Alfredo M. Bonanno
Wer hat Angst vor der Revolution?
Dass die Revolution, wenn sie einmal realisiert wird, zumindest in ihrer Anfangs- und Ausbruchsphase, die Gelegenheit für ein um sich greifendes, jede auf der Ausbeutung errichtete Ordnung zerstörendes Phänomen darstellt, ist unbestrittene Sache und kein Anarchist, so scheint mir, hat dagegen jemals etwas einzuwenden gefunden. Dass jene, die Angst haben vor diesem zerstörerischen Moment, in dem unglaubliche Kräfte in der Masse der Unterdrückten aufsteigen, diejenigen sind, die aus der Unterdrückung Nutzen ziehen, ist ebenfalls unbestritten, da diese letzteren diejenigen sind, die vom Getobe der heilenden Gewalt hinfortgerissen werden. Und doch, wenn wir einige abrupte Reaktionen genauer betrachten, die hier und dort in den Diskursen mancher Gefährten durchsickern, hören wir bei vielen eine gewisse Angst, oder, um weniger drastisch zu sein, ein gewisses Unsicherheits- und Panikgefühl heraus.
Jedenfalls, ohne die Anarchisten in zwei Lager teilen zu wollen: in jene, die am Syndrom der realisierten Revolution leiden, und jene, die davon befreit sind, so behaupten wir, dass wir alle, manche mehr und manche weniger, tatsächlich Angst vor der Revolution haben, als mögliches Ereignis, das morgen, auf plötzliche Weise eintreten kann, und das uns, in seinem Ausbrechen, unvorbereitet und verdutzt vorfinden könnte.
Und die Funktion der anarchistischen Minderheit?
Viele Gefährten sind sehr argwöhnisch, was die Aufgaben und die Möglichkeiten einer anarchistischen Minderheit gegenüber der sozialen Konfrontation betrifft. Grosso modo leitet sich dieser Argwohn aus einem Missverständnis des Konzeptes selbst von Minderheit ab. Diese Gefährten stellen sich die anarchistische revolutionäre Aktion wie einen “Samen unter dem Schnee” vor, ein langsames Absetzen von Konzepten, von Verhaltensweisen, von pädagogischen Handlungen, von edlen Beispielen, von klärenden Analysen; woraus sich dann, später, angesichts der gleichzeitigen Entwicklung der sozialen, ökonomischen, politischen,... Verhältnisse, die ideale Bedingung der Revolution ergibt. Nun: diese Art und Weise, die Dinge zu betrachten, scheint mir falsch.
Die anarchistische Minderheit muss auf alle Art und Weisen handeln, um jene Bedingungen zu realisieren, die zur Revolution führen. Sie muss “auf alle Art und Weisen” handeln, das heisst, indem sie sich nicht nur auf die analytische Klärung der sozialen, ökonomischen, politischen,... Probleme beschränkt, sondern die Unterdrücker jeden Schlags auch angreift und, womöglich, wenn auch in partiellen Zielen, besiegt.
Auf der aufständischen Ebene, also auf der Ebene der Wahl von sektoriellen Zielen, die es sich herauszunehmen und zu besiegen gilt, auch bei einer momentanen Trägheit der grossen Mehrheit der Ausgebeuteten, ist die anarchistische Minderheit handelnd, daher muss sie sich, eben weil sie eine solche ist, jene minimalen unentbehrlichen – organisatorischen und operativen – Instrumente verschaffen, die es erlauben, diese sektoriellen Ziele im Konkreten zu realisieren, um es zu vermeiden, dass sie reines spontaneistisches Wunschtraumdenken bleiben. Wenn dieses Missverständnis aus dem Weg geräumt ist, da es keinen Grund gibt, weshalb es nicht aus dem Weg geräumt werden sollte, scheint mir das Problem des „Wer hat Angst vor der Revolution?“ einer Lösung bereits näher gebracht; schliesslich ist es nicht denkbar, dass jemand, der seit langem an der Realisierung von partiellen und limitierten Angriffen gearbeitet hat, sich angesichts der Generalisierung seines winzigen operativen Modells von einer plötzlichen Panik mitreissen lässt.
