisen.»

[4] Anmerkung Landauers : «Aber zu Unrecht ; infolge der Usurpation des Privateigentums, die Bellegarrigue zu vergessen scheint.»

[5] Anmerkung Landauers : «Der Leser bemerkt wohl selbst, daß Bellegarrigue nur die politische Unterdrückung im Auge hat, aber an die wirtschaftliche, die von mindestens ebenso großer Bedeutung ist, gar nicht zu denken scheint. Daher auch seine einseitige Beurteilung des Bürgerkrieges, dem ja häufig nicht nur Machthaberrivalitäten, sondern auch Klassenkämpfe zugrunde liegen.»

[6] Anmerkung Landauers : «Es scheint, als habe Bellegarrigue hier selbst empfunden, wie einseitig er ist. Denn er biegt der Logik aus. Seine zweite Frage hätte ja eigentlich lauten müssen : Wenn ich mich freue, was liegt mir dann an den Schmerzen anderer ? Aber man kommt nicht so schnell ums Mitleid herum.» [So ein Schwachsinn...]

[7] Wenn das einmal erreicht ist, sieht Bellegarrigue eine Neuordnung der Gesellschaft auf der Basis der Gemeinde voraus, in der das Individuum frei und souverän ist und in der es nur noch Verwaltungsorgane, aber keine Regierung mehr gibt. Das Haupthindernis auf diesem Weg sieht er in der weithin akzeptierten Vorstellung vom contrat social (Gesellschaftsvertrag), da die Gesellschaft nicht etwas künstliches, sondern ein «von der Vorsehung bestimmtes und unzerstörbares Phänomen » sei. (Frz. T. S. 7-8.)

[8] La Fontaines Fabel «Der Greis und der Esel », auf die Bellegarrigue hier anspielt, handelt von einem Esel, der mit seinem Herrn auf einer Wiese rastet und sich beim Nahen eines Feindes weigert, zu fliehen: «Was kümmert's mich, wem ich gehöre?» spricht das Vieh. «Laß mich nur hier, ich bleibe gern; Als Feind betracht' ich meinen Herrn, Das sag' ich dir; und nun entflieh'.» Zitiert nach Jean de La Fontaine, Die Fabeln, Leipzig o.J. [1880], S.103.

[9] Landauer hatte in den folgenden beiden Absätzen, offenbar um die Anschaulichkeit für den deutschen Leser zu erhöhen, zeitgenössische deutsche Parteien als Beispiele eingesetzt. Diese wurden hier wieder durch die ursprünglich von Bellegarrigue genannten französischen Parteien ersetzt.

[10] Alexandre Auguste Ledru-Rollin (1807-1874) wurde in der Februarrevolution 1848 als Mitglied der demokratischen Opposition Innenminister in der provisorischen Regierung. Mit der Maßregel ist offenbar seine Vorbereitung der ersten auf dem allgemeinen Stimmrecht basierenden Wahlen in Frankreich gemeint, zumal Bellegarrigue in Kap. IX das allgemeine Stimmrecht ausdrücklich zur Ursache für die Unterdrückung des Volkes erklärt.

[11] Am 13. Juni 1849 kam es in Paris zu einer großen, von den Montagnards (vgl. Text 1, S. 97, Anm. 22) unter Ledru-Rollin u. a. organisierten Kundgebung wider das militärische Vorgehen Frankreichs gegen die Republik Rom. Die Kundgebung endete mit der Einsetzung einer revolutionären Regierung, doch waren die Truppen bald Herr der Lage.

[12] Das Kapitel VIII «Das Volk hat nichts von irgendeiner Partei zu erwarten » führt die Argumentation von Kap. VII fort und gipfelt in der Feststellung, daß bei allen von den Parteien versprochenen Reformen noch nie etwas herausgekommen sei, da ihre Verwirklichung ganz natürlich die Macht des Volkes vergrößern, die der Regierung aber schmälern würde, weshalb jede an der Macht befindliche Partei davor zurückschrecke. (Französischer Text S. 14-17.)

[13] Durch das allgemeine Wahlrecht kam Louis Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleonlll., an die Macht; am 10. Dezember 1848 wurde er mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Nach dem 13. Juni 1849 (vgl. Text 1, S. 93, Anm. 12) mußte u. a. auch Ledru-Rollin (vgl. Text 1, S.92, Anm. 11), der als Innenminister der provisorischen Regierung dem allgemeinen Stimmrecht zum Durchbruch verholfen hatte, Frankreich verlassen.

[14] Diese «Hegelei » geht nicht erst auf die Übersetzung Landauers zurück, sondern findet sich auch bei Bellegarrigue : et l'habitude qu'ils ont d'être chez le gouvernement les empêche de voir qu'il ne tient qu'à eux d'être chez eux.

[15] Im April 1850 fanden Ergänzungswahlen zur Nationalversammlung statt, die Gewinne für die republikanische Linke erbrachten. Am 31. Mai hob die Nationalversammlung das allgemeine Wahlrecht faktisch auf, indem sie u. a. Leute, die keine Steuern zahlten, davon ausschloß ; etwa drei Millionen Bürger waren von dieser Maßnahme betroffen.

[16] Bellegarrigue weist kurz darauf hin, daß die Wahl und das Erscheinen seiner Zeitung nichts miteinander zu tun hätten, zumal er für keine Partei eintrete, sondern das parlamentarische System an sich bekämpfe. (Französischer Text 5.19.)

[17] Im Kapitel X «Das Wahlrecht ist und kann heute nichts anderes sein als ein Schwindel und ein Raub» wird den Argumenten des Kap. IX nichts Neues hinzugefügt .

[18] Im französischen Text : peuple français.

[19] Marc René, Comte de Montalembert (1777-1831) war seit 1819 Mitglied der Chambre des Pairs, wo er in einer berühmten Rede forderte, Frankreich möge endlich, von den Ausnahmegesetzen befreit, die Fülle seiner konstitutionellen Freiheiten genießen.

[20] Pierre Antoine Berryer (1790-1868), Rechtsanwalt und Royalist, zugleich aber Verteidiger bedeutender Verfolgter der Restauration, schloß sich 1830 der legitimistischen Oppositionsfraktion in der Kammer an.

[21] Bergpartei = Montagnards. So hießen während der Französischen Revolution die demokratischen Abgeordneten des Konvents, da sie gemeinsam auf den höchstgelegenen Bänken saßen. Sie bildeten keine eigentliche Partei; ihre Führer waren Danton, Marat und Robespierre. In der II. Republik übernahmen die Abgeordneten der Linken in der Constituante (1848) diesen Namen. Ihre Führer waren Pyat, Ledru-Rollin, Delescluze. Nach dem von ihnen organisierten Aufstandsversuch vom 13. Juni 1849 verlor die Partei ihren Einfluß, da viele führende Mitglieder verhaftet wurden oder ins Ausland flohen.

[22] In Kapitel XII «Was die Regierungen hervorbringt ist nicht das, was sie am Leben erhält» und XIII «Die Politik demaskieren heißt sie töten» geht Bellegarrigue nochmals näher auf den Gedanken ein, daß auch eine demokratische Regierung ein Feind des Volkes sei, da sich jeder mit seiner Stimmabgabe einer Regierung ausliefert, auf deren weiteres Verhalten er keinen Einfluß mehr hat. Zwar räumt er ein, daß, je weniger Menschen an der Wahl teilnehmen, um so weniger Leute die jeweilige Regierung bestimmen, aber er sieht abschließend doch in der Absage, ja in der «Negation der Politik » die Chance für eine «neue Politik », die die Freiheit begründen wird.