Übersetzt ins Deutsche in “Grenzenlos”, Nr. 2, Januar 2012, S. 14-15, Zürich [Überarbeitet].
Alfredo M. Bonanno
Affinität
Unter den anarchistischen Gefährten gibt es eine ambivalente Beziehung zur Frage der Organisation.
An den beiden Extremen stehen einerseits die Akzeptanz der permanenten Struktur, ausgestattet mit einem klar umrissenen Programm, mit zur Verfügung stehenden Mitteln (wenn auch wenigen), und unterteilt in Arbeitsgruppen; und, andererseits, die Zurückweisung von jeglicher stabilen und strukturierten Beziehung, und sei es auch auf kurze Zeit.
Die klassischen anarchistischen Föderationen (von altem und neuem Typ) und die Individualisten bilden die beiden Extreme von etwas, das irgendwie versucht, der Realität der Konfrontation zu entfliehen. Der Gefährte, der ein Anhänger der organisierten Strukturen ist, hofft darauf, dass sich aus dem quantitativen Wachstum eine revolutionäre Veränderung der Realität ergibt, weshalb er sich die billige Illusion gewährt, jede autoritäre Rückbildung der Struktur und jedes Zugeständnis an die Logik der Partei zu kontrollieren. Der individualistische Gefährte beneidet das eigene Ich und fürchtet jede Art von Verunreinigung, jedes Zugeständnis an die Anderen, jede aktive Zusammenarbeit, da er dergleichen als Nachgeben und Kompromiss betrachtet.
Auch die Gefährten, die sich kritisch vor die Frage der anarchistischen Organisation stellen, und die die etwaige individualistische Isolation ablehnen, vertiefen die Frage oft nur in klassischen Organisationsbegriffen. Es fällt ihnen schwer, sich andere Formen von stabilen Beziehungen zu denken.
Die Basisgruppe wird als unabdingbares Element der spezifischen Organisation betrachtet und die Föderation zwischen Gruppen, auf der Grundlage einer ideologischen Klärung, wird zu ihrer natürlichen Konsequenz.
Die Organisation entsteht also vor den Kämpfen und endet darin, sich an die Perspektive einer gewissen Art von Kampf anzupassen, der die Organisation selbst – zumindest nimmt man das an – quantitativ anwachsen lässt. So erweist sich die Struktur als eine Stellvertretungsform gegenüber den repressiven Entscheidungen, die von der Macht getroffen werden, welche aus unterschiedlichen Gründen die Szenerie der Klassenkonfrontation dominiert. Der Widerstand und die Selbstorganisation der Ausgebeuteten werden als molekulare Aspekte betrachtet, die man zwar hie und da wahrnehmen kann, aber die erst bedeutend werden, wenn sie in die spezifische Struktur eintreten oder sich in Massenorganismen konditionieren lassen, die unter der (mehr oder weniger deklarierten) Führung der spezifischen Struktur stehen.
Auf diese Weise bleibt man stets in einer Wartehaltung. Wir sind alle wie freigelassen auf Bewährung. Wir beobachten das Verhalten der Macht und halten uns bereit, gegenüber der Repression, die uns trifft, zu reagieren (stets innerhalb der Grenzen des Möglichen). Praktisch nie ergreifen wir selbst die Initiative, entwerfen wir Interventionen in erster Person, stürzen wir die Logik der Verlierer um. Jene, die sich in strukturierten Organisationen wiedererkennen, warten auf ein unwahrscheinliches quantitatives Wachstum. Jene, die innerhalb von Massenstrukturen arbeiten (zum Beispiel, in der anarcho-syndikalistischen Perspektive), warten darauf, dass man von den kleinen defensiven Resultaten von heute zum grossen revolutionären Resultat von Morgen voranschreitet. Jene, die all das negieren, warten ebenso, sie wissen nicht genau worauf, verschliessen sich oft in einem Groll gegen alle und gegen alles, überzeugt von ihren Ideen, ohne zu bemerken, dass diese nichts anderes sind als die leere Umstülpung der organisatorischen und programmatischen Bekräftigungen der Anderen.
Uns scheint jedoch, dass Anderes getan werden kann.
Gehen wir von der Überlegung aus, dass es erforderlich ist, Kontakte zwischen Gefährten zu knüpfen, um zur Aktion überzugehen. Alleine ist man nicht in der Lage, zu handeln, ausser man beschränkt sich auf einen platonischen Protest, der so blutig und schrecklich sein mag, wie man will, der aber stets platonisch bleibt. Wenn wir auf einschneidende Weise auf die Realität einwirken wollen, ist es erforderlich, mit vielen sein.
Auf welcher Grundlage können wir andere Gefährten finden? Wenn wir die Hypothese der Programme und der Plattformen a priori verwerfen, ein für alle Mal an den Nagel gehängt, was bleibt da noch?
Es bleibt die Affinität.
Zwischen anarchistischen Gefährten gibt es Affinitäten und Divergenzen. Ich spreche hier nicht von den charakterlichen oder persönlichen Affinitäten, also von jenen Aspekten des Gefühls, die oft die Gefährten miteinander verbinden (die Liebe an erster Stelle, die Freundschaft, die Sympathie, usw.). Ich spreche von einer Vertiefung der gegenseitigen Kenntnis. Je mehr diese Vertiefung anwächst, desto grösser kann die Affinität werden, im entgegengesetzten Fall können sich die Divergenzen als derart offenkundig erweisen, dass sie jegliche gemeinsame Aktion unmöglich machen. Die Lösung bleibt der tiefen gemeinsamen Kenntnis überlassen, die es durch einen projektuelles Ausschnitt der verschiedenen Probleme zu entwickeln gilt, die die Realität der Klassenkämpfe vorsetzt.