Aber es bleiben andere Einwände. Im Grunde, nach so vielen Jahrhunderten Unterdrückung und so vielen Jahrzehnten spezifischer Angriffe gegen unsere Bewegung, die von den amtierenden Unterdrückern sehr oft als bevorzugter Bezugspunkt ins Visier genommen wurde, haben wir Anarchisten uns fast schon in die Niederlage “verliebt”. Ich bin nicht sicher, aber es scheint mir, dass in vielen von uns der Geist des Märtyriums jenen des Siegers überwiegt. Der Schein des Heiligen, der sich, isoliert und wunderschön, für die unwissenden, unbewussten und undankbaren Volksmassen aufopfert, strahlt zu sehr vor Licht, um gegenüber den konkreten und keineswegs sympathischen Problemen von denjenigen nicht bevorzugt zu werden, die vor einem siegreichen Aufstand stehen und mit den millenaristischen Hoffnungen der Leute abrechnen müssen. Geschweige denn von der kolossalen Schwierigkeit der Probleme von denjenigen, die vor einer siegreichen Revolution stehen. Das sind Probleme von organisatorischer, ökonomischer und militärischer Natur, die einen, quasi, die wunderbare isolierte Aufopferung von demjenigen bevorzugen lassen, der sich rächend über die Masse erhebt. Und doch, falls wir nicht tatsächlich in den Seiten der historischen Folklore verschwinden wollen, müssen wir die Ikonografie durchbrechen, die uns als Verlierer hinstellen will, aber sie auch in unseren Herzen, und nicht nur in unseren Gedankengängen durchbrechen. Ansonsten wird alles, was wir tun werden, auch die aufständischen Aktionen, woran wir uns beteiligen werden, nicht mit der schwarzen Fahne der gerechten Forderungen der Ausgebeuteten gekennzeichnet sein, sondern mit der weissen Fahne der Niederlage und der Kapitulation im Voraus. Und unsere Aufopferung, wenn sie das intime Bedürfnis wird erfüllen können, uns für ein Ideal aufzuopfern, wird gewiss nicht auf die Gutheissung der Unterdrückten und der Ausgebeuteten stossen, die nur allzu viele Aufopferungen schon erbracht haben, und die jene nicht besonders mögen, die darauf beharren, sich aufzuopfern, selbst wenn der Sieg in greifweite ist.
Schluss also mit den Diskursen, die behaupten, dass die Kraft von einer revolutionären Aktion anhand der Anzahl der Toten und der gefangenen Gefährten berechnet wird. Meiner Ansicht nach, bis zum Beweis des Gegenteils, wird sie anhand der Anzahl der Toten des Feindes, anhand der Quantität an zerstörten Unterdrückungsinstrumenten und anhand der Anzahl von konkreten Möglichkeiten berechnet, die in der Perspektive realisiert worden sind, die einzelnen isolierten Aktionen zu ihrer natürlichen revolutionären Mündung zu führen. Jede andere Einschätzung ist nicht nur verliererhaft, sondern ist das unbestreitbare Zeichen eines Überrests von Verliebtheit in den Tod.
Und weiter. Der Narzissmus der Perfektion zieht viele von uns an. Unser Modell duldet keine Diskussionen, wir sind jene der Reinheit und der vergoldeten Isolation. Innerhalb vom Elfenbeinturm unserer Ideen lassen wir keine Diskussionen zu – geschweige denn von einer vorübergehenden Abstimmung von Aktionen und Taten – während wir jegliches Zugeständnis an die Realität der Klassenkonfrontation ablehnen. Auf diese Weise sähen wir, bestenfalls, wie isolierte Propheten einer besseren Welt aus, die die Verlangen der Unterdrückten zusammenfasst, während in Wirklichkeit wir selbst die hauptsächlichen Einbalsamierer unseres Ideals sind. Aus dem Empyreum der idealen Konstruktionen in die Realität der Konfrontation hinabsteigend, sind wir gezwungen, unseren Narzissmus abzulegen, aber deshalb laufen wir nicht Gefahr – wie einige befürchten – unser Kampfmotto abzulegen, das “Alles und Jetzt” sein muss. Hier verbirgt sich eine anscheinende Schwierigkeit. Manche Gefährten denken, dass die Tatsache, konkrete Probleme anzugehen: organisatorische, militärische, ökonomische, strukturelle,... Probleme, unsere Bemühung von der sozialen Ebene auf die politische Ebene sinken lässt und uns daran hindert, unser Programm des “Alles und Jetzt” vorzuschlagen, da wir uns auf die Programme der als Revolutionäre getarnten “Reformiste” herablassen würden. Das ist alles falsch. Der Kampf um präzise Ziele muss, wenn er nicht wunschtraumhaft und rein ideologisch sein will, stets um partielle Ziele geführt werden, indem wir unsere Mittel (jene der revolutionären Minderheit) an die Ziele (jene der grossen Mehrheit der Ausgebeuteten) anpassen. Doch in seiner Partialität enthält unser Kampf das Zeichen der revolutionären Totalität, da er sich nicht als nur auf die Erreichung des partiellen Ziels ausgerichtet präsentiert (so sehr dieses Ziel auch das ist, was ihn real und realisierbar macht), sondern darüber hinaus geht, weiteren partiellen Zielen entgegen; denn aus der fortwährenden Realisierung der partiellen Ziele entsteht die realisatorische Zeichnung der revolutionären Totalität des “Alles und Jetzt”.
In dieser Perspektive werden die partiellen revolutionären Projekte logisch und akzeptierbar, die die organisatorischen Formen untersuchen und kritisieren, die von der Minderheit realisiert werden können, indem die möglichen Beziehungen zu den Strukturen festgelegt werden, innerhalb von welchen die grosse Masse der Ausgebeuteten ihre konsensuelle Anpassung an den Kapitalismus fortsetzt. Nun, wenn diese Beziehungen zu den Strukturen der Macht von offener und totaler Konfrontation sein müssen, so dürfen sie deshalb nicht innerhalb eines leeren ideologischen Verbalismus eingeschlossen werden. Es genügt nicht, zu sagen, dass wir gegen den Staat sind, weil ins Grössere sowieso auch das Kleinere gehört. Wir müssen sagen, dass wir, indem wir gegen den Staat sind, auch gegen alle Formen sind, worin sich der Staat realisiert; folglich sind wir gegen die Regierung, das Gerichtswesen, die Polizei, die Bosse, die Gewerkschaften, usw. Und es genügt nicht, all dies zu sagen, wir müssen das Erforderliche tun, damit sich dieses “Dagegen-Sein” von uns in präzisen Angriffen verwirklicht, nicht nur gegenüber dem “Staat” im Allgemeinen, da sich auch hier das Missverständnis eines Versandens unserer Aktion verbergen könnte (man weiss ja doch nicht recht, wo man diesen Staat finden soll, besonders wenn man wenig Lust hat, ihn zu finden); sondern gegen alle sozialen Formen, die den Staat realisieren.
Uns zur Bescheidenheit erziehend, verzichten wir deshalb nicht auf unsere revolutionäre Berufung, und stellen wir auch unser anarchistisches Ideal nicht in Frage. Uns als Teil des breiteren revolutionären Flusses verstehend, den die Gesellschaft aus ihren leidenden Eingeweiden hervorbringt, tun wir uns deshalb nicht mit anderen Auffassungen und anderen Handlungsweisen zusammen, die wir nicht teilen und denen wir, morgen und auch sofort, bereit sein werden, bewaffnet die Stirn zu bieten. Vom Podest unseres ideologischen Maximalismus herabsteigend, akzeptieren wir nicht Kompromisse, sondern bekräftigen wir bloss, dass der revolutionäre Kampf, wenn er nicht eine vergebliche Debatte aus Geschwätz, ein verbrecherisches Streitgespräch auf Kosten des Blutes der Ausgebeuteten sein will, die laufende Klassenkonfrontation konkret einschätzen und sich in sie einfügen muss, anstatt in Erwartung eines Zeichens (das niemals kommen wird) von einer ideologischen Einheit der grossen Mehrheit der Ausgebeuteten herumzustehen.
Abhängig von derartigen Entscheidungen wird unsere Aktion also umschriebener und präziser. Wir haben weniger Diskussionen und mehr konkrete Tatsachen nötig. Die grossen Analysen über das Wieso des Lebens und über den Wert der Anarchie nützen uns wenig, wo dringend Analysen über die Instrumente, worüber wir verfügen, über die Kräfte der Reaktion, über die Konditionierung der Ausgebeuteten zum Konsens, über die realen Bedürfnisse dieser letzteren, über die aufzubauenden Organismen, um den heikleren Moment der Konfrontation anzugehen und zu überwinden, über den Übergang von der aufständischen zur effektiven revolutionären Phase nötig sind.
Aber all diese konkreten Analysen würden noch immer tote Buchstaben, einmal mehr in Konkretheit gekleidetes Geschwätz bleiben, wenn jeder von uns, im Innersten von sich selbst, nicht aufhört, Angst vor der Revolution zu haben, indem er sich darauf vorbereitet, auf persönlicher Ebene und auf kollektiver Ebene, zu tun, was möglich ist, um sie zu realisieren.
Nur dann nimmt es einen neuen und unmissverständlichen Sinn an, von Sieg zu sprechen, während sich alle Gefühle der Aufopferung und des Märtyriums in Stille davonmachen, bis sie gänzlich verschwinden.