Es gibt einen ganzen Fächer von Problemen, der, in der Regel, nicht in seiner Gesamtheit erklärt wird. Wir beschränken uns oft auf die naheliegenderen Probleme, weil dies jene sind, die uns mehr berühren (Repression, Gefängnisse, etc.).
Doch es ist eben in der Fähigkeit, das Problem, das wir angehen wollen, zu vertiefen, worin sich das geeignetste Mittel verbirgt, um die Bedingungen der gemeinsamen Affinität zu fixieren, welche sicherlich nicht absolut oder total sein kann (mit Ausnahme von äusserst seltenen Fällen), aber ausreichend sein kann, um Beziehungen zu fixieren, die zur Aktion tauglich sind.
Wenn wir unsere Interventionen auf die offensichtlichsten und oberflächlichsten Aspekte von dem beschränken, was wir für unmittelbare und essenzielle Probleme halten, werden wir nie Gelegenheit haben, die Affinitäten zu entdecken, die uns interessieren, und werden wir stets in Gewalt von plötzlichen und unvermuteten Widersprüchen umherschweifen, die fähig sind, jedes Projekt zur Intervention in die Realität umzuwerfen. Ich beharre darauf, zu unterstreichen, dass man Affinität und Gefühl nicht verwechseln darf. Es mag Gefährten geben, mit denen wir uns affin erkennen, die uns nicht besonders sympathisch sind, und, umgekehrt, Gefährten, mit denen wir keine Affinität haben, die unsere Sympathie aus diversen anderen Gründen erhalten.
Es ist, unter anderem, erforderlich, sich in seiner Aktion nicht von falschen Problemen hemmen zu lassen, wie zum Beispiel jenes der vermeintlichen Differenzierung zwischen Gefühlen und politischen Beweggründen. Aus dem, was vorhin gesagt wurde, könnte es scheinen, dass die Gefühle etwas sind, das es von den politischen Analysen getrennt zu halten gilt, weshalb wir, zum Beispiel, eine Person lieben können, die unsere Ideen keineswegs teilt, und umgekehrt. Dies ist grundsätzlich möglich, so zerreissend es auch sein mag. Doch in das Konzept von einer Vertiefung des Fächers der Probleme, ein Konzept, worüber ich mich weiter oben äusserte, muss auch der persönliche Aspekt (oder, wenn man es bevorzugt, der Aspekt der Gefühle) einbezogen werden, insofern die Tatsache, unseren Trieben auf instinktive Weise unterworfen zu sein, oft ein Mangel von Überlegung und Analyse ist, während wir nicht zugeben können, schlicht vom Gott des Exzesses und der Zerstörung besessen zu sein.
Aus dem, was gesagt wurde, geht, wenn auch nebelhaft, eine erste Annäherung an unsere Art und Weise hervor, die anarchistische Gruppe zu betrachten: eine Gesamtheit von Gefährten, die durch gemeinsame Affinitäten verbunden ist.
Je vertiefter das Projekt sein wird, das diese Gefährten gemeinsam aufbauen werden, desto grösser wird ihre Affinität sein. Daraus folgt, dass die tatsächliche Organisation, die effektive (und nicht fiktive) Fähigkeit, gemeinsam zu handeln, sprich, sich zu treffen, eine analytische Vertiefung zu studieren und zur Aktion überzugehen, mit der erreichten Affinität zusammenhängt und nichts mit den Kennzeichen, Programmen, Plattformen, Fahnen und getarnten Parteien zu tun hat.
Die Affinitätsgruppe ist also eine spezifische Organisation, die sich um gemeinsame Affinitäten sammelt. Diese können nicht für alle gleich sein, sondern die verschiedenen Gefährten werden endlose Affinitäts-Nuancen haben, die umso verschiedenartiger sind, je breiter die Anstrengung zur analytischen Vertiefung sein wird, die man erreicht hat.
Daraus folgt, dass auch die Gesamtheit von diesen Gefährten eine Tendenz zum quantitativen Wachstum hat, aber eine beschränkte und nicht das einzige Ziel der Tätigkeit bildende. Die zahlenmässige Entwicklung ist unentbehrlich für die Aktion und ist auch eine Bestätigung der Reichhaltigkeit der Analyse, die man am entwickeln ist, und ihrer Fähigkeit, nach und nach mit einer grösseren Anzahl von Gefährten Affinität zu entdecken.
Daraus folgt, dass sich der so entstandene Organismus schliesslich gemeinsame Interventionsmittel geben wird. An erster Stelle ein Diskussionsinstrument, das zur analytischen Vertiefung notwendig ist, fähig, so gut als möglich, über einen sehr breiten Fächer von Problemen Indikationen zu liefern, und, zur selben Zeit, einen Referenzpunkt zur Prüfung – auf persönlicher und kollektiver Ebene – der Affinitäten oder der Divergenzen darzustellen, die allmählich aufkommen werden.
Es bleibt zuletzt noch zu sagen, dass das Element, welches eine derartige Gruppe zusammenhält, zwar zweifellos die Affinität ist, ihr antreibender Aspekt jedoch ist die Aktion. Wenn man sich auf das erste Element beschränkt und den zweiten Aspekt unterdimensioniert lässt, wird jede Beziehung im byzantinischen Perfektionismus verdorren